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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 23 - Jahrgang 1938
Ps 22 – Ein einzig dastehender Psalm (Bemerkungen über Psalm 22)Ps 22 – Ein einzig dastehender Psalm (Bemerkungen über Psalm 22)
Dieser einzig dastehende Psalm besteht aus zwei Hauptteilen. Während der erste uns in tief ergreifender Weise prophetisch die Gefühle des Herrn Jesus unter dem Leiden des Kreuzes schildert, redet der zweite von Seiner Erhörung und Erhöhung und beschreibt deren herrliche Folgen.
Aus mehreren Gründen ist dieser Psalm ein sehr klarer Beweis für die göttliche Inspiration der Schrift. Zum ersten schildert er bis ins einzelne die schrecklichen körperlichen Qualen des Kreuzesleidens. Zum anderen erwähnt der Dichter besondere Ereignisse der Kreuzigung Jesu; und zum dritten beginnt der Psalm mit einem Ausruf, der wörtlich am Kreuze geschehen ist. David, der Dichter dieses ergreifenden Liedes, war sicherlich nicht über die entsetzlichen Kreuzesleiden unterrichtet, da diese grausame Todesart in jener Zeit wohl unbekannt war in Israel, aber der Heilige Geist inspirierte ihn zum Gebrauch von Ausdrücken, die buchstäblich auf das Kreuzesleiden zutreffen.
Durch die sich entzündenden Wunden und infolge der unnatürlichen Haltung, in der der Gekreuzigte der versengenden Hitze einer morgenländischen Sonne ausgesetzt ist, verdorrt die Körperkraft. Es ist, als ob das Leben langsam wegfließe: „Wie Wasser bin ich hingeschüttet“ (V. 14); das Knochengerüst wird gleichsam ausgerenkt. „Alle meine Gebeine haben sich zertrennt“ - „alle meine Gebeine könnte ich zählen“ (V. 14.17); der Blutkreislauf wird gestört und die Tätigkeit des Herzens beeinträchtigt, was eine namenlose Angst zur Folge haben mußte: „Wie Wachs ist geworden mein Herz, es ist zerschmolzen inmitten meiner Eingeweide“ (V. 14); ein brennender Durst quält den Gekreuzigten: „Meine Kraft ist vertrocknet wie ein Scherben, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen“. (V. 15).
Charakteristische Einzelheiten der Kreuzigung teilen die Verse 16 und 18 mit: „Sie haben meine Hände und meine Füße durchgraben.“ „Sie teilen meine Kleider unter sich, und über mein Gewand werfen sie das Los.“ Die Verse 5-8, 11-13, 16-18 stimmen, was die Verspottung durch das Volk und seine Obersten betrifft, auffallend mit der Schilderung in den Evangelien überein. (Vgl. Mt 27,39-43).
Im ersten Teil von Psalm 22 läßt der Heilige Geist uns einen Blick in das Herz Dessen tun, der für uns am Kreuze litt. Wie tief hat Er, der wahrhaftiger Gott und wahrhaftiger Mensch war, all das Leid, das über Ihn kam, gefühlt! Nicht nur das größte und bitterste, nämlich von Gott verlassen zu sein, hat Seine Seele gequält, sondern auch der Spott, die Verteilung der Kleider, ja, alles hat Ihn tief geschmerzt, und Er klagt es Seinem Gott.
Und wir - wir waren nicht besser als die, die Ihn kreuzigten! - wir haben durch unsere Sünden all das Leid über Ihn gebracht. Wie ergreifend, daß Er wohl Seine Klage über uns vor Gott ausschüttet, aber uns nicht bei dem Richter verklagt! Als Folge Seines Leidens finden wir nur Segen. Die Ursache ist wohl, daß hier nicht wie anderswo, z. B. in Psalm 69, das Leiden von seiten der Menschen der Hauptgedanke ist, wofür dann das Gericht über die Feinde ausgesprochen wird. Hier ist es Gott Selbst, der Ihn in den Staub des Todes legt. Er richtet den Gerechten, damit der Sünder frei ausgehen kann. Deshalb ist der Schluß des Psalms überströmender Segen, und nichts anderes.
Mit der zweiten Hälfte des 21. Verses beginnt der zweite Hauptteil. Der, welcher verlassen war und keine Antwort empfing, kann jetzt, nachdem das Werk vollbracht ist, jubeln über Gottes Rettung. Nachdem Er erhört ist von den Hörnern der Wildochsen15, will Er Gottes Namen verkündigen Seinen Brüdern und Ihn loben inmitten der Gemeinde.
Es ist äußerst interessant, einen Vergleich anzustellen zwischen den beiden Hauptteilen dieses Psalms.
Im ersten Hauptteil finden wir das Leiden des Herrn in vier Versgruppen beschrieben, jedoch nicht in zeitlicher, sondern in sittlicher Reihenfolge. Das größte und tiefste Leiden wird zuerst genannt.
Vers 1-5: Jesus ist von Gott verlassen.
