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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 23 - Jahrgang 1938
Der vollkommene MenschDer vollkommene Mensch
Die Klagen über Leere, Dürre, Kälte in der Mitte der Gläubigen wollen nicht verstummen, und leider sind sie oft genug mehr als berechtigt. Weshalb ein solcher Zustand? Hat Seine göttliche Kraft uns nicht alles in betreff des Lebens und der Gottseligkeit geschenkt? (2Pet 1,3). Würden wir nur mit einem kindlicheren Glauben die Wahrheit erfassen, daß zur Rechten der Majestät im Himmel ein wirklicher Mensch sitzt - Einer, dessen Mitgefühl vollkommen, dessen Liebe unergründlich, dessen Macht allgewaltig, dessen Weisheit unendlich, dessen Mittel unerschöpflich, dessen Reichtümer unerforschlich, dessen Ohr für jeden unserer Atemzüge geöffnet, dessen Hand für jedes unserer Bedürfnisse aufgetan, dessen Herz voll der unaussprechlichsten Liebe und Zärtlichkeit gegen uns ist -, wieviel glücklicher würden wir sein, wieviel fruchtbringender unser Leben, wieviel wärmer die Kundgebungen einer wahren Bruderliebe, mit einem Wort, wieviel erfüllter unser ganzes Leben! Da ist nichts, wonach das Herz verlangen kann, das wir nicht in Jesus hätten. Sehnt es sich nach wahrem Mitgefühl? Bei Ihm ist es zu finden, der Seine Tränen mit denen der trauernden Schwestern von Bethanien vereinigte. Sehnt es sich nach aufrichtiger Zuneigung? Sie ist in jenem Herzen vorhanden, das Seine Liebe mit Seinem Blut besiegelt hat. Sucht es den Schutz einer wirklichen Macht? Sie findet sich in Vollkommenheit bei Ihm, der die Welten gemacht hat. Empfindet es den Mangel nie irrender Weisheit? Es wende sich an Den, der die Weisheit ist und der uns „von Gott zur Weisheit geworden ist“. Kurz: Alles haben wir in Christus.
Der Herr Jesus Christus war der einzig vollkommene Mensch, der je diese Erde betrat. Er war vollkommen in Gedanken, vollkommen in Worten und vollkommen in Werken. Seine Eigenschaften waren aber nicht nur in sich vollkommen; sie standen auch in göttlichem und daher vollkommenem Verhältnis zueinander. Es war nicht so, daß ein Zug den anderen irgendwie in Schatten gestellt hätte. In Ihm war eine überwältigende Majestät mit einer Güte gepaart, die in Seiner Gegenwart vollkommene Ruhe gab. Die Schriftgelehrten und Pharisäer traf Sein vernichtender Tadel, während der arme Samariter und das Weib, die „eine Sünderin“ war, sich auf unerklärliche, doch unwiderstehliche Weise zu Ihm hingezogen fühlten. So stand alles in schönem und angemessenem Verhältnis zueinander. Jede Handlung Seines vollkommenen Lebens bestätigt diese Tatsache. Er konnte in bezug auf die fünftausend Hungrigen sagen: „Gebt ihr ihnen zu essen!“, und als sie satt waren: „Sammelt die übrigen Brocken, auf daß nichts umkomme!“
Freigebigkeit und Sparsamkeit waren beide vollkommen in Ihm. Keines tat dem anderen Abbruch. Jedes erstrahlte in vollkommenem Licht in seiner eigenen Sphäre. Er konnte die Tausende von Hungrigen nicht ungesättigt fortschicken; aber Er konnte auch nicht leiden, daß ein Brocken der göttlichen Gaben verschwendet wurde. Dieselbe Hand, die für jedes menschliche Bedürfnis weit geöffnet war, war gegen alle Verschwendung fest geschlossen. Da war weder ein Zug von Geiz noch von Verschwendung im Charakter des vollkommenen himmlischen Menschen.
