Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 23 - Jahrgang 1938
Joh 1,28-10,40 – Von dem einen Bethanien zum anderenJoh 1,28-10,40 – Von dem einen Bethanien zum anderen
Es ist eine wenig beachtete Bemerkung, die Johannes am Schlusse des 10. Kapitels seines Evangeliums macht: „Er ging wieder weg jenseit des Jordan an den Ort, wo Johannes zuerst taufte, und Er blieb daselbst.“ (Vers 40). Unmittelbar bevor in diesem Evangelium von dem ersten Auftreten unseres Herrn berichtet wird, lesen wir: „Dies geschah zu Bethanien8, jenseit des Jordan, wo Johannes taufte.“ (Kap. 1,28). Obwohl dieses Dorf hier, im 10. Kapitel, nicht ausdrücklich genannt wird, kann kaum ein Zweifel sein, daß es derselbe Ort war - der, „wo Johannes zuerst taufte“ - und daß also der Herr nun dahin zurückkehrt, von wo Er ausgegangen war, an den Ausgangspunkt Seines Weges und Dienstes. „Er ging wieder weg ... und Er blieb daselbst“ -Sein Dienst war erfüllt, der Dienst an Israel, dem Volke des Alten Bundes.
Immer wieder war Er, der verheißene Christus, zu dem religiösen System des Judentums in einen unüberbrückbaren Gegensatz getreten. Im 2. Kapitel verwandelt Er das Wasser in Wein, das für die „Reinigung der Juden“ bestimmt war (Kap. 2,6; Mk 7,3f).; dann reinigt Er das Haus Gottes, das sie anläßlich des „Passahs der Juden“ zu einem Kaufhause gemacht hatten (Kap. 2,13ff). Im 3. Kapitel sehen wir Ihn beschäftigt mit einem „Obersten der Juden“, dem Er alles nimmt, was er in religiöser Hinsicht besaß; dann sehen wir selbst Johannes, den letzten und größten Propheten der alten Haushaltung, beiseite treten: „Er muß wachsen“, bekennt er, „ich aber abnehmen.“ (Kap. 3,30). Im 4. Kapitel verweilt Er zwei ganze Tage in einer „Stadt Samarias“, bei den Samaritern, mit denen „die Juden nicht verkehrten“ (Kap. 4,9); Er verkündet dort: „Es kommt die Stunde, da ihr weder auf diesem Berge, noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet ... die Ihn anbeten, müssen in Geist und Wahrheit anbeten.“ Welch ein Ärgernis für das Volk der Juden!
Was wir in den folgenden Kapiteln sehen, geht noch viel weiter. Dort sehen wir den Christus in einem gewissen Sinne sogar zu den von Gott gegebenen Verordnungen in Widerspruch treten; Er Selbst, die Erfüllung aller Vorbilder und Schatten, war da und tritt nun an die Stelle dessen, was „veraltet war und dem Verschwinden nahe“.
Unter den Festen des Alten Bundes stand, wie wir wissen, an erster Stelle der Sabbat, der dem Herrn „in allen ihren Wohnsitzen“ geweihte Tag (3Mo 23,3). Er ist es, dem nun der Bringer des Neuen zuerst begegnet. Nicht dem Sabbat an sich - denn in Wirklichkeit hat der „Herr des Sabbats“ den Sabbat nie gebrochen -, wohl aber dem, was die Juden daraus gemacht hatten. Bethesda ist (in einer jeglichen Zeugnisses baren Zeit) ein letztes Zeugnis von der gnädigen Wirksamkeit Gottes auch unter der Haushaltung des Gesetzes - von einer bedingten, beschränkten und an gewisse Fristen gebundenen Gnade. Es wird in den Schatten gestellt durch Den, der nun in bedingungsloser Gnade für alle und zu jeder Zeit da war. „Wirket!“ sagte das Gesetz, „wirken“ mußte man auch an diesem Teiche, d. h. sich abmühen, der erste zu sein; aber der Herr sagt: „Ich wirke“. (Joh 5,16f). Wie hätte Sein gnädiges Wirken nun durch den Sabbat, den Er Selbst „um des Menschen willen“ gegeben hatte (Mk 2,27ff)., irgendwie gehemmt werden können? Aber gerade in diesem Evangelium sehen wir die Juden ängstlich darauf bedacht, Ihn des Bruches dieses Gebotes zu überführen9. Doch für die Zeichen, durch die Er „Seine Herrlichkeit offenbarte“, dafür hatten sie keine Augen.
In Kapitel 6 finden wir das Passah, in Kapitel 7 das Laubhüttenfest, Anfangs- und Endpunkt der Festreihe des heiligen Jahres. Wohin war es mit diesen göttlichen Verordnungen gekommen? „Dieses Volk ehrt Mich mit den Lippen, aber ihr Herz ist weit entfernt von Mir“ (Mt 15,8) - und darum kann Sich der Herr auch nicht mit ihren Festen eins machen; es waren, wie es immer wieder in diesem Evangelium heißt, die „Feste der Juden“10. Er tritt an die Stelle dessen, was dieses Volk so völlig verkannt und verdorben hatte.
