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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 23 - Jahrgang 1938
Luk 12,32 - Die eine, heilige, unüberwindbare GemeindeLuk 12,32 - Die eine, heilige, unüberwindbare Gemeinde
Gott schafft gegenwärtig einen Wunderbau in der Welt. Aus allen Nationen und Stämmen soll in der Jetztzeit ein Volk von Erlösten entstehen. Der überschwengliche Reichtum Seiner Gnade in Güte soll an Gefäßen des Erbarmens offenbar werden. Dazu hat Er die Gemeinde berufen: die eine, heilige, unüberwindbare Gemeinde.
Es gibt nur ein geistliches Ewigkeitsvolk in der Welt. Aus der Ewigkeit stammend, geht dies Volk Gottes einer himmlischen Herrlichkeit entgegen. Alles ist - mitten in der Zeit - „aus“ Ewigkeit, „in“ Ewigkeit, „zu“ Ewigkeit hin. Aus der Einzigartigkeit der Gemeinde aber ergibt sich von selbst ihre organische Einheit; denn wenn es kein anderes Volk Gottes auf Erden gibt als die Gemeinde, so gehören sie eben alle zusammen, die da Glieder dieser einen Gemeinde, dieses einen Organismus der Erlösung sind. Dies ist eine Wahrheit, die gerade heute im Brennpunkt der geistlichen Lebensfragen steht, und mit Freuden ist deutlich ein Zusammenrücken der Kinder Gottes aus den verschiedensten Kreisen und Benennungen zu beobachten.
Gott hat im Laufe der Jahrhunderte gewisse Wahrheiten immer neu auf den Leuchter gestellt. Im 16. Jahrhundert, in der Zeit der Reformation, war es die Wahrheit von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, die geistesmächtige Herolde wie Luther, Melanchthon, Calvin neu bezeugten. Im 17. und 18. Jahrhundert, als die Rechtgläubigkeit drohte, zu toter Orthodoxie zu erstarren, ließ Gott in deutschen Landen durch Männer wie August Hermann Francke und Spener, die Väter des Pietismus, die Notwendigkeit persönlicher Rechtgläubigkeit hervorheben, die unerläßliche Bedingung lebendiger, echter Herzensgemeinschaft des einzelnen mit dem Herrn. Und mit dem Erwachen des geistlichen Lebens verband sich - besonders im 18. und 19. Jahrhundert - ganz von selbst ein Erwachen des Missionssinnes, des weltweiten Sendungsbewußtseins der Gemeinde an die Welt. Von den Waisenhäusern A. H. Franckes, von der Herrnhuter Brüdergemeine, von den großen Pionieren des Missionsgedankens wie William Carey, Dr. Morrison, David Livingstone, Johannes Goßner, Dr. Barth (Calw) und vielen anderen gingen Ströme der Neubelebung auf die Heimatgemeinden der Kulturländer aus, die sie zusammenriefen und zusammenrafften zu großen Missionstaten in allen Erdteilen der Welt. Und wie sich die Gemeinde auf ihre Aufgaben nach außen hin besann, so besann sie sich auch immer mehr auf ihr Wesen und ihre Einheit nach innen hin. Das Jahrhundert des erneuten Betonens der Grundsätze des praktischen Auslebens der Einheit der Gemeinde war angebrochen. Fortan steht die Frage nach dem Wesen der Gemeinschaft der Heiligen ganz offensichtlich im allgemeinen Vordergrund.
In diese Zeit hat uns Gott hineingestellt. Diese große Wahrheit zu bezeugen ist eine unserer Hauptaufgaben. Wir glauben an die eine, heilige, allgemeine Gemeinde. Eins ist ihre Grundlage - das Opfer von Golgatha; eins ist ihre Gotteskraft - die Innewohnung des Heiligen Geistes. Eins ist ihr Ziel - die Entrückung und Vollendung. Einer ist ihr Herr - Jesus Christus, unser gemeinsamer Erlöser. Darum müssen wir auch eins sein in der Gesinnung der Liebe und - über alle Unterschiede hinweg - den Weg zueinander finden. Darum müssen wir die Verbindung zueinander suchen, die Bruderhand einander geben und ernstlich bestrebt sein, einander aufzunehmen, gleichwie Christus uns aufgenommen hat.
Die Gemeinde ist aus der Liebe geboren. Sie verdankt ihr Leben der Liebestat von Golgatha. Sie lebt von der Liebe und ist darum auch bestimmt, in der Liebe zu leben. Liebe aber ist Einssein, ein Streben nach Gemeinschaft, die höchste Form innerster Verbundenheit und herzlichster Einheit. Und wo diese Liebe nicht da ist, da wäre auch alles äußere Zusammensein irreführende Selbsttäuschung und wesenloser, toter Schein.
Liebe ist aber keine bloße „Fernliebe“, kein schwärmerisches Gefühl für ein Verbundensein mit aller Welt, wobei man vergißt, mit dem Bruder am eigenen Ort Verbindung zu suchen. Solch eine „Liebe“ wäre ein Nebel ohne Kern, und wir müssen uns sehr davor hüten, mehr an den Abwesenden zu denken als an den örtlich bei uns Anwesenden!
