Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 15 - Jahrgang 1930
Barabbas BefreiungBarabbas Befreiung
Pilatus, der rücksichtslos-harte Mann sitzt auf dem Richterstuhl. Man will den Herrn Jesus zum Empörer gegen den Kaiser stempeln und fordert die Todesstrafe für Ihn. Pilatus weiß, daß der Herr Jesus ihm aus Neid überliefert worden war - er weiß, Er ist unschuldig. Wie soll er urteilen? Da kommt ein Bote seiner Frau. Was war geschehen? Unter einem unheilvollen Traume hatte sie wegen des angeklagten Jesus in der Nacht viel ausgestanden. Sie fürchtete die göttliche Rache, wenn ihr Mann den Gerechten verurteilt, und sie warnt ihn, damit er seine Hände von dem Gerechten lasse. „Habe du nichts zu schaffen mit jenem Gerechten.“ (Mt 27,19) Pilatus, der Mann, der es mit Recht und Gerechtigkeit nicht sehr genau nahm, ist in Verlegenheit. Als unbestechlicher Richter müßte er den Heiland ohne weiteres losgeben, wenn auch das Volk und die Hohenpriester darüber wüten möchten. Das schlechte Gewissen macht ihn aber bange. Wie leicht konnte man ihn, den ungerechten und grausamen Tyrannen, an seiner verletzbaren Ferse treffen, sodaß er seiner Gewalttaten wegen seines Amtes entsetzt werden konnte. Mit Schlauheit will er sich durchhelfen. Als römischer Landpfleger übte er die Gewohnheit, zum Osterfest den Juden einen Gefangenen, den sie sich selbst wählten, loszugeben. Es schien ihm ein glücklicher Gedanke zu sein, Jesus neben Barabbas zu stellen und das Volk wählen zu lassen.
Im schaurigen Gefängnis sitzt der berüchtigte Mörder und Aufrührer Barabbas mit noch zwei Mitaufrührern, wenn nicht mehr (Mk 15,7). Wie manchmal mochte er verzweifelt an seinen Ketten gezerrt haben. Seine Tage waren gezählt; er war überführt und rechtskräftig verurteilt worden. Gnade war ihm versagt. Er wußte, was seiner wartete: das Kreuz auf der Schädelstätte. Er war ein verlorener Mann.
Außerhalb des Gefängnisses aber, draußen, da bahnen sich wunderbare Dinge an. Der Gott der Barmherzigkeit und Liebe leitet für den schuldigen Sünder die Errettung ein. Was Pilatus und die verblendeten Feinde Jesu und das Volk nicht erkennen, das macht der erbarmende Gott zur Grundlage Seiner Gnade, und in dem Volksentscheid, ob der Sünder Barabbas den verdienten Tod oder der Sohn Gottes an seiner Stelle ihn erleiden soll, offenbart Er den ewigen Ratschluß Seiner Liebe.
Die Kerkertür wird geöffnet, ein Schauer schrecklichen Ahnens durchzittert Barabbas Seele; die Kette wird gelöst und der berüchtigte Mörder hinaus und ins Richthaus geführt und - neben den Herrn Jesus gestellt. „Wen wollt ihr, daß ich euch losgeben soll?“, hört er Pilatus sagen. Nun weiß er, um was es sich handelt, und erfaßt den Ernst der Situation. Er merkt, er ist zur Wahl neben Jesus gestellt. So stehen sie beide nebeneinander vor den Augen des Volkes und vor dem Auge Gottes. Christus und Barabbas - welch ein Kontrast! Gegensätze, wie sie größer nicht gemacht werden können. Der eine ein Räuber - der andere ein Geber; der eine ein Aufrührer - der andere ein Friedensstifter; der eine ein Mörder - der andere der „Urheber des Lebens“. Barabbas bedeutet „Sohn des Vaters“. Gleich Elymas war auch er ein Sohn des Teufels, des Mörders von Anfang. Und neben ihm Jesus, der Sohn des Vaters - des Gottes, der Licht und Liebe ist. Konnte er, der Mann mit dem Kainszeichen, der Schrecken der Menschheit, neben Jesus einen Schimmer von Hoffnung haben, gewählt zu werden? Und nun erlebte er den Bericht von Mt 27,17-26. Er sieht die Bemühungen Pilatus‘, den
Heiland zu befreien; er sieht das tobende Volk mitsamt den Führern, die ihn, den Barabbas wählen, weil sie Jesus hassen. Er hört seinen Namen rufen: „Gib uns den Barabbas los!“, und er hört den Ruf über Den, Der neben ihm steht: „Hinweg mit Diesem ... Er werde gekreuzigt!“ Grauenvolle Wahl!
