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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 11 -Jahrgang 1926
Lk 4,15-22 - „Falsche Weichenstellung“Lk 4,15-22 - „Falsche Weichenstellung“
Eine Umstellung der Weiche - und ohne daß der Reisende es merkt, wird seiner Fahrt eine andere Richtung gegeben. So wichtig die Weiche für die rechte Fahrtrichtung ist, so verhängnisvoll ist sie bei einer falschen Stellung. Wieviel Unheil ist schon dadurch geschehen!
Eine falsche Weichenstellung kann aus Versehen, aus Unwissenheit, aber auch bewußt in verbrecherischer Absicht geschehen. In allen Fällen ist aber das Resultat das gleiche: Unheil.
Auch auf geistlichem Gebiet finden wir, in diesem Bilde gesprochen, solche falschen Weichenstellungen. Ob solche bewußt oder unbewußt geschehen, immer steht der Verderber, der Satan dahinter. Er ist ein sehr geschickter Weichensteller und vollführt sein Werk, ohne daß der „Reisende“ bemerkt, daß er auf ein falsches Geleise geführt wird, in verkehrter Richtung dahinfährt und um die Erreichung des rechten Zieles, des Lobes seines Herrn, gebracht wird.
Der Herr war in Nazareth. Sein Mund hatte gute Botschaft verkündigt, und die Worte der Gnade waren nicht ohne Wirkung auf die Herzen der Hörer geblieben. Er hatte den Gefangenen Freiheit verkündigt, aber der Feind wollte seine Gefangenen nicht ziehen lassen. Er wußte besser als diese, daß, wenn die Worte des Herrn in ihren Herzen wirken und Aufnahme finden, sie seiner Gefangenschaft entrinnen und zur Freiheit gelangen würden. Wollte er dieses verhindern, so mußte er die Herzen der Hörer und ihre
Gedanken nach einer anderen Richtung ablenken und so den Worten des Herrn die Kraft nehmen.
Um dieses zu tun, legte er gleichsam die Hand an den Hebel, stellte die Weiche um und leitete den Zug ihrer Gedanken auf ein anderes Geleise - auf das Geleise: „Ist dieser nicht der Sohn des Zimmermanns? Heißt Seine Mutter nicht Maria? Ist dieser nicht ein Bruder des Jakobus und Joses und Judas und Simeons? Sind nicht Seine Schwestern hier bei uns? Woher diesem diese Weisheit?“ Das war die Weiche, durch die er ihre Gedanken auf ein falsches Geleise brachte und von der Botschaft der Gnade ablenkte. Nicht mehr das Wort des Herrn und ihre Befreiung, sondern die Niedrigkeit Seiner Person beschäftigte ihre Herzen. Die Sache, um die es sich handelte, war ganz ihrer Beachtung entrückt.
Genau so wie in Nazareth, als der Herr Selbst die frohe Botschaft verkündigte, macht der Feind es heute noch. Haben wir es nichts oft gesehen, wenn Worte der Gnade geredet, den Gefangenen Befreiung verkündigt und die Wirksamkeit des Geistes verspürt wurde, daß der Feind dann die Praxis von Nazareth wiederholte und die Gedanken der Hörer von der Botschaft ab- und auf die rang- und titellosen Knechte des Herrn hinlenkte? Oder wie er sie mit Sakramenten, Traditionen oder mit anerkanntem Männern der Wissenschaft beschäftigte? Nur, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben und so das Wort kraftlos zu machen und den Segen zu vereiteln.
Solche Weichenstellerkünste übt er aber nicht allein bei der Verkündigung des Evangeliums aus, wenn es sich um die Bekehrung der Ungläubigen, sondern auch, wenn es sich um den Wandel und die treue Stellungnahme der Gläubigen nach dem Worte der Wahrheit handelt. Und leider, bewußt und unbewußt, tun oft selbst Gläubige ihm Weichenstellerdienste.