Mit dem Passah, wie gesagt, begann das heilige Jahr; es war für die jüdische Nation gleichbedeutend mit Errettung und Leben. In der Nacht, in der der Würgengel durch das Land Ägypten ging, als da „kein Haus war, worin nicht ein Toter war“, saßen die Kinder Israel, geschart um das Lamm und sich nährend von dem Lamm, gedeckt durch das Blut in völliger Sicherheit vor dem Gericht in ihren Häusern, und der Engel des Todes ging an ihnen vorüber (2Mo 12,11-13). Aber nur nebenbei, wenn auch gewiß nicht ohne Absicht, wird hier in Kapitel 6 das Passah erwähnt; denn nun war Er da, nicht nur, um ihnen, wie Er es bei der Speisung der 5000 tat, Brot zu geben, nein - Er war Selbst das „wahrhaftige Brot“, das „Brot des Lebens“ (Joh 6,5ff.32.35). Und, anspielend auf Seinen Opfertod, fügt Er hinzu: „Wer Mein Fleisch ißt und Mein Blut trinkt, hat ewiges Leben.“ (Vers 54).
Wie ungeheuerlich mußten solche Worte in den Ohren der Juden klingen, die den Sinn dieser Heilandsworte nicht verstanden, aber doch in äußerer Rechtgläubigkeit auf dem Boden der göttlichen Verordnungen verharrten, die den Genuß von Blut verboten! Der Unglaube „stieß sich an dem Worte“ (1Pet 2,8) und fand „diese Rede hart“; der Glaube sah die „Kostbarkeit“ (ebenda V. 7) und ging ein in das Neue. „Von da an gingen viele Seiner Jünger zurück und wandelten nicht mehr mit Ihm.“ Nur ganz wenige gaben auf die Frage des Herrn: „Wollt ihr etwa auch weggehen?“ zur Antwort: „Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens!“ (Joh 6,60ff). Wohl denen, die heute in allen harten Glaubensproben nicht anders reden und handeln! -
Das Fest der Laubhütten (Kap. 7) sollte das Volk an die überstandene Wüstenreise erinnern; es war ein Fest der Freude.
Redete das erste der Feste, das Passah, von Errettung und Leben, so dieses von Herrlichkeit, von den reichlich strömenden Segnungen des verheißenen Reiches. Aber der Herr sagt zu Seinen Brüdern, die nicht an Ihn glaubten: „Gehet ihr hinauf zu dem Feste; Ich gehe nicht hinauf zu diesem Feste.“ Aber dann ging Er später „hinauf in den Tempel und lehrte“ (Kap. 7,3ff.14). Es klingt völlig uninteressiert; es zeigt Seine Absonderung von diesen Dingen. - Doch was war das? „An dem letzten, dem großen Tage des Festes, aber stand Jesus und rief und sprach: Wenn jemand dürstet, so komme er zu Mir und trinke!“ (Vers 37ff). Wunderbarer Augenblick, als da plötzlich, während vielleicht gerade der Priester das in feierlicher Prozession aus dem Teiche Siloam geholte Wasser am Altar ausgoß - ein Bild jener Segnungen -, als da plötzlich die Stimme eines Größeren erklang und alles mit Seiner laut hinausgerufenen Gnadenbotschaft übertönte! Er trat an die Stelle des Festes; sobald Er verherrlicht sein würde, sollten „die an Ihn Glaubenden den Geist empfangen“ (Vers 39), sobald der Fels geschlagen war, sollte Wasser aus ihm hervorkommen, genug, um alle Dürstenden zu tränken.
Doch was war der Erfolg? Mochten etliche auch sagen: „Dieser ist der Christus“, oder: „Niemals hat ein Mensch so geredet wie dieser Mensch!“ - der Unglaube blieb unberührt und rief: „Forsche und sieh, daß aus Galiläa kein Prophet aufsteht.“ Und sie suchten Ihn zu greifen. (Vers 30.41.44.46.52).
Immer schärfer wird der Gegensatz, der Widerstreit der ins Grab sinkenden alten und der wie die Sonne in ihrer Pracht aufsteigenden neuen Haushaltung. Die Juden verwerfen sowohl Sein Wort (Kap. 8,31ff). wie auch Seine Werke, mit denen Er ihre von Geburt an blinden Augen auftun wollte (Kap. 9). Da gab Er den Hof der Schafe auf, d. i. Israel, und führt Seine Schafe hinaus - in das Neue, in die Freiheit. Er verheißt ihnen ewige Sicherheit, weil „Er und der Vater eins waren“. (Kap. 10). „Da suchten sie wiederum Ihn zu greifen, und Er entzog Sich ihrer Hand.“ (Vers 39 wörtl). „Meine Seele wurde ungeduldig über sie, und auch ihre Seele wurde Meiner überdrüssig.