Die Welt wählt Barabbas, und Gott wählt Jesus. Gott muß den Sünder richten. Das Kreuz (das Gericht) war für den Sünder, den Barabbas, bereitet. Wer soll daran hängen, der Sünder oder Jesus? Gott in Seiner Gnade gebraucht die grauenvolle Wahl, um den Ratschluß der ewigen Liebe auszuführen. Wunderbares Geheimnis der Liebe Gottes! Er liebt die Welt so, daß Er Seinen eingeborenen Sohn hingibt! An diese Wahl erinnert Petrus nach Pfingsten die Juden in Apg 3,14. Und die Jüngerschar gedenkt in ernster Stunde an Pilatus und an das Toben der Völker. Sie erkannten, daß alle doch nur das taten, was Seine Hand und Sein Ratschluß zuvor bestimmt hatte, daß es geschehen solle (Apg 4,28). Obwohl die Menschen in ihrem Toben und in ihrem Hasse die göttliche Wahl (in der Vorkenntnis Gottes schon vor Grundlegung der Welt) ausführten, waren sie doch voll und ganz für ihr Toben und für ihre Wahl verantwortlich.
Was mußte in Barabbas Seele vorgehen? Er ist losgesprochen - freigesprochen, und sein Nebenmann ist überantwortet, an seiner Stelle gekreuzigt zu werden. Wer war Jesus? Wußte er etwas von dem, der an dem für ihn bestimmten Kreuz hängen sollte? Von Pilatus losgegeben, war er jetzt frei - frei, um mit der ganzen Volksmenge zu dem Schauspiel (Lk 23,48) an den Ort zu gehen, wo seine letzte Stunde geschlagen hätte, wenn nicht dieser andere für ihn gekreuzigt worden wäre. Mußte der innere Zug der Gnade Gottes ihn nicht nach Golgatha treiben? Dort sahen seine Augen die drei Kreuze. Welche Gedanken ziehen durch seine Seele? Er sieht den zur Linken; er kennt ihn gut; und den zur Rechten; seine Genossen, die Genossen seines bösen Weges, „die Mitaufrührer“, (Mk 15,7), mit welchen er einst gebunden dem Gefängnis übergeben wurde. Und dann blickte er auf das Kreuz in der Mitte: „Das war mein Kreuz; das war für mich bestimmt; da sollte ich hängen; da würde ich jetzt hängen - aber ich bin dem schrecklichen Gericht entronnen. Wer ist der, der dort an meiner Stelle stirbt? Wer ist der, der stumm wie ein Lamm war? Der schwieg, als sie Ihn so hart verklagten? Wer ist der, über dessen Lippen kein bitterer Ton kam? Der mir keinen Blick des Hasses zuwarf, als Er gewählt wurde, an meiner Stelle, für mich, den verurteilten Sünder, zu sterben?“ Hörte er das Gespräch der einstigen Genossen seines Sündenweges? (Lk 23,39-40) Hörte er die Worte zu dem Schächer neben Ihm: „Heute wirst du mit Mir im Paradiese sein?“ (V. 43) Wo werden wir Barabbas in der Ewigkeit finden?
Und nun wollen auch wir uns im Geiste unter diese drei Kreuze auf Golgatha stellen und sinnend und anbetend das große Geheimnis der Erlösung betrachten. Das Kreuz dort in der Mitte war für mich. Das Urteil war auch über mich gefällt, zu empfangen, was meine Taten wert sind. Gott aber traf Seine Wahl; Er gab Seinen Sohn, damit wir leben möchten. Christus ging für uns in den schmerzvollen Tod, und wir wurden losgesprochen von Schuld und Strafe. Schaue Ihn an am Kreuz! Schaue Ihn an, in der Finsternis, verlassen von Gott. Das war dein und mein ewiges Los. Laß die Träne rinnen! Falte deine Hände! Preise Seinen Namen! Preise das Erbarmen und den göttlichen Liebesrat, der vor Grundlegung der Welt beschlossen wurde! Weder Barabbas noch wir haben diesen Tausch begehrt noch veranlaßt. Alles ist geschehen ohne unser Zutun aus Gottes freiem Erbarmen heraus. Wie tief muß uns dies beugen und wiederum unser Herz mit Anbetung erfüllen! Ja, das Kreuz auf Golgatha ist kein religiöses Zeichen, es ist unser heiligstes Erlebnis. Dank, Lob und Anbetung Ihm, der für uns starb!
Ed. v. d. K., H.