Liebe ist auch keine bloße „Gruppenliebe“, wo man sich begeistert für ein Zusammengehen mit den anderen Kreisen der Gläubigen einsetzt und noch nicht einmal praktisch beweist, daß es einem an dem inneren Zusammengehen mit dem einzelnen Kinde Gottes gelegen ist. Liebe ist überhaupt nichts Schwärmerisches und bloß Gefühlsmäßiges, nichts Nebelhaftes und Unklares, keine Fleischmasse ohne Knochen. Nein, Liebe ist Wille, ist tatkräftiges Handeln, ist zielbewußte Gotteskraft, ist Durchbruch der Welt Gottes in die irdische Welt. Liebe kennt ein Gesetz, nämlich den Willen des Höchsten. Wer darum von der Schrift abweicht, weicht, selbst wenn er die Einheit will, - ohne daß er es weiß, von der Liebe ab. Hier gilt es, sich wache Augen schenken zu lassen, um auf dem Wege zu bleiben und nicht abzuweichen, weder zur
Rechten noch zur Linken, wie Christus uns Selbst gesagt hat: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Anfechtung fallet.“
Liebe aber sucht den anderen; sie glaubt an das aufrichtige Streben in ihm, an das Werk Christi in seiner Seele, und wir müssen uns tief beugen und in Buße vor Gott und Menschen bekennen, daß wir in diesem Suchen zu lässig, in diesem Glauben zu ungläubig gewesen sind. Liebe ist bescheiden; sie sucht nicht ihre Ehre; sie will helfen und dienen, sie will heilen und ein Segen sein.
Die Liebe kann alten Bruderstreit begraben. Sie kann vergessen, was dahinten liegt, und einen Neuanfang schaffen. Sie gibt dem Todeswesen der Zerspaltung in göttlicher Lebenskraft den Todesstoß. Die Liebe ist die Seele aller Gemeinschaft unter den Gläubigen. Sie treibt sie zusammen; sie verbindet ihre Herzen, sie führt sie zu gemeinsamer Arbeit in der Heimat und auf dem Missionsfeld, zu gemeinschaftlichem Ringen um die Erreichung der großen Ziele Gottes.
Und diese Liebe ist ewig. Die Gemeinde der Heiligen ist eine unüberwindbare Gemeinde. Die Bestimmung zum Siegen ist ihr von vornherein eingeboren. „Was aus Gott geboren ist, überwindet die Welt.“ Der Zeugendienst der Gemeinde ist nicht etwa ein „Zusatz“ zu ihrer Aufgabe, sondern ein Kernstuck ihres Lebens selber, eine Hauptaufgabe ihres ganzen Daseins. Und gerade für diesen Dienst hat der lebendige Herr Seinem Volke die gewaltigsten Verheißungen gegeben. „Fürchte dich nicht, du kleine Herde, denn es hat eurem Vater wohlgefallen, euch das Reich zu geben.“ (Lk 12,32) Die Gemeinde Gottes ist nicht nur eine liebende Gemeinde, sondern auch eine zeugende und siegende Gemeinde.
Im Sommer des vergangenen Jahres war ich im Kolosseum in Rom. Welche gewaltig ernste Predigt reden doch diese riesigen, abends bei Scheinwerferlicht gespenstig in den Nachthimmel emporragenden Theaterruinen! Im letzten Viertel des ersten Jahrhunderts war auf dem Platz der Gärten Neros dies ungeheure, für 87000 Menschen berechnete Amphitheater gebaut worden. Ungefähr 12000 Tiere und 10000 Gladiatoren büßten bei den 120tägigen Einweihungsschauspielen ihr Leben ein. Noch heute sieht man die Gewölbe, in denen einst die wilden Tiere für die
Kampfspiele aufbewahrt wurden, sowie die Eingänge, durch welche die Gladiatoren und bald später die Christen hindurchschritten, um auf die grausige Arena zu gelangen, wie auch die Reste des Tores, durch welches man die Leichen der gefallenen Kämpfer oder Märtyrer hinausschleifte. Wie winzig und erbärmlich kommt man sich vor, wenn man auf einer solchen Stätte urchristlicher Zeugenkraft und urchristlichen Heldenmutes steht! Wieviel Märtyrerblut ist hier um des Glaubens an den Gekreuzigten willen geflossen! Wie machtlos und schwach und dem Untergang geweiht schien damals das kleine Häuflein der Christen! Was aber steht heute in der Arena direkt in der Mitte, unmittelbar vor den Resten der alten Kaiserloge? Ein Kreuz! Ein schlichtes, hochragendes Kreuz! Schon ums Jahr 1300 hatte man hier zur Erinnerung an die Märtyrer ein Kreuz errichtet. Dann war es im Laufe der Zeit abhanden gekommen, und im Jahre 1927 wurde es auf Befehl Mussolinis, des italienischen Regierungschefs, wieder neu aufgestellt, und zwar mit der Inschrift auf dem Sockel: „Ave crux spes unica“, d. h. „Gegrüßt seist du, o Kreuz, du einzige Hoffnung!“ Ein Kreuz im Kolosseum! Gerade da, wo einst die Gläubigen um ihres Glaubens an den Gekreuzigten willen den blutigen Tod erlitten, gerade da ragt jetzt hoch ein Kreuz empor, und noch dazu mit dieser schlichten und doch so gewaltigen Inschrift! So wird dies Kreuz im Kolosseum zum Symbol des Triumphes Christi, und mit frohem Mut wollen auch wir in die Zukunft schauen und weiter diese beiden Wahrheiten mit Wort und Tat bezeugen: die Wahrheit von der Einheit der Gemeinde und ihrer ewigen Unüberwindbarkeit.
Erich Sauer.