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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 11 -Jahrgang 1926
1Mo 37,15.16 - „Was suchst du?“ - „Ich suche meine Brüder!“1Mo 37,15.16 - „Was suchst du?“ - „Ich suche meine Brüder!“
Unser geliebter Herr hatte mit der Samariterin am Jakobsbrunnen (Joh 4) jene kostbare Unterredung gehabt, die deren Bekehrung zur Folge hatte, wodurch dann in den nächsten zwei Tagen „noch viele mehr“ (V. 41) von den Samaritern zum Glauben kamen. Als nun Seine in die Stadt gegangenen Jünger von ihren Einkäufen zurückkehrten und den Herrn im Gespräch mit einem Weibe fanden, da heißt es, „verwunderten sie sich ...; dennoch sagte niemand: was suchst Du? ...“ (Joh 4,27). Ach, die Geliebten des Herrn verstanden ihren Meister damals noch so gar nicht. Hätten sie Ihn doch gefragt! Vielleicht dachte später Johannes, als er diese Worte unter der Inspiration des Geistes niederschreiben mußte, daran, daß er und seine Mitjünger dem teuren Herrn damals nicht den Liebesdienst getan hätten, den jener Mann in der Geschichte 1Mo 37 dem Joseph, dem wunderbaren Vorbilde auf den Herrn Jesus, tat, als er den suchenden jungen Mann in dem bunten Leibrock fragte: „Was suchst du?“ Joseph, der wie der Herr Jesus das ganze Wohlgefallen seines Vaters hatte - wovon der so oft erwähnte Leibrock ein Bild ist -, war von Jakob ausgesandt, nach dem Wohlergehen seiner Brüder zu sehen, und voll heiligen Eifers machte der getreue Sohn und liebevolle Bruder sich auf, den Dienst der Liebe auszuführen. Welch ein Vorbild ist er doch auf den herrlichen Heiland, der auch gesandt wurde vom Vater, um nach denen zu sehen, die das Wort „Sein Eigentum“ - die Seinen (das bezog sich zunächst auf Israel) nennt, die Ihn aber nicht aufnahmen (Joh 1,11ff). In noch unendlich höherem Maße lag Seinem himmlischen Vater wie Ihm Selber unser Wohlergehen, die wir einst „Seine Brüder“ von Ihm geheißen werden sollten (Heb 2,11), am Herzen! Wie sehr, das sehen wir z. B. am Jakobsbrunnen! Und hätten Seine Jünger Ihn gefragt, gleichsam in biblischer Erfüllung jenes vorbildlichen Wortes aus 1Mo 37,15: „Was suchst Du?“ - welch köstliche Antwort wäre ihnen wohl geworden! Aber sie fragten nicht! Ob sie es nicht wagten? Oder ob sie zu teilnahmslos waren, wie später, als der Herr wünschte, gefragt zu werden: „Wo gehst Du hin?“, und Ihm auch dort diese Liebesfrage nicht zuteil wurde? (Joh 16,5). Einerlei - aber Er konnte ihnen nicht das sagen, was Sein liebendes Herz wie einst das des Joseph erfüllte - sie hätten Ihn damals doch nicht begriffen.
Aber in Joseph - dem Vorbild - sehen wir die Gefühle Seines Herzen: „Ich suche Meine Brüder!“ An diesem köstlichen Wort können auch wir alle für uns lernen, sei es, daß wir's anwenden auf den Dienst der Liebe, des Besuchens, des Stärkens, Ermutigens, den wir denen zuteil werden lassen, die schon unsere Brüder sind, auf jenen Dienst, den Paulus und Barnabas (Apg 15,36) tun wollten, oder daß wir nach unseren Brüdern Sehnsucht haben, um selber durch sie und ihren Dienst der Liebe ermutigt zu werden - wie es dem Paulus geschah in Apg 28,15 -, sei es, daß wir die zu finden uns bemühen, die
Gott uns aus der Welt als unsere Brüder schenken will, an denen Seine Gnade wirkt, um sie zu erretten.
Doch laßt uns jetzt nicht so sehr an das denken, was, wie gesagt, wir für uns aus jenem Wort lernen können - laßt uns vielmehr noch ein wenig schauen und bewundern, wen und wie Er suchte - sowohl Joseph im Vorbilde als auch Er, Jesus, der Herr und Heiland der Sünder!
