Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 5 -Jahrgang 1917
Gal 4,16 ; 2Joh 1 ; Eph 4,15 - „Eine schmerzliche Frage“Gal 4,16 ; 2Joh 1 ; Eph 4,15 - „Eine schmerzliche Frage“
Bin ich euer Feind geworden, weil ich euch die Wahrheit sage? Gal 4,16.
Wieviel Schmerz liegt in diesen Worten! Wie hatten sich die Gemeinden in Galatien verändert! Die Herzen, die einst so innig für den Apostel schlugen, waren kalt geworden. Einst war die Schwachheit des Fleisches, in der er ihnen das Evangelium verkündigte, kein Hindernis für ihre Liebe gewesen; sie hatten ihn nicht (wie jetzt) verachtet, sondern wie einen Engel Gottes, wie Christum Jesum, den er ihnen brachte, hatten sie ihn aufgenommen.
So sollte es sein. Mit Recht lieben wir die, die uns das errettende Evangelium bringen. Es ist eine Verwirklichung des Wortes: Wie lieblich sind die Füße derer, welche das Evangelium des Friedens verkündigen. (Röm 10,15) Ach, wie bald wandten sie sich ab von dem, der ihnen die Wahrheit brachte! Und was der Apostel hier von den Galatern erlebte, ähnliches erfuhr er auch in Korinth, und solche betrübenden Erfahrungen bleiben den Dienern des Herrn auch heute nicht erspart.
Paulus gedenkt und erinnert die Galater an ihre frühere Freude und Glückseligkeit, wie ihre Liebe zu ihm so groß war, daß sie, wenn es möglich gewesen wäre, ihre Augen für ihn ausgerissen hätten. Sie hatten im Guten geeifert, als er gegenwärtig war (V. 18), aber während seiner Abwesenheit hatte sich alles verändert. Einen herzerquickenden Gegensatz finden wir bei den Philippern. Diesen konnte er schreiben, daß „sie nicht allein in seiner Gegenwart, sondern jetzt vielmehr in seiner Abwesenheit“ ihr Glaubensleben führten (Phil 2,12). Und welche hingebende Liebe finden wir bei ihnen für den Apostel! (Phil 4,15-20)
Was war die Ursache dieser traurigen Veränderung bei den Galatern? Hatte Paulus verkehrte Dinge gelehrt oder seine Stellung ihnen gegenüber oder zur göttlichen Wahrheit verändert? O nein, nicht er hatte sich verändert, aber sie hatten ihr Ohr falschen Lehren und Lehrern geöffnet und sahen in ihm nun einen Feind. Und warum?
Weil er ihren Dingen nicht beistimmte und ihnen die Wahrheit sagte.
Die Wahrheit ist nicht allein dem Ungläubigen zuwider, weil sie (allem Falschen entgegen) Herz und Wege aufdeckt, sondern auch dem Gläubigen, wenn er verkehrte Dinge liebt. Wahrheit deckt uns auf. Sie ist das Licht, welches unsere Wege, unseren Willen, unser Herz offenbar macht. Dies ist dem Fleische nicht angenehm, und deshalb grollt man denen, die die Wahrheit sagen.
Die obige schmerzliche Frage des Apostels zeigt uns deutlich diese ernste Tatsache, und wir wollen sie recht ins eigene Herz fassen. Wenn die Wahrheit uns unbequem ist und wir sie übelnehmen denen, die sie uns sagen, dann ist bei uns etwas nicht in Ordnung und wir tun gut, Herz und Wege zu prüfen.
Wie ernst ist es, wenn Kinder Gottes wohl Wahrheiten lieben, aber nicht die volle, die ganze Wahrheit. Solche „widerspenstigen Kinder“, die „Seinen Mund nicht befragt haben“ - „betrügerische Kinder“ - die „das Gesetz Jehovas nicht hören wollen“, diese möchten, daß die Propheten und Diener des Herrn ihre Augen zumachen. Diese sagen: „Sehet nicht“ - „schauet uns nicht das Richtige“ - saget uns Schmeicheleien“, oder nach anderen Übersetzungen: „Gebet uns glatte Worte“ - „predigt uns sanft“. (Jes 30).
Alle Feindschaft von Kains Tagen an floß aus dieser Quelle der Ablehnung der Wahrheit. Deshalb „tötete Jerusalem die Propheten und steinigte, die zu ihr gesandt sind“. Deshalb mußte Stephanus sterben und weinte der Herr über Jerusalem. Und so ist es geblieben bis auf den heutigen Tag.
Neigt sich unser Herz zur Welt, geben wir den Pfad der Absonderung auf, finden wir Gefallen an unseren Plänen und Wegen, ziehen Selbstliebe, Selbstzufriedenheit,
Selbstbewußtsein in unser Herz ein, so wird die Wahrheit uns nicht munden, und wir rufen wie einst Israel: Weissage uns angenehme Dinge - predigte uns sanft!
