Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 20 - Jahrgang 1935
Gehaßt ohne Ursache! Geliebt ohne Ursache!Gehaßt ohne Ursache! Geliebt ohne Ursache!
Der Herr hatte mit Seinen Jüngern das Passah gefeiert und das Abendmahl eingesetzt; nun ging Er mit ihnen hinaus nach Gethsemane. Er wußte, „daß Seine Stunde gekommen war“ (Joh 13,1). Seine Seele empfand den Haß der Welt. Wir sehen dies aus den Worten an Seine Jünger: „Sie haben gesehen und gehaßt sowohl Mich als auch Meinen Vater. Aber auf daß das Wort erfüllt würde, das in ihrem Gesetz geschrieben steht: ‚Sie haben Mich ohne Ursache gehaßt‘.“ (Joh 15,24.25) Dieses Wort aus Ps 69,4 bezeugt uns, daß nichts in dem Leben unseres hochgelobten Herrn war, was den Haß der Welt hätte hervorrufen können, sondern vielmehr, was Liebe hätte bewirken müssen.
Der Grund alles Hasses lag in dem Herzen und der Gesinnung des gefallenen Menschen. „Die Gesinnung des Fleisches ist Feindschaft gegen Gott“ (Röm 8,7), und somit gegen den in Niedrigkeit in dieser Welt wandelnden Sohn Gottes. Ein böses, ein neidisches Auge sieht wie durch ein gefärbtes Glas alles - auch das Schönste - in der Färbung des Glases, und so sieht der ungläubige Mensch in Ihm nur einen Wurzelsproß aus dürrem Erdreich, der keine Gestalt noch Schöne hat. Die Braut aber erkennt Ihn als den Schönsten, „ausgezeichnet vor Zehntausenden“, an dem alles lieblich ist (Hld 5,10.16). Und wenn, lieber Leser, dein Herz das Gleiche empfindet wie die Braut im Hohenliede, so beweist es, daß Gnade dein Auge geöffnet hat, Seine Lieblichkeit zu erkennen.
Wenn auf der einen Seite kein Grund vorhanden war, den Herrn Jesus zu hassen, so war anderseits in der Natur des gefallenen Menschen kein Grund vorhanden, von Gott geliebt zu werden. Wohl aber war für Gott, „der zu rein von Augen ist, um Böses zu sehen“ (Habakuk 1,13), Grund genug vorhanden, den Sünder von Sich zu stoßen. Und damit ist der Zustand jedes Unbekehrten gekennzeichnet.
In dem Kreuze Christi sehen wir die göttliche und die menschliche Natur entfaltet - die Natur Gottes, die Liebe ist, und die menschliche Natur, die, wie wir gesehen haben, Feindschaft gegen Gott ist. Der grundlose Haß der Menschen, der sich bisher in Widerspruch, Lästerung und Verfolgung geäußert hatte, fand am Kreuze Christi auf Golgatha seine volle Entfaltung. Die Wunder Seiner Macht, die Taten Seiner Liebe und Seines Erbarmens hatte man dem Beelzebub zugeschrieben. Immer wieder hatte man Steine aufgehoben, sie auf Ihn zu werfen, und immer wieder wurde ihre Wut von Gott in Schranken gehalten. Dies aber war nicht mehr der Fall, als der Herr den Händen der Sünder überliefert wurde. Jetzt war „ihre“ Stunde gekommen, so wie der Herr sagte: „Dies ist eure Stunde und die Gewalt der Finsternis.“ (Lk 22,53) Seine Allmacht, mit der Er Tote lebendig machte - Sturm und Wellen stillte - Dämonen austrieb, gebrauchte Er nicht für Sich Selbst. Gleich einem Lamme ließ Er Sich zur Schlachtung führen (Jes 53,7). Mehr als zwölf Legionen Engel standen für Ihn bereit, und mit Frohlocken wären sie für den Mann der Schmerzen eingetreten. Das Kreuz auf Golgatha enthüllt der ganzen Schöpfung, der sichtbaren und unsichtbaren, die Natur des gefallenen sündigen Menschen und die Natur Gottes als Licht und Liebe.