Da sprach Ich: Ich will euch nicht mehr weiden; was stirbt, mag sterben, und was umkommt, mag umkommen.“ (Sach 11,8f). Alle Seine vielen und geduldigen Bemühungen waren umsonst gewesen. „Und Er ging wieder weg.“ (Vers 40). Er begab Sich wiederum in das Land jenseit des Jordan, wie wir zu Anfang sahen, außerhalb Judäas, kehrte unverrichteter Dinge an Seinen Ausgangspunkt zurück, „an den Ort, wo Johannes zuerst taufte“, und „blieb daselbst“, offenbar in der Absicht, das dreieinhalb Monate später stattfindende Passahfest - das, auf dem Er sterben sollte - abzuwarten. Mochten auch „viele zu Ihm kommen“, und mochten sie anerkennen, daß „alles wahr war, was Johannes von Diesem gesagt hatte“, dort in derselben Gegend, an demselben Ort, mochten sogar „viele daselbst an Ihn glauben“ (Vers 41f). - von Seinem Volke als solchem war Er verworfen. „Bethanien jenseit des Jordan“ ist der Schauplatz Seiner endgültigen Abkehr von diesem Volke geworden.
Die Zeit dieser letzten Verborgenheit im Ostjordanlande wird unterbrochen. Eine Botschaft gelangt an Ihn, sie ist nur kurz, aber sie trifft Sein Herz: „Herr, siehe, der, den Du lieb hast, ist krank.“ (Kap. 11,3).
Wir wissen wohl alle ohne Ausnahme, wer das war und wie diese Krankheit ausging; daß es Lazarus, der Bruder der Maria und Martha, war, dort in dem anderen Bethanien. Auch daß dieses Dorf am Fuße des Ölbergs lag, nur „etwa fünfzehn Stadien“ von Jerusalem entfernt, was ja den Thomas zu dem bekannten Ausspruch veranlaßt hat: „Laßt auch uns gehen, auf daß wir mit Ihm sterben!“ (Vers 16).
Aber zunächst bleibt Jesus „noch zwei Tage an dem Orte, wo Er war“ (Vers 6), obwohl Er wußte, daß Er, menschlich gesprochen, zu spät kommen mußte. Rätselhaft sind Seine Worte, bis Er ihnen geradeheraus sagt: „Lazarus ist gestorben; und Ich bin froh um euretwillen, daß Ich nicht dort war, auf daß ihr glaubet.“ (Vers 14f). Was ist der Zweck dieses absonderlichen Handelns, der Sinn dieser merkwürdigen Rede? „Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern um der Herrlichkeit Gottes willen, auf daß der Sohn Gottes durch sie verherrlicht werde.“ (Vers 4).
Aus der verborgenen Zurückgezogenheit des einen Bethanien führt Ihn die Botschaft der Schwestern zu dem anderen hin, noch einmal mitten unter Seine Feinde, um dort Seinen Wundern und Zeichen das größte hinzuzufügen, das Er je getan hat: Ein schon vier Tage im Grabe liegender, schon der Verwesung anheimgefallener Toter wird auferweckt vor den Augen der Seinen, die schon irrewerden und „mit Ihm sterben“ wollten, vor den Augen der vielen Juden, die aus Jerusalem herübergekommen waren! (Vers 18f.45). Wir unterschätzen die Tragweite dieses Ereignisses oft - wie der Glaube der Seinen gestärkt (Vers 15), wie, wenn auch alles zur Entscheidung trieb, doch der Sohn Gottes dadurch verherrlicht wurde (Kap. 12,28b). Die „sehr kostbare Narde“ der Maria, das Hosianna der Menge, das Sehnen der Griechen, Ihn zu sehen, noch ehe die letzte, unerläßliche Bedingung dazu erfüllt war - das sind nur einige der Früchte, die aus jenem Geschehen hervorkamen. (Kap. 12).
So ging Sein Weg von tiefster Enttäuschung zu einem wunderbaren Sieg, von schmählicher Verwerfung zu göttlicher Herrlichkeit - auf dem Wege von dem einen Bethanien zum anderen.
Und wie Sein Weg, so wird auch der unsere sein.
F. v. Ki.
8 So ist der Name des Ortes mit den meisten allen Handschriften zu lesen.↩︎
9 Vgl. Kap. 5,9f.; 5,16.18; 7,22f.; 9,14.16; 19,31.↩︎
10 So Joh 2,13; 5,1; 6,4; 7,2; 11,55. - Vgl. die teilweise schon genannten Stellen Kap. 2,6 (Reinigung der Juden); 3,1 (Oberster der Juden); 19,21 (Hohepriester der Juden); 19,42 (Rüsttag der Juden).↩︎