Möge der Herr uns vor solchem Zustand bewahren! Die Gefahr ist groß und für uns alle ohne Unterschied da. Können wir dem erforschenden Auge Gottes standhalten und sagen: „Du weißt, daß ich nicht schuldig bin“? (Hiob 10,7) oder ist das Gebet Davids: „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken! Und siehe, ob ein Weg der Mühsal bei mir ist, und leite mich auf dem ewigen Wege!“(Ps 139,23.24) auch unser Herzensgebet? Dann ist Wahrheit uns willkommen, dann wünschen wir unser Unrecht zu sehen, und ohne Schonung legen wir das scharfe Steinmesser an unser Fleisch (Josua 5,2-9). Dann sehen wir in dem, der uns die Wahrheit sagt, nicht einen Feind, sondern den wahren Freund, den Diener Dessen, der Sich Selbst für uns hingegeben hat, auf daß Er uns heilige und reinige durch die Waschung mit Wasser durch das Wort (Eph 5,25.26). Solche Reinigung mag Schmerz, Verlust, Erniedrigung - Entsagung für uns bedeuten, aber wir werden die Gemeinschaft mit dem Herrn, Seine Liebe und Sein Wohlgefallen darin finden und genießen.
Paulus sagte den Galatern die Wahrheit, nicht weil er ihr Feind geworden, sondern weil er sie liebte. Das ist die rechte, die göttliche Bruderliebe, die den Bruder „liebt in der Wahrheit“. (2Joh 1; 3Joh 1) Aber nicht nur bekannte er ihnen die Wahrheit aus Liebe, sondern auch „in Liebe“ (Eph 4,15). Das sind zwei wichtige Dinge, möchten wir sie lernen und ausüben!
Die Schrift spricht von zweierlei Liebe, von der menschlichen, „natürlichen“ Liebe (Röm 1,31; 2Tim 3,2) und der göttlichen „Liebe Gottes“, die in unser Herz ausgegossen ist durch den Heiligen Geist. (Röm 5,5) Beide sind ganz verschieden in ihren Trieben. Die eine liebt dem Menschen gemäß, die andere Gott gemäß. „Natürliche“ Liebe kann über Böses die Augen zumachen, nicht aber göttliche Liebe. Sie kann über Unrechtes in der Lehre oder im Wandel nicht hinwegsehen, denn sie „liebt“ den Bruder „in der Wahrheit“ (2Joh 1; 3Joh 1.8
Konnte Paulus die Galater „lieben in der Wahrheit“ und zugleich schweigen, als die Wahrheit auf dem Spiele stand? (Gal 2,5) Johannes sagt: „Dies ist die „Liebe Gottes“, daß wir Seine Gebote halten“, (1Joh 5,3) konnte Paulus schweigen, als sie den Gehorsam gegen die Wahrheit aufgaben? (Gal 5,7) So „unverständig“ waren sie, ja „bezaubert“ vom Satan, im Fleische vollenden zu wollen, was im Geiste angefangen war. (Gal 3,1-3) Wohl mochte die Wahrheit nicht gewünscht und die Eintracht gestört werden, aber göttliche Bruderliebe konnte da nicht stille sein. Paulus kann nicht ruhen, „bis Christus in ihnen gestaltet ist“ und sie zum Gehorsam und zur Wahrheit zurückgeführt sind.
Und heute? Wie viele „unverständige Galater“ sind unter den Kindern Gottes, die „bezaubert“ vom Satan im Fleische das Werk des Geistes vollführen wollen. Wo sind die Brüder, die in göttlicher Bruderliebe solchen Dingen nicht „durch Unterwürfigkeit nachgeben, auf daß die Wahrheit des Evangeliums verbleibe.“ (Gal 2,5) Mit welcher Entschiedenheit und heiligem Ernste trat Paulus ihnen auf dem verkehrten Wege entgegen! Worte wie Gal 1,6-10 würden Tausende in seelischer Liebe „eine harte Rede“ nennen, aber nicht Härte spricht darin, sondern „Liebe Gottes“, die den Bruder „liebt in der Wahrheit“.
In der menschlichen, natürlichen Liebe zum Bruder mag ein Kind Gottes den Gefühlen seines Herzens folgen und über Dinge, die der Wahrheit widersprechen, hinwegsehen und gehen, aber die göttliche Liebe, die durch den Heiligen Geist in uns ist, kann solches nicht, sie ist gebunden an die Wahrheit. Nach dieser (Seiner) Liebe handelt Gott mit uns. Auch Er kann nicht schweigen und hinwegsehen, wenn wir mit Seinem Worte in Widerspruch sind. Er liebt uns in der Wahrheit, und auf Schmerzenswegen oft muß Er mit uns reden, ja uns unsere Götzen zerschlagen.