Der Reine und Heilige, den man keiner Sünde zeihen konnte, Er ertrug die Schande und das Anspeien, das Schlagen und das Höhnen der Sünder, zuerst von seiten des jüdischen Pöbels (Lk 22,63), dann von Herodes und dessen Kriegsleuten (Lk 23,11), die Ihn in das Spottgewand der Königswürde hüllten. Den gleichen Hohn und Schimpf wiederholten etwas später die Soldaten des Pilatus, sie aber fügten dem Purpurmantel noch eine Dornenkrone und einen Rohrstock als Zepter hinzu und fielen vor Ihm spottend auf die Knie. (Mt 27,28-31)
Pilatus, der dreimal öffentlich erklärt hatte, keine Schuld an Ihm finden zu können, verfügte Seine Geißelung und überlieferte Ihn, gekreuzigt zu werden. Als die Kreuzigung mit ihren Qualen vollzogen war, tut der Herr Seinen Mund auf, und Sein erstes Wort vom Kreuz herab ist: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ (Lk 23,34) Barabbas, den Aufrührer und Mörder, gab er (Pilatus) los - „Jesum aber übergab er ihrem Willen“ (Lk 23,25). Und was war ihr Wille? Daß Er schmach- und qualvoll zwischen zwei Übeltätern sterben sollte.
War nun, als Er am Kreuze hing, ihr „Haß ohne Ursache“ gesättigt? Nein, mit Seinem körperlichen Leiden, mit Seinem Blut war ihr Haß noch nicht gestillt. Den leiblichen Schmerzen fügen sie auch die seelischen noch hinzu. Jede Würde, jede Eigenschaft, in welcher Er anerkannt und Ihm gehuldigt worden war, wird jetzt Ihm zum Hohn und Spott gebraucht. Er war der Sohn Gottes! Höhnend ziehen sie an Seinem Kreuz vorüber, lästern Ihn, indem sie ihre Köpfe schütteln und sagen: „Der Du den Tempel abbrichst und in drei Tagen aufbaust, rette Dich Selbst. Wenn Du Gottes Sohn bist, so steige herab vom Kreuze.“ (Mt 27,39.40) Er ist der Heiland, der Retter der Sünder, der König Israels, der Geliebte Gottes! Die Hohenpriester samt den Schriftgelehrten und den Ältesten spotten: „Andere hat Er gerettet, Sich Selbst kann Er nicht retten, Er ist Israels König; so steige Er jetzt vom Kreuz herab, und wir wollen an Ihn glauben. Er vertraute auf Gott, der rette Ihn jetzt, wenn Er Ihn begehrt; denn Er sagte: Ich bin Gottes Sohn.“ (V. 41-44) In ihrem blinden Haß bestätigten sie, die Worte ihrer prophetischen Schriften selbst erfüllt zu haben. (Ps 22,7.8)
Wie der Herr diesen ihren Hohn aber empfand und wie Seine Seele darunter litt, das enthüllt uns der Heilige Geist prophetisch mit den Worten: „Du, Du kennst Meinen Hohn und Meine Schmach und Meine Schande; vor Dir sind alle Meine Bedränger. Der Hohn hat Mein Herz gebrochen, und Ich bin ganz elend; und Ich habe auf Mitleiden gewartet, und da war keines, und auf Tröster, und Ich habe keine gefunden.“ (Ps 69,19.20) Wahrlich, furchtbar war der Haß der Menschen „ohne Ursache“. Seine Liebe - die Liebe des „Freundes der Sünder“ (Mt 11,19) - aber war so grenzenlos, daß aller Haß und alle Bosheit der Menschen sie nicht vermochte auszulöschen. (Hld 8,7)
So unvergleichlich diese Leiden des Herrn sind, mit allem, was die Geschichte der Menschen zu berichten weiß, hatte der Herr doch noch Leiden zu erdulden, die für Ihn furchtbarer waren als alles, was wir bisher betrachtet haben - Leiden, die schon im Vorgefühl Ihm blutigen Schweiß im Garten Gethsemane (Lk 22,44) und Tränen und Geschrei auspreßten, von denen wir in Heb 5,7 lesen. In diesen Leiden hatten weder der Satan noch die Menschen ihre Hand (obwohl das Werk Satans und die Sünde des Menschen sie zu dessen Rettung nötig machten). Diese Leiden, von denen wir jetzt sprechen, erlitt Er allein unter der Hand Jehovas, als Er für uns zur Sünde gemacht wurde (2Kor 5,21). Alles, was Er von seiten des Satans und der Menschen erduldete, konnte niemals die Sühnung unserer Sünde bewirken.