Ich will nur einige wenige Beispiele aus dem Leben nehmen. Da sind die Einsetzungen, die der Herr uns für die Zeit Seiner Abwesenheit hinterlassen hat: Taufe und Abendmahl. Was aber hat der Mensch daraus gemacht. Wieviel verkehrte Dinge, wieviel falsche Lehren, wieviel Philosophie hat er damit verbunden! Und doch ist Sein Wort darüber so klar und einfach, daß, wenn jemand Seinen
Willen tun will, der Herr sagt: „Der wird wissen, ob die Lehre aus Gott ist“. (Joh 7,17).
Geschickt aber lenkt der Feind die Herzen von der Einfachheit des Wortes ab und zu den Lehren der Menschen hin; oder er richtet ihren Blick auf Männer, die Gott zu großen Dingen in Seinem Werke gebrauchte, die aber in dem einen oder anderen Stück hinter dem Worte zurückblieben. Wenn er sonst auch den Blick nicht auf Knechte Gottes richtete, um ihren Wandel anzuschauen, aber in ihrem Zukurzkommen sind sie ihm ein willkommenes Vorbild und dienen sie ihm als Weiche, um den Blick von dem Worte des Herrn wegzuleiten.
Bei solchen armen irregeleiteten Seelen findet man die Rede: „Wenn solche großen Männer diese Dinge nicht erkannten oder nicht den geraden Weg nach der Wahrheit wandelten: Wer sind dann wir?“ Diese Weiche ist so in den Mantel der Demut versteckt, daß solche Seelen gar nicht merken, wie der Feind durch diesen Ablenkungskniff Brüder vor den Herrn und Menschenwort vor Gottes Wort stellt. Möchten doch alle die, welche die Augen der Wahrheitsuchenden auf Menschen richten, sich bewußt werden, daß sie damit dem Feinde traurige Weichenstellerdienste tun!
Wir alle müssen von Menschen gelöst werden, auch wenn sie Kinder Gottes sind. Wie recht hatte David, wenn er (wie Luther übersetzt) sagt: „Große Leute fehlen auch“ (Ps 62,9) (oder nach der Miniaturbibel): „Große Herren trügen auch“. Wir wundern uns nicht über diese Erfahrung Davids. Auch wir müssen lernen, daß alle Menschen unvollkommen und in das Wort des Jakobus eingeschlossen sind: „Wir alle straucheln oft“. (3,2). Selbst ein Petrus kam in die Gefahr, auf Menschen zu blicken, und aus Furcht wandelte er nicht den geraden Weg nach der Wahrheit. Das ist uns als Warnung niedergeschrieben, damit wir nicht auf Menschen blicken möchten. (Gal 2,12).
Wir urteilen nicht über die Knechte des Herrn, das steht allein dem Herrn zu. Aber wenn der Feind damit, daß auch große Männer Gottes hinter dem Worte des Herrn zurückgeblieben sind, unserem Gewissen eine Deckung und Beruhigung geben will, dann antworten wir: „Der Herr ist mehr!“ „Sein Wort ist mehr!“ „Der Herr ist unser
Vorbild, und kein Bruder darf vor den Herrn gestellt werden!“
Wenn wir nun auf das Gebot der Absonderung blicken (2Kor 6,14-18) - auf den Befehl des Herausgehens der Gläubigen aus all den Systemen, Organisationen usw., in denen Gläubige und Ungläubige zusammen verbunden sind, da fragen wir uns: Warum wandeln so wenige diesen Weg nach der Wahrheit? Spricht die Schrift nicht deutlich genug? Fordert sie nicht das Abstehen von der Ungerechtigkeit? (2Tim 2,19). Sollen nicht alle, die den Namen des Herrn nennen, von den Dingen abstehen, die nicht recht in den Augen Gottes sind und mit denen der Name des Herrn nicht verbunden werden kann? Warum sind so manche Kinder Gottes, die da suchen, der Heiligkeit nachzujagen, in diesem Punkte so lax? Ist es nicht, weil der Feind so viele Weichen hat und man irgend einer solchen zum Opfer gefallen ist? Ich will nicht viel hierüber sagen, da ich in der kleinen Schrift „Ein unbeliebtes Schriftwort“ 19 darüber bereits geschrieben habe.
