Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 22 - Jahrgang 1937
2Kor 12,9 - Ein Dienst in Schwachheit und doch in Kraft2Kor 12,9 - Ein Dienst in Schwachheit und doch in Kraft
„Laß dir an Meiner Gnade genügen, denn Meine Kraft ist in dem Schwachen mächtig“ (2Kor 12,9).
Die Frage nach der Kraft ist heute eine der brennendsten Gegenwartsfragen. Nach Zeiten der Ohnmacht und Schwäche ist das Suchen nach dem Starken und Heldischen neu erwacht; und gerade dies ist auch der Grund, warum Millionen unserer Zeitgenossen das Christentum der Bibel beiseitewerfen; denn es sei unheldisch, schwächlich, persönlichkeitstötend.
Was ist unsere Antwort auf diese Frage unserer Umwelt? Was ist die Antwort der Schrift selbst? Wir sagen:
Das Christentum ist „aus“ Schwachheit, „durch“ Schwachheit und zunächst „zu“ Schwachheit hin.
Das Christentum ist „aus“ Kraft, „durch“ Kraft, „zu“ Siegeskraft hin.
I.
1. Das Christentum ist „aus“ Schwachheit, das heißt, es geht von der Schwachheit des Menschen aus. Es bezeichnet den Menschen, wie es ihn vorfindet, als jämmerlich und erbärmlich, als arm, blind und bloß (Off 3,17). Es sagt ihm, daß er mit all seinem Streben auch nicht ein i-Pünktlein zur Erwerbung seines ewigen Heils hinzufügen kann. Er muß es sich völlig und ganz, rein aus Gnaden schenken lassen. Und wie es ihn kraftlos nennt (Röm 5,6), so nennt es ihn sündig und verloren (Röm 5,8), gottlos und hoffnungslos (Eph 2,12), gebunden und versklavt (Röm 7,14). Kein Wunder, daß gerade diese Botschaft wahren Aufruhr in der Seele des verblendeten Ich-Götzendieners hervorruft! Und dennoch! Wie ist sie doch so wahr!
Schwach ist der Mensch schon vom kosmischen Gesichtspunkt aus. Denken wir uns alle 30-100 Kilometer einen Stecknadelkopf von einem Millimeter Durchmesser - das ist die Verteilung der Sonnen (!) im Weltraum! -, und von diesem Stecknadelkopf den 1¼-millionsten Teil - das ist die Erde! -, und von der Oberfläche dieses mikroskopischen Staubkügelchens ein Fünfzigstel - das ist Europa! Europa von Süditalien bis Nordskandinavien, von der Meeresenge von Gibraltar bis ans Uralgebirge! Wie sinnlos ist da alle Selbstvergottung, wie wirklichkeitsfremd, wie naiv, wie primitiv!
Schwach ist der Mensch auch vom geistigen Gesichtspunkt aus, trotz all seiner Fortschritte in Wissenschaft und Kunst. Wir wissen nicht, was „Stoff“ ist; wir wissen nicht, was „Kraft“ ist; wir wissen nicht, was „Leben“ ist; wir wissen nicht, was „Tod“ ist. Wir wissen - ohne göttliche Offenbarung - nicht den Ursprung der Welt und ebensowenig das Ziel aller Welt. „Wir schwimmen im Wunder wie der Fisch im Wasser“ und erklären täglich Dinge, von denen wir wenig wissen, durch Dinge, von denen wir gar nichts wissen. Und schließlich:
Schwach ist der Mensch auch vom sittlichen Gesichtspunkt aus. „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ (Röm 7,19) In dem Festungskrieg um die Stadt „Menschenseele“, der zwischen den beiden geistigen Reichen „Gesetz Gottes“ und „Gesetz der Sünde“ geführt wird, gelingt es stets dem „Gesetz in den Gliedern“ - dieser auf das Kampfgebiet der Persönlichkeit abgesandten Heeresabteilung des Sündengesetzes -, den Sieg davonzutragen über das „Gesetz der Vernunft“, dieser Heeresabteilung des Gesetzes Gottes. So wird die Seele immer wieder für die Sünde erobert, und das geschieht derartig zwangsläufig, daß dieser Sieg selber wiederum als „Gesetz“ bezeichnet werden muß. (Röm 7,21-23)
Wie kommen wir aber nun aus dieser Schwachheit heraus? Durch die Schwachheit des Kreuzes! „Gott gefiel es wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben.“ (1Kor 1,21)
2. Das Christentum ist „durch“ Schwachheit. Von all den Sonnen und Sternen des Weltraumes hat Gott die winzige Erde erwählt und auf dieser das kleine Land Kanaan und in ihm das Volk Israel, das „geringste“ aller Völker (5. Mose 7,7), in Israel aber die Stadt Bethlehem, die zu gering war, um unter die Tausende von Juda gerechnet zu werden (Micha 5,1), in Bethlehem selber aber die - Krippe! Und von der Krippe ging es weiter bis an das Kreuz! So erwählt Sich Gott stets das Geringe: zum ersten Zeugen des Neuen Testaments Matthäus den Zöllner, zur ersten Verkündigerin der Auferstehung Maria Magdalena, die einst Besessene (Mk 16,9; Joh 20,11-18), zum hervorragendsten Apostel - Paulus, den „ersten aller Sünder“ (1Tim 1,15). Das Ganze aber geschieht, damit „sich vor Ihm kein Fleisch rühme, sondern wer sich rühmt, der rühme sich des HErrn“ (1Kor 1,31). Je schwächer das Material, desto größer - bei gleicher Kunstleistung - die Ehre des Meisters. Je kleiner die Armee, desto gewaltiger - bei gleichem Siege - der Ruhm des Triumphators.