Wir lesen, daß Joseph auf dem Felde herumirrte! Warum? Ach, er fand seine Brüder nicht da, wo er sie suchte! Sie hatten sich von dem Platz - Sichem -, wo sie nach des Vaters Meinung waren, seine Herden zu hüten, eigenmächtig entfernt und waren nach Dothan gezogen. Welch trauriges Abbild sind sie doch von uns Menschen im allgemeinen wie auch von uns, „Seinen Brüdern“, die wir uns gleich den Menschen im Fleische oft noch so leicht entfernen von dem Platze des demütigen Gehorsams, auf dem unser Gott und Vater uns und unseren Dienst sehen will! Die ganze Menschheit hat ihren Platz, wo Gott sie sehen und segnen will, aufgegeben, und wir Gläubigen verstehen leider auch noch allzugut, uns Seinem Willen zu entziehen und Dinge zu tun, Wege zu gehen, die Er uns nicht geboten hat. Wie leicht vertauscht der Mensch „Sichem“ mit „Dothan“! Wo sind wir, geliebte Leser? Sind wir da, wo Gott uns sehen will, gehorsam Seiner Stimme? Weiden wir gleichsam Seine uns anvertrauten „Herden“ nach Seinem Willen da, wo die beste Weide für sie ist?26
Aber waren die Brüder auch ungehorsam und eigenmächtig fortgezogen, da war einer, der war gehorsam. „Komm, daß ich dich zu ihnen sende!“ - „Hier bin ich!“ (V. 13). Das ist stets die Sprache derer gewesen, die Gott über alles lieben und im Gehorsam gegen Seinen Willen leben wollen (vgl. Abraham u. a). So sprach Joseph - so sprach der wahre Joseph: „Siehe, Ich komme, um Deinen Willen, o Gott, zu tun“ (Heb 10,7 u. 9). So ließ Joseph sich senden - so Christus Jesus! „Bringe mir Antwort!“ sagte Jakob zu Joseph (V. 14). Antwort, worüber? Über das Wohlergehen der Brüder und über das Wohlergehen der Herde! Ach, was ist aus denen geworden, denen Gott einst den Garten anvertraute, ihn „zu bebauen und zu bewahren“?! (1Mo 2,15) Wir sehen es in 1Mo 3,16-19, was aus dem werden mußte, was Gott uns anvertraute: Unsere Sünde hat alles verderbt. Was konnte der Herr, gleichsam unser himmlischer „Joseph“, wohl für Antwort bringen? Was für welche brachte Er wohl, wenn Er nachts auf dem Berge mit dem Vater redete? Jener Joseph, der Sohn Jakobs, brachte gar keine, er konnte es nicht, denn Er kam nicht zu Jakob zurück - und Christus brachte Seine letzte entscheidende Antwort am Kreuze und mit dem Kreuze! Das ist die göttliche Antwort, der göttliche „Rechenschaftsbericht“ (Heb 13,17)27 auf unser vermeintliches „Wohlergehen“ - unsere Sünde, unseren Jammer und das Herzeleid, das wir selber verschuldet!
So sehen wir Joseph herumirren auf dem Felde, da seine Brüder sein sollten, wo sie aber nicht waren. So suchte Joseph - in heißer Liebe und Sehnsucht - und fand nicht, was er suchte, da die Gegenstände seiner Liebe fort waren, und als er ihnen nachging, um sie auf das Wort jenes Mannes hin in Dothan zu finden, da war es zu seinem Verderben. So schlecht waren sie, daß sie die ihn treibende Liebe nicht erkannten, sondern gegen ihn den Anschlag, ihn zu töten, ersannen. Aber der Ratschluß Gottes ging weiter, und so konnten sie das Ärgste nicht tun. Aber was im Vorbild nicht möglich war (wie in 1Mo 22), das wurde im göttlichen Urbilde, in Christo Jesu, Tatsache. Sie, die Er zu retten kam, deren Wohlergehen Er suchte, denen Er in heißer Liebe nachging von Sichem nach Dothan gleichsam, die suchten Ihn zu töten! So sind wir Menschen, lieber gläubiger Leser, gewesen, und so sind die Ungläubigen heute noch!
Wie hat Er gesucht! Wie bereitwillig kam Er auf den Willen des Vaters hin! Wie bereit war Er, Sich Selbst zu nichts zu machen, mit der Krippe vorlieb zu nehmen, Sich nach Ägypten flüchten, aus Ägypten wieder zurückbringen zu lassen (Mt 2,19ff)., einen langen Weg äußerster Demütigung zu gehen, ja, bis zum Tode am Fluchholz! Und warum? Alles, weil Er gekommen war wegen unseres Wohlergehens! „Ich suche Meine Brüder!“ So hast Du uns gesucht, teurer Herr, und wir sind Dir oft aus dem Wege gegangen, haben Dich verworfen und gekreuzigt, aber dennoch - Du hast uns gesucht und gefunden, Preis sei Dir! Aber wie Joseph im Vorbilde gleichsam für den Vater tot sein mußte, bis er einst die Brüder wirklich fand, ja, ihre Herzen gewann - so mußte Er, der geliebte Herr und Heiland, tatsächlich Sein Leben lassen für uns, um uns zu finden und zu „Brüdern“ gewinnen zu können. Ihn, Joseph, haßten seine Brüder um des Wohlgefallens des Vaters willen an ihm, vermochten ihn nicht einmal zu grüßen (1Mo 37,3), und Ihn, den Herrn, „grüßte“ einer Seiner Jünger mit dem Kuß, als er Ihn verriet (Mt 26,48-50; Mk 14,44.45; Lk 22,47.48) - welche Heuchelei! Schlimmer noch als jener Haß, der die Brüder hinderte, Joseph zu grüßen. Und dennoch suchte Joseph seine Brüder, ging ihnen nach ohne Erbitterung, in Liebe und Treue, ja, und wie hat Er, der Heiland, am Kreuz für Seine Feinde gebetet und ihnen nach Seinem Hingang durch den Heiligen Geist das Evangelium verkündigen lassen, die Frohbotschaft der Liebe Gottes!
