Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 23 - Jahrgang 1938
Joh 20,15 – Wen suchst du?Joh 20,15 – Wen suchst du?
Am geöffneten Grabe ihres Herrn steht Maria Magdalena. Trostlos starrt ihr tränenbenetztes Auge in die leere Gruft. Vergeblich sucht sie den teuren Herrn, dem ihre Tränen gelten. Die Worte „Sie haben meinen Herrn weggenommen“ verraten die Ursache des tiefen Kummers, der ihr Herz aufwühlt. Jetzt besitzt sie nichts mehr in der Welt. Die leere Gruft bezeugt es klar, daß sie alles dessen beraubt ist, an dem ihr Herz hing. Nicht einmal der Leib des Gestorbenen ist ihr geblieben. Nirgends ist Trost für ihr verwundetes Herz zu finden. Selbst die Erscheinung zweier Engel in weißen Kleidern vermag ihre Tränen nicht zu trocknen. Ihr ganzes Sehnen, all ihre Gedanken sind eben nur auf einen Gegenstand, auf ihren geliebten Herrn, gerichtet.
Eins ist erstaunlich: Eine solche Liebe bei einer so schwachen Erkenntnis! Maria hatte des Herrn Kraft erfahren. Ihr Ohr hatte auf Seine gütigen Worte gelauscht. Ihr Herz wußte von Seiner überschwenglichen Gnade und Liebe, und sie wußte sicherlich auch von Offenbarungen Seiner göttlichen Macht. Dabei ging aber ihr Verständnis nicht über Sein Grab hinaus. Sie kannte weder die Kraft Seines Kreuzes noch die Seiner Auferstehung. Mit einem Wort wie „Er ist unserer Übertretungen wegen dahingegeben und unserer Rechtfertigung wegen auferweckt worden“ (Röm 4,25) hätte sie nichts anzufangen gewußt, ebensowenig mit dem von der Hoffnung „unserer himmlischen Berufung“. Aber eins tat sie: Sie liebte Jesus und liebte Ihn über alles. Ihre Empfindungen für den Herrn waren augenscheinlich weit tiefer als die des Petrus und Johannes, denn diese kehrten, als sie das Grab leer fanden, nach Hause zurück, während Maria die öde Grabstätte nicht verlassen konnte, bevor sie ihren Herrn gefunden hatte.
Die Liebe dieses Weibes ist nachahmenswürdig. Sie ist auch beschämend für uns, die wir bei einem weit größeren Verständnis in betreff des Werkes und der aufopfernden Liebe Christi oft kalt und gleichgültig sein können. Wohl rühmen wir uns dessen, was Er für uns getan hat; aber wann ist Er der Mittelpunkt unserer Gedanken und Gefühle, wann der Gegenstand unserer Gemeinschaft, unserer Freude, unserer Hoffnung? Wie beweisen wir, daß Ihm unser Leben gehört, unser Lob nur Ihm allein? Ich richte daher die Aufforderung an einen jeden von uns: Laßt uns einmal einen Augenblick von Maria Magdalena absehen und uns vorstellen, der Herr richte Seine Frage: „Wen suchst du?“ ganz persönlich an uns, und zwar an dich und mich, die wir Christus längst als unser Heil und als die Quelle aller Segnung gefunden haben! Gewiß, nach unserem Bekenntnis ist der Herr unser köstliches Teil. Wir bekennen, alle Fülle in Ihm zu besitzen und in Ihm Ruhe fürs Gewissen, Freude fürs Herz und Trost und Hilfe in der Not gefunden zu haben. Woher aber dann die Dürre und Kälte unserer Herzen, woher so manche Schwierigkeit, in die wir durch eigene Schuld geraten sind? Das kann doch nur daran liegen, daß wir Speise und Trank für unsere Seelen in irgendwelchen Dingen dieser Welt gesucht, und weiter, daß wir uns mehr in die Beschäftigungen dieses Lebens verwickelt haben, als es unserer Berufung entspricht. Es gibt in der Welt nützliche und schöne Dinge, deren wir nicht entraten können. Aber Speise für unsere Herzen enthalten sie nicht. Unsere Herzen mit Friede und Freude, mit Lob und Dank zu erfüllen, dazu sind sie nicht geeignet. Wir müssen auch unserer Beschäftigung nachgehen. Tun wir das aber auf selbstgewählten Wegen, oder ist unser Geschäft Selbstzweck, statt eben nur Mittel zum notwendigen Lebenserwerb, so dürfen wir uns nicht wundern, wenn wir im Geistlichen kraftlos werden und am Ende Unruhe und Ungewißheit oder gar Sorge und Mutlosigkeit die Folge sind. So ist es schon der Mühe wert, hie und da stillzustehen und dem Herrn unser Ohr zu leihen, wenn Er fragt: „Wen suchst du? Was suchst du?“ Solange Jesus allein der Gegenstand meines Suchens ist, wohnt Glück und Friede in meinem Herzen, und der Weg ist einfach und sicher. Ich lebe in Ihm und freue mich in Ihm. Sobald aber die Anhänglichkeit an Ihn nachläßt und demzufolge der Umgang mit Ihm sich lockert, sucht das Herz Ersatz in den sichtbaren Dingen. Anstatt den Herrn aus den Himmeln zu erwarten, was einst die Thessalonicher so glücklich machte, sucht es sich dann in dieser Welt häuslich einzurichten.