Darum auch das Fortbestehen dieses Grundsatzes selbst bei den Erlösten des Herrn bis zum Ablauf dieser Weltzeit.
3. Das Christentum ist zunächst „zu“ Schwachheit hin. Nicht viel Edle und Gelehrte, nicht viel Reiche und Mächtige, nicht viel Große und Gewaltige (1Kor 1,26-29), keine prunkenden Synoden, keine hochklingenden Titel, keine verstandesscharfen Glaubensdebatten, keine Anerkennung von der Welt - in dieser Schlichtheit und Knechtsgestalt hat das Urchristentum seine grundlegenden Triumphe gefeiert; und überall, wo die Gemeinde diesen Boden der Schwachheit verließ, verließ sie auch den Boden der Kraft. Gewiß, Zinzendorf war ein Reichsgraf, aber Luther war Bauernsohn, John Bunyan war Kesselflicker, William Carey Schuhmacher, Tersteegen Bandwirker. Timotheus hatte seine Magenschwäche (1Tim 5,23), und Paulus hatte seinen „Pfahl im Fleisch“ (2Kor 12,7), und gerade ihm, diesem größten Diener des Herrn, wurde durch eine besondere Offenbarung die Gewißheit zuteil, daß Schwachheiten und Bedrängnisse durchaus nicht ohne weiteres Hindernisse sind, sondern oft gottgegebene Schutzmittel gegen Selbstüberhebung und Hochmut, zur Brauchbarerhaltung des Werkzeugs, zur Vertiefung des göttlichen Gnadenwertes in uns und durch uns. Wie die Wolke der Herrlichkeit über der Stiftshütte ruhte (2. Mose 40,34), so will die Kraft Gottes, uns „überzeltend“, über unserer schwachen Leibeshütte wohnen (2Kor 12,9). Eine Beterin auf dem Krankenlager, eine Wäscherin, die ihre Spargroschen dem Herrn gibt, ein Dienst selbstverleugnender Liebe, ein stilles Zeugnis im Geräusch des Berufslebens - das ist alles Dienst in Schwachheit und doch in Kraft. In der Tat:
II.
Das Christentum ist aus Kraft, durch Kraft, zu Siegeskraft hin. Hinter dem Zeugendienst der Erlösten steht die Auferstehungskraft des Erlösers. Christentum ist Auferstehungsglaube. Am Evangelium lebt alles. „Der Tod ist verschlungen in den Sieg.“ Darum ist das Christentum der Liebe auch das Allerpositivste in der Welt.
Welches aber sind die Kanäle, durch welche diese Gotteskraft in unser Leben hineinfließt? a) Stillesein und Warten. „Durch Stillesein und Hoffen würdet ihr stark sein.“ (Jes 30,15). Das Gebetskämmerlein ist die Rüstkammer des Glaubens; aber Gebetslosigkeit bedeutet Kraftlosigkeit. b) Bleiben in Seinem Worte. „Ihr seid stark, und das Wort Gottes bleibt in euch.“ (1Joh 2,14) Jedes Wanken in bezug auf das Wort ist ein Wanken in bezug auf die Kraft. Nur die Heilige Schrift gilt, aber die Heilige Schrift ganz! Wir müssen nicht nur unter den Schall, sondern unter die Gewalt Seines Wortes. Eine gebrochene Stellung zur Schrift ist eine gebrochene Stellung in der Kraft. c) Heiligung und Hingabe. „Wer reine Hände hat, wird an Stärke zunehmen.“ (Hiob 17,9). Handlungen sind nicht nur Einzeldinge, sondern zugleich Samenkörner. „Säe eine Tat, und du erntest eine Gewohnheit; säe eine Gewohnheit, und du erntest einen Charakter; säe einen Charakter, und du erntest ein Schicksal.“ Jede Niederlage bringt den ganzen Menschen rückwärts; jeder Sieg bringt den ganzen Menschen vorwärts. Darum ist Wachstum in der Heiligung zugleich Wachstum in der Kraft. „Ihnen wächst beim Wandern die Kraft.“ (Ps 84,8, Menge)
Das Endziel aber der Heiligung ist die Verherrlichung in Christo. In Schwachheit hier wandelnd erwarten wir die Volloffenbarung Seiner Kraft. Jetzt wandeln wir im Geist, einst werden wir verwandelt in eine verklärte Geistleiblichkeit; und dies wird geschehen „vermöge der Kraft, mit der Er vermag, Sich die ganze Welt zu unterwerfen“ (Phil 3,21). An unserem Leibe wird sich einmal die Kraft betätigen, die das ganze Weltall bewegt! „Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft.“ (1Kor 15,43)
Das Geheimnis des Ganzen aber ist die Gnade des Herrn. Sie ist das Bindeglied zwischen Kraft und Schwachheit. Sie füllt die „irdenen Gefäße“ mit dem ewigen „Schatz“ des Himmels (2Kor 4,7); sie läßt uns frohlocken in Nöten und Drangsalen (Röm 5,3) und gibt zu den Aufgaben die Gaben und die Kraft. Darum spricht der Herr wie zu Paulus so auch zu uns: „Laß dir an Meiner Gnade genügen.“
Erich Sauer.