O, daß wir diese Liebe mehr bewunderten und anbeteten im Staube vor Ihm, der uns zu suchen kam in dieser feindlichen Welt, deren Haß Er vom ersten Tage Seines Menschseins erfuhr! O, daß wir dankbarer wären für diese uns nachgehende Liebe, mit der Er uns - Seine Feinde, aber dereinstigen Brüder - suchte trotz unserer bösen, abtrünnigen Wege, trotz unseres Eigenwillens und unserer Feindschaft gegen Seinen Vater und gegen Ihn! (Vgl. die üble Nachrede über den Vater, die Joseph, den die Sünde seiner Brüder schmerzte, dem Vater hinterbrachte! Kap. 37,2). O, daß wir hingebender Ihn wieder liebten im Gehorsam gegen Sein Wort (Joh 14,21ff)., nachdem Er uns zuerst geliebt! Er ist es wert, denn Er hat uns gesucht und in Gnaden gefunden. Frage Ihn: „Was suchst Du, der Du einst in der armseligen Krippe lagst, weil sonst ‚kein Raum‘ (Lk 2,7) für Dich war?“ Er sagt: „Ich suche Meine Brüder“. Frage Ihn: „Warum erträgst Du die menschliche Feindschaft so williglich?“ - „Ich suche Meine Brüder!“ „Warum hingst Du am Kreuze, warum warst Du durchbohrt, warum auch verlassen von Gott?“- „Ich suche Meine Brüder!“ O, Dank sei Dir, teurer, geliebter Herr, für Deinen Weg der Leiden von der Krippe bis zum Kreuz und Grab, denn Du hast uns gefunden und in Deiner Liebe unser Wohlergehen bewirkt. Durch Dich Selber sind wir, einst Deine Feinde, Deine Brüder geworden; welche Gnade ward uns zuteil und welch Leidensweg Dir, ehe wir uns finden ließen! Aber ob Du nach „Sichem“ oder „Dothan“ gehen mußtest, ob von Gethsemane nach Golgatha - Du wardst nicht müde, uns zu suchen, und wir sind der Lohn der Mühsal Deiner Seele (Jes 53,11). Preis und Anbetung sei Dir, unserem Retter-Gott, auf ewig, daß Du Deinen Sohn gesandt hast, uns zu suchen! Und Dank Dir, ewig Dank und Preis Dir, Herr Jesus, für Dein Suchen und Finden!
O, so laßt uns, die Gefundenen, immerdar und in diesen Tagen besonders diese suchende Liebe des Heilandes anschauen, und laßt uns Ihm danken mit Wort und Tat dafür, daß Er wie einst Joseph ausging mit dem heiligen Entschluß: „Ich suche Meine Brüder!“ Anbetung sei Seinem herrlichen Namen in Ewigkeit!
F. K. „Das Wort ward Fleisch und zettele unter uns, (und wir haben Seine Herrlichkeit angeschaut, eine Herrlichkeit als eines eingeborenen vom Vater) voller Gnade und Wahrheit; ... denn aus Seiner Fülle haben wir alle empfangen, und zwar Gnade um Gnade.“ (Joh 1,14 u. 16).
26 Ich glaube, wir dürfen diese praktische Nutzanwendung von jenem Platzwechsel der Brüder Josephs wohl machen, wenngleich für uns Gläubige auch „Sichem“ nicht der Ort ist, an dem Gott uns sehen will. Jakob hatte vordem dort ein Feld gekauft und wohnte daselbst, ja, er errichtete sogar einen Altar dort - und befand sich dennoch nicht nach dem Willen Gottes in jener Gegend, sondern mußte vielmehr auf Gottes Geheiß nach Bethel ziehen (vgl. 1Mo 33-35 und siehe Seite 106ff. des Jahrbuches)!; das war Gottes Platz der Absonderung für ihn und ist es im Grunde gleichsam auch für uns. Aber dennoch - die Brüder Josephs kannten damals Gott noch wenig und fragten nicht nach Seinem Willen, und so war es zunächst das Natürlichste für sie, dort die Herde des Vaters zu hüten, wo des Vaters Besitztum lag. Der Vater jedenfalls mußte sie daselbst vermuten, sie aber zogen in Eigenwilligkeit noch weiter nördlich, d. h. noch weiter vom Vater fort, nach Dothan, und Jakobs Sorge um sie war nur zu berechtigt. F. K.↩︎
27 Vgl. des Verf. Aufsatz „Rechenschaftsberichte“ in Jahrb. 9, S. 203ff.!↩︎