Im Fall der Maria Magdalena entsprach die Frage Jesu: „Wen suchst du? Was weinst du?“ einfach den gegebenen Verhältnissen. Der Herr wartete auf die Antwort eines Herzens, das Er kannte, um dann diesem Herzen nach Seiner Liebe und Gnade antworten zu können. Bei Maria Magdalena war in dieser Hinsicht alles in Ordnung.
Wenn ich bitte, daß wir alle, Schreiber und Leser dieser Zeilen, uns jetzt unserem uns alle durch und durch kennenden Herrn zur Verfügung stellen und uns von Ihm fragen lassen: „Wen suchst du?“, so denke ich dabei nicht an einen besonderen Fall. Ich will auch keine Betrachtungen über irgendwie gelagerte persönliche Verhältnisse zum Herrn anstellen. Ich möchte nur anregen, daß wir uns alle einmal über unser Verhältnis zu Ihm in Seiner Gegenwart ehrlich Rechenschaft geben. Es steht hier nicht zur Frage, was wir alles um des Herrn willen abgelegt haben und wie weit wir in der praktischen Heiligung fortgeschritten sein mögen - diese Frage sollten wir uns überhaupt nicht stellen, da zu leicht geistlicher Hochmut, das schlimmste aller Übel, die Folge ist. Die Frage ist einfach: Was ist Er mir und dir? Jetzt, in diesem Augenblick! Nicht, was hat Er für mich und dich getan? Nein, was ist Er dir? Von dieser Frage hängt nämlich unser ganzes Leben ab. Liebt man jemand von ganzem Herzen, so möchte man immer um ihn sein, möchte ihn persönlich besitzen. Den toten Leib ihres Herrn zu besitzen bedeutete für Maria alles. Sobald sie das rührende Wort gesagt hat: „Sage mir, wo du Ihn hingelegt hast, und ich werde Ihn wegholen“, gibt Jesus Sich ihr zu erkennen. Er ruft Sein Schäflein mit Namen, und mit dem seligen Aufschrei: „Lehrer!“ sinkt sie zu Seinen Füßen nieder, und am Schluß sendet der Herr sie mit einer wunderbaren Kunde zu Seinen Jüngern.
Petrus gibt sein Verhältnis zum Herrn, indem er das gleiche von denen annimmt, an die er schreibt, mit den Worten wider: „An welchen glaubend, obgleich wir Ihn jetzt nicht sehen, wir mit unaussprechlicher und verherrlichter Freude frohlocken.“ Und Paulus kann schreiben: „Das Leben ist für mich Christus.“ Er war seines Lebens Inhalt, Er allein.
Eins der letzten Worte des scheidenden Herrn an Seine Jünger lautete: „Bleibet in Mir, und Ich in euch“, oder: „So bleibe Ich in euch.“ Wer in Jesus bleibt, so daß dann der Herr in ihm bleibt, der kann allzeit singen:
Mein Jesus, Du bist meine Freude,
Mein Gold, mein Schatz, mein schönstes Bild.
Nur Du bist meine Lust und Weide
Und was mein Herz für ewig stillt.
Ein solches Christenleben ist erfüllt.
Auf eine Sache möchte ich noch besonders hinweisen, bezüglich derer
wir, wie ich glaube, immer wieder die Frage: „Wen suchst du?“ ganz
persönlich zu beantworten suchen sollten. Wenn wir uns mit anderen zur
Feier des Herrenmahles zusammenfinden, ist dann Jesus der Gegenstand,
der unsere Herzen erfüllt? Oder stehen wir selbst - was wir empfangen,
wie wir gesegnet werden - im Mittelpunkt? (Wie arm ein Erscheinen am
Tisch des Herrn aus Pflicht oder Gewohnheit oder gar zur Beruhigung des
Gewissens ist, sei nur nebenbei bemerkt). Sind wir mit dankerfüllten
Herzen gegenwärtig, um Lob und Anbetung Ihm darzubringen, dem sie allein
gebührt? Ihm, von dem der Vater wiederholt bezeugte: „Dieser ist Mein
geliebter Sohn, an welchem Ich Wohlgefallen gefunden habe?“ (
Möge es dem Herrn gefallen, in dieser so bedeutsamen Sache unser aller Augen zu öffnen, um das falsche Suchen zu entdecken, wodurch wir uns oft des wahren Segens berauben! Möge Er unser aller Herzen erleuchten, um Seine Liebe mehr zu würdigen und zu genießen!
W. Br.
(unter Benutzung einiger Gedanken aus einem alten „Botschafter“-Heft)