Die Liebe Gottes zum Menschen war es, die diese unvergleichlichen Leiden dem Heiligen und Reinen auferlegte, und die Liebe des Heilandes zu den Sündern war es, diese unvergleichlichen Leiden von Gottes Hand als Strafe für den Sünder zu erdulden und das Werk der Sühnung zu vollbringen. Diese Sühnung konnte nur von dem ausgehen, gegen den der Mensch gesündigt hatte (Ps 51,4). Gott Selbst lud die Strafe, die der Übertreter zu tragen hatte, auf Den, der Sünde nicht kannte, und ließ Ihn treffen unser aller Ungerechtigkeit. (Jes 53,6)
Ich brauche kaum zu sagen, daß wir Grund haben, anzunehmen, daß diese unvergleichlichen Leiden von unserem anbetungswürdigen Heiland in jenen drei Stunden der Finsternis erduldet wurden, als Er den bitteren Schrei ausstieß: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlassen:“ (Ps 22,1; Mt 27,46; Ps 102,10) Und warum geschah es? Weil es Jehova gefiel, Seine Seele zum Schuldopfer für unsere Sünden zu stellen. Der Heilige Geist drückt dies noch stärker aus in 2Kor 5,21: „Den, der Sünde nicht kannte, hat Er für uns zur Sünde gemacht.“ Wie unaussprechlich feierlich erscheinen uns in diesem Lichte die Worte des Propheten Sacharja 13,7: „Schwert, erwache wider Meinen Hirten und wider den Mann, der Mein Genosse ist! spricht Jehova der Heerscharen; schlage den Hirten, und die Herde wird sich zerstreuen.“
In diesem gewaltigen Handeln des heiligen Gottes mit dem Herrn Jesus, dem Mittler zwischen Gott und Menschen, wird uns das Wesen Gottes als Licht und Liebe enthüllt. Er ist Licht, und als Licht muß Er Sünde verabscheuen und strafen - Er kann unmöglich an ihr vorübergehen. Und Er ist Liebe, und diese leitet Ihn, Seinen eingeborenen Sohn zu geben und die Strafe zu unserem Frieden auf Ihn zu legen, „auf daß jeder, der an Ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe“. (Joh 3,16)
Menschen lieben die, die ihnen Gutes erweisen, und für „den Gütigen möchte vielleicht jemand zu sterben wagen“, obgleich dieses ein sehr seltenes Vorkommnis in der Geschichte dieser gegenwärtigen bösen Welt ist. „Gott aber erweist Seine Liebe gegen uns darin, daß Christus, da wir noch Sünder waren, für uns gestorben ist.“ (Röm 5,7.8)
Das Feuer Jehovas, das einst auf dem Berge Karmel auf das Brandopfer Elias herabfiel, verzehrte nicht nur dieses, sondern auch die Steine, und leckte das Wasser im Graben auf (1Kön 18,38). Für das Feuer dieser Erde sind Steine keine Nahrung, und Wasser bringt es zum Erlöschen. Das Feuer aber, das vom Himmel auf Elias Opfer fiel, verzehrte auch die Steine und das Wasser, und ebenso verzehrte es das Opfer Christi auf Golgatha und auch die Steine unseres Hasses und die Flut unserer Sünden.
Wie ganz anders ist doch die Liebe Gottes als die Liebe der Menschen! Menschen wenden ihre Liebe Personen zu, die sie ihrer Liebe würdig finden, Gott aber wendet Seine Liebe denen zu, die Ihn „ohne Grund“ hassen. Ohne Ursache sind wir von Ihm geliebt. Er liebte uns, als wir Gottlose und Sünder - als wir in den Vergehungen tot und Seine Feinde waren (Röm 5,6-10; Eph 2,4.5). In den Leiden Christi sehen wir einerseits den Haß des Menschen, der seine Quelle in der Feindschaft seines Herzens gegen Gott hat, und andererseits das Erbarmen Gottes, dessen Quelle allein in dem Herzen Seiner Liebe zu den gefallenen Menschen ist.
So lehrt uns das Kreuz Christi:
Gehaßt ohne Ursache!
Geliebt ohne Ursache!
J. H. S. - A. v. d. K.