Auf einen Punkt nur möchte ich hinweisen, in welchem Gläubige oft unbewußt dem Feinde in die Hände arbeiten, und zwar Gläubige, die die Forderung der Absonderung zu Recht anerkennen und vielleicht selbst auch den Weg der Absonderung wandeln, die es aber doch nicht lieben, wenn mit ganzem Ernst und voller Entschiedenheit auf diese Forderung des Wortes hingewiesen wird, und meinen, daß man bei solchen Hinweisen doch auch das Gute in den Systemen usw. anerkennen müsse. Mit diesem „Guten“ meinen sie die Gnadenwirkungen Gottes, die auch in den Systemen gesehen werden. Ohne sich dessen bewußt zu sein, bringen sie die Wirkungen des Wortes und der Gnade Gottes mit den Systemen in Verbindung, als ob dieselben in diesen ruhten.
Was aber haben Gottes Gnadenwirkungen und Segnungen mit den Systemen zu tun, die das Wort verurteilt? Was hatten Gottes Segnungen über Abraham in Ägypten mit Ägypten zu tun? Gott segnete ihn mit Reichtum in dem Lande, in welchem er nicht sein sollte und in dem er sich mit einer Lüge aufhielt (1. Mose 12). Ja, Gott konnte ihn in Seiner Gnade in diesem Lande segnen, in dem er nicht wohnen sollte und in dem er sein Leben in Gefahr brachte. Würde jemand im Blick hierauf von den Segnungen und dem Guten in Ägypten reden? Würden wir nicht vielmehr von der Gnade Gottes an Abraham sprechen? Wer würde das, was Gott in Seiner Güte an Abraham oder an Israel in Ägypten und Babylon tat, Ägypten oder Babylon zuschreiben, als hingen diese Segnungen mit Ägypten oder Babylon zusammen? Nicht in Babylon, nicht in Ägypten soll Gottes Volk gesegnet werden, sondern in dem Lande seiner Berufung.
Wenn Gott Sein Volk in Babylon segnete wie Abraham in Ägypten, so ist es nur Seine Gnade, und wir bewundern Seine Gnade, aber wir denken nicht an Ägypten oder an Babylon, als ob deshalb etwas Gutes in diesen Gebieten läge, weil Gott Gefäße Seiner Gnade dort segnete.
Drohen nun keine Gefahren denen, die durch Gnade zum Worte des Herrn zurückkehrten? Große Gefahren und mehr, als wir denken! Eine solche ist die Selbstzufriedenheit. Wenn der Feind uns auf dieses tote Geleise hat bringen können, dann sind wir „zur Ruhe gekommen“.
Viele Weichen stehen ihm zur Verfügung, um Kinder Gottes auf dieses tote Geleise zu bringen. So z. B. berauscht er die Herzen mit dem Dünkel: „Wir haben die Wahrheit“. Die Folge ist, man hört auf, täglich die Schritten zu erforschen, „ob es sich also verhält“. (Apg 17,11). Wohl wird das Wort gelesen und auch erforscht, aber nicht mehr prüfend (ob sich die Sache also verhält), sondern in dem Lichte der Voreingenommenheit: „So ist es.“ „Wir haben das Richtige.“ Wieviel wird mit solchen Worten dem Feinde Helferdienst getan und einer nach dem anderen auf das Geleise der Selbstzufriedenheit, Sattheit und Sicherheit geführt. So kann es kommen, daß nicht nur einzelne auf diesem toten Geleise stehen, sondern ganze Gemeinden und Kreise.
Wenn es dahin mit Kindern Gottes gekommen ist, dann hat der Feind leichtes Spiel, sie aus ihrer Selbstzufriedenheit und Selbstüberhebung nicht zum Erwachen kommen zu lassen. Brüder mögen über solche trauern - und wenn Liebe ermahnt, wie einst Paulus die Korinther: „Ihr seid aufgeblasen“, (1Kor 5,2; vergl. 1Kor 4,6.18.19; 8,1; 13,4), so hat der Feind schon die Weiche zur Hand und leitet die Gedanken auf das Geleise der „Lieblosigkeit“, um solche Zurechtweisung kraftlos zu machen. Das ist eine alte Sache. Wenn dem Paulus nicht der gleiche Vorwurf der Lieblosigkeit gemacht worden wäre, hätte er sich nicht dagegen zu verwahren brauchen, daß er die Korinther nicht liebe. (2Kor 11,11).