Wie so ganz anders bei uns! Wir können freigebig sein, sind dann aber in Gefahr, daß unsere Freigebigkeit in unverantwortliche Verschwendung ausartet. Wir können sparsam sein; aber wie oft wird unsere Sparsamkeit durch Habsucht befleckt! Oft weigern sich unsere Herzen, sich den sich darbietenden Bedürfnissen zu öffnen, während wir zu anderen Zeiten in unbesonnener und leichtfertiger Weise das verschwenden, was manchen unserer notleidenden Mitmenschen sättigen könnte. Laßt uns deshalb genau das göttliche Bild betrachten, das in dem Leben des „Menschen Christus Jesus“ zu sehen ist! Es ist wahrlich erfrischend und stärkend für „den inneren Menschen“, sich mit Dem zu beschäftigen, der in allen Seinen Wegen vollkommen war.
Betrachte Ihn im Garten Gethsemane! Dort kniete Er vor dem heiligen Angesicht des Vaters in der Tiefe einer Erniedrigung, in die außer Ihm sich niemand begeben konnte; aber vor des Verräters Horden zeigte Er eine Geistesgegenwart und eine Majestät, vor der sie zurückwichen und zur Erde fielen. Sein Verhalten Gott gegenüber war Unterwürfigkeit, gegen Seine Richter und Verkläger unbeugsame Würde. Alles war vollkommen. Entäußerung und Inbesitznahme, Erniedrigung und Erhabenheit - alles war göttlich!
Und in welch vollendeter Beziehung zueinander stand Göttliches und Menschliches in Ihm! Er konnte Seinen Eltern sagen: „Was ist es, daß ihr Mich gesucht habt? Wußtet ihr nicht, daß Ich in dem sein muß, was Meines Vaters ist?“ Aber zu derselben Zeit konnte Er mit ihnen nach Nazareth hinabgehen und dort ein Beispiel vollkommener Unterwürfigkeit unter die elterliche Autorität sein (Siehe Lk 2,49.51). Er konnte zu Seiner Mutter sagen: „Was habe Ich mit dir zu schaffen, Weib?“ Aber inmitten der unaussprechlichen Qualen des Kreuzes konnte Er diese Mutter aufs zärtlichste der Sorge des geliebten Jüngers anbefehlen. Im ersten Fall löste Er Sich im Geiste des vollkommenen Nasiräertums von Seinen Eltern, um den Willen Seines Vaters zu erfüllen; im letzteren gab Er den zärtlichen Gefühlen des vollkommenen menschlichen Herzens Ausdruck. Die Hingebung des Nasirs und die Zuneigung des Menschen waren beide vollkommen. Jedes leuchtete in ungetrübtem Glanz in seiner eigenen Sphäre.
Nichts konnte Ihn je aus der Fassung bringen. Nie brauchte Er einen Schritt zurückzutun oder ein Wort zu widerrufen. Was auch kommen mochte, Er begegnete allem in stets gleichbleibender Vollkommenheit.
Bedarf es des Hinweises, daß Er Sich in diesem allen von Seinen geehrtesten und ergebensten Dienern unterscheidet? Moses zum Beispiel war „der sanftmütigste Mann“ auf dem ganzen Erdboden; dennoch redete er „unbedacht mit seinen Lippen“ (Ps 106,33). Bei Petrus finden wir glühenden Eifer und mitreißende Energie, zugleich aber wiederum eine Feigheit, die vor dem Zeugnis und der Schmach zurückbebte. Er behauptete, seinen Herrn zu lieben, mehr als die anderen; aber als die Gelegenheit kam, seine Liebe zu beweisen, versagte er. So ist es bei allen, selbst den Treuesten der Treuen. Johannes, der die unmittelbare Gegenwart seines Meisters so besonders genoß, offenbarte zuweilen einen sektiererischen und unduldsamen Geist. Und selbst bei Paulus, dem begabtesten und hingebendsten Diener, bemerken wir Ungleichheiten. Er äußerte gegen den Hohenpriester Worte, die er widerrufen mußte. Er sandte den Korinthern einen Brief, der ihn zuerst reute und nachher wieder nicht reute. In allen Menschen finden wir irgendein Gebrechen, ausgenommen in Dem, der „schöner ist als die Menschensöhne, und über dessen Lippen Holdseligkeit ausgegossen ist“. (Ps 45,2).
Aus „C. H. M., Betrachtungen über das Dritte Buch Moses“.