Das ist nicht göttliche Liebe, wenn wir aus Liebe zu Brüdern, um nicht die Eintracht zu stören, Reinheit der Lehre, Absonderung vom Bösen und was sonst „der gesunden Lehre zuwider ist“ preisgeben - oder doch darüber hinwegsehen. Tun wir solches, so zeigen wir nur, daß uns Brüder, ungestörte Einigkeit usw. höher und wichtiger sind, als Gehorsam gegen den Herrn. Liebe „in der Wahrheit“ kann nicht Gefühlen folgen und Einigkeit höher stellen als das Zeugnis Christi, kann nicht Christen vor Christus, Brüder vor den Herrn und Einheit vor die Wahrheit stellen. Solche Liebe, die Heiligkeit oder Wahrheit opfern kann, ist fleischliche, natürliche Liebe, aber nicht „Liebe Gottes“. Bruderliebe „in der Wahrheit“ kann nichts von der Wahrheit opfern.
So wichtig es ist, die Wahrheit festzuhalten, so darf doch darin die Liebe nicht fehlen. Ohne sie ist alles Eintreten dafür leer und kraftlos. Paulus ermahnt, „die Wahrheit festhaltend in Liebe“ zum Haupte heranzuwachsen. (Eph 4,15)
Manche meinen nun, dies heiße, die Wahrheit in „süße Worte und schöne Reden“ (Röm 16,18) so einzuhüllen, daß niemand durch sie verletzt werde. Das aber meint Paulus nicht, denn er selbst wickelte das „scharfe, zweischneidige Schwert“ des Wortes (Heb 4,12) nicht in Lappen schöner Worte. Er führte das Schwert so, daß es „durchdrang bis zur Scheidung von Seele und Geist“ (Heb 4,12). Seine Praxis war, unverblümt die Wahrheit zu sagen, und doch ließ er sich nicht hernieder zum Schimpfton noch zu Schmäh- oder Spottworten. Solche durchdringen nicht das Herz, sie verschließen nur, lenken ab und schwächen das Wort. Möchten wir uns vor jedem Ton bewahren lassen, der nicht würdig ist dem Worte des Herrn. Nie hielt Paulus sich lange bei den verkehrten Lehren und Dingen auf, um so eingehender aber unterwies er die Gläubigen in der „gesunden“ Lehre. (1Tim 1,10; 2Tim 1,13; 4,3; Tit 1,9.13; 2,1)
Mit welchem Ernst Paulus auch den Galatern „die Wahrheit sagte“, er verband doch die persönliche Liebe damit: „Meine Kindlein, um die ich abermals Geburtswehen habe, bis Christus in euch gestaltet worden ist.“ (Gal 4,19) Wieviel Liebe klingt aus diesen Worten. Sein Herz liegt darin.
Laßt uns dies von dem Apostel lernen, aus dem Herzen der Liebe die Wahrheit zu sagen. Möchten unsere Worte nie das kalte, lieblose Herz zeigen (das der Wahrheil die Kraft raubt), sondern das liebende Herz, welches wie Paulus die Irrenden und „Unverständigen“ trägt, wie eine Mutter sorgend ihr Kindlein unter dem Herzen trägt und in Geburtswehen ist, „bis Christus in ihnen Gestalt gewinnt“. (Gal 4,19)
Warum hat das Wort der Wahrheit oft so wenig Kraft? Müssen wir nicht mit Beschämung bekennen, weil, was wir sagten, wohl richtig war, aber nicht, wie wir es sagten. Dieses „Wie“ zeigt die Liebe, das Herz, welches die Art und Weise - den Ton zu finden weiß, der, ohne die Schärfe der Wahrheit zu schwächen, den Weg zum Herzen findet.
Wo fand Paulus - wo finden wir die Kraft, mit solcher sorgenden Mutterliebe die zu tragen und zu lieben, die uns verachten und für Feinde halten? Wo anders als in der Liebe Dessen, der uns so geduldig trägt, der uns nachging, als wir Ihn verachteten. Besitzt Er unser Herz, so gehört es auch allen denen, die Er liebt (1Joh 5,1). Möchte Seine Liebe die uns bewegende Kraft sein, die Brüder „zu lieben in der Wahrheit“ und die Wahrheit zu bekennen „in Liebe“. Der Herr schenke es uns!
8 Man lese und beachte aufmerksam, welchen Platz und Zusammhang in dem 2. und 3. Johannesbrief das Wort „Wahrheit“ hat. Man wird dann verstehen, welch tiefe Bedeutung in dem Ausdruck liegt, die Brüder zu „lieben in der Wahrheit“, und daß es sich nicht um eine leere Bekräftigung der Wirklichkeit seiner Liebe handelt.↩︎