Vers 6-11: Jesus ist verworfen durch Sein Volk. Alle haben Ihn verlassen, und „kein Helfer ist da“.
Vers 12-15: Jesus ist verworfen durch die Obersten der Juden („Farren, Stiere von Basan“). Er klagt über das schreckliche körperliche Leiden des Kreuzes.
Vers 16-21, 1. Hälfte: Von den Heiden umgeben, hängt Jesus, ans Fluchholz genagelt, zwischen Übeltätern, ein Gegenstand des Spottes und der Verachtung. Satan (der „Löwe“, V. 21), Sein großer Widersacher, möchte Ihn verschlingen.
Diesen vier Versgruppen des ersten können wir ebenso viele Versgruppen des zweiten Hauptteils gegenüberstellen, in denen wir gleichsam eine jubelnde Antwort auf die Klagen in den ersten vier Versgruppen haben.
Vers 21, 2. Hälfte - 24: Jesus ist von Gott erhört.
Vers 25 und 26: Jesus lobsingt Gott inmitten der „großen Gemeinde“.
Vers 27-29: Sogar die Heiden werden sich bekehren und in Seinem Königreich gesegnet werden.
Vers 30 und 31: Ein Same wird sich vor dem Herrn beugen und Seine Gerechtigkeit verkündigen.
In Vers 1-5 ist Jesus ganz allein, von allen, auch von Gott Selbst, verlassen. In den Versen 21, 2. Hälfte, bis 24 dagegen sehen wir Ihn, von Gott erhört, „inmitten der Gemeinde“. Wie schön ist es, daß Er, der als unser Stellvertreter, als der Sündenträger von Gott verlassen war und „für alles den Tod schmeckte“, unmittelbar nach Seiner Erhörung nicht an Sich Selbst noch an Seine Herrlichkeit denkt, sondern an die, die Er erlöst hat, und die Er nun Seine Brüder nennt!
In den Versen 6-11 (bzw. 4-11) sehen wir den wahren Israeliten, der von Seiner Geburt an Sein Vertrauen auf Gott setzt, der zu Seinem eigenen Volke kam, aber von diesem Volk verstoßen wurde. Keiner ist da, der Ihm hilft in Seinen bitteren Leiden. In den Versen 25 und 26 finden wir Ihn inmitten Israels, in „der großen Gemeinde“ des Tausendjährigen Reiches, denn dann wird „ganz Israel errettet werden“.
In der dritten Versgruppe (12-15) des ersten Teiles klagt der König Israels, der Löwe aus dem Stamme Juda, daß auch die Obersten Seines Volkes Ihn verworfen haben. Wie reißende und brüllende Löwen, aufgehetzt von Satan (dem Löwen von V. 21), umgeben sie Sein Kreuz, wo Er, der Fürst des Lebens, auch für sie von Gott in den Staub des Todes gelegt wurde (V. 15). Demgegenüber finden wir den Herrn in den Versen 25 und 26 als den Führer, den Mittelpunkt der „großen Gemeinde“, Gott preisend. Nicht die „reißenden und brüllenden Löwen“, sondern die „Sanftmütigen“ werden essen und satt werden, und während wir Jesus in Vers 15 in den Staub des Todes gelegt sehen, kann Er in Vers 26 von Seinen Erlösten bezeugen: „Euer Herz lebe immerdar.“
In der vierten Versgruppe des ersten Hauptteils finden wir in den Versen 16-20 Jesus von den Heiden umgeben und verspottet. In der dritten Versgruppe des zweiten Hauptteils (Verse 27-29) aber wird darauf hingewiesen, daß Jehova König ist und daß auch die Heiden sich bekehren und Ihn anbeten werden. Ja, alle, die in den Staub hinabfahren, werden sich vor Seinem Angesicht niederbeugen müssen.
In den Versen 20 und 21, 1. Hälfte, endlich werden der Mensch und Satan als die Widersacher Christi genannt. Im Schlußteil (V. 30 und 31) dagegen beugen die Erlösten sich vor Ihm: „Ein Same (hier nicht der Same Jakobs oder der Same Israels, sondern allgemein: ‚ein Same‘) wird Ihm dienen.“ Satan suchte Ihn zu zerschmettern, aber Jesus tritt als der Überwinder, als Der, der das Werk vollbracht hat („daß Er es getan hat“), vom Kampfplatze ab. Wurde Er von Menschen ans Kreuz genagelt und als Übeltäter behandelt, hier wird bezeugt, daß Seine Gerechtigkeit verkündigt werden wird. Nicht nur wird das vorhandene Geschlecht Ihm dienen, sondern auch „ein Volk, das geboren wird“, soll von Seinem Werke hören und Ihn loben!
N. A. J. V.
15 „Wildochs“ ist in der Schrift ein Bild der Stärke und Kraft. (Vgl. Hiob 39,9-12; 5. Mose 33,17; 4. Mose 23,22; 24,8).↩︎