Und als er den Dünkel und die Aufgeblasenheit dieser Korinther (die an keiner Gnadengabe Mangel hatten, 1Kor 1,7) treffen wollte, schrieb er ihnen mit einem Anflug von Ironie: „Ihr seid klug, ihr seid stark, ihr seid herrlich“ (1Kor 4,10) und im 2. Briefe zeigt er ihnen, daß dieses „weise“- und „klug“-Sein solcher Art war, daß sie sich die Toren gern gefallen, sich knechten und ins Gesicht schlagen ließen (2Kor 11,19.20). Es befremdet uns nicht, daß solche, die sich getroffen fühlten, Paulus als nach dem Fleische wandelnd erachteten. (2Kor 10,2).
Ist es nicht heute noch so? Gibt es keine Aufgeblasenheit mehr unter dem Volke Gottes? Müssen unsere Herzen nicht taub und aufgeblasen werden, wenn wir uns dafür halten, auf der Höhe der Erkenntnis zu stehen, und es vergessen, daß unser Erkennen nur stückweise ist?
Wenn es so in unserem Herzen aussieht, dann lieben wir es nicht, auf Verkehrtheiten und Irrtümer hingewiesen zu werden, und besonders dann nicht, wenn dabei (um die tauben Ohren zu erreichen) der scharfe und treffende Ton der Ironie gebraucht wird. Dann erklären wir solches leichthin als „ungeistlich“ und als „böse“ und lassen uns durch diese Weiche vom Feinde von der Sache unserer Verkehrtheiten ablenken und fahren auf dem toten Geleise der Selbstzufriedenheit und des Selbstbewußtseins weiter.
Gewiß, es schmerzt, wenn das Steinmesser von Gilgal an das Fleisch gelegt wird. Aber statt die Dinge in dem Lichte der Wahrheit zu prüfen, den Schaden zu richten und das Fleisch in den Tod zu geben, beschäftigt man sich mit angeblicher „Lieblosigkeit“ und „Unredlichkeit“. Es geht nach dem alten Muster. So wie es einst hieß: „Ist dies nicht der Sohn des Zimmermanns?“, so heißt es jetzt: „Ist das Liebe?“ „Ist das geistlich?“ Und so werden die Gedanken von der Sache weg - und aufs andere Geleise überführt: „Die Rede ist hart, wer kann sie hören!“ (Joh 6,60).
Welche Gefahren umgeben uns, wenn wir anfangen, zu vergessen, daß unser Wissen Stückwerk ist! Wie schnell hören wir dann auf, klein und demütig zu sein; dann bedürfen wir einander nicht mehr, noch des Dienstes der Gaben, die der Herr dem Leibe gegeben hat. Dann haben wir es nicht mehr not, uns gegenseitig zu ermahnen, zurechtzuweisen, aufmerksam zu machen durch Wort und Schrift auf die mancherlei Gefahren, Schäden und Irrungen - auch in der Erkenntnis.
Man läßt es wohl noch angeben, sich auf Schäden und Verkehrtheiten im Wandel hinweisen zu lassen, aber man liebt es nicht, daran erinnert zu werden, daß, solange wir hier unten sind, unser Erkennen Stückwerk ist und wir in der Schule sind.
Die Welt spricht auf politischem Gebiet von Ablenkungs-Manövern, aber arbeiten die Mächte der Finsternis nicht auch auf geistlichem Gebiet mit solchen Ablenkungs-Manövern? Wie ernst sind diese Dinge für uns alle, die wir Kinder Gottes sind! Wie mahnen sie uns zur Wachsamkeit, Nüchternheit, Besonnenheit über uns selbst, um die Listen des Feindes zu erkennen, ihnen zu entfliehen und den geraden Weg nach der Wahrheit zu wandeln! v. d. K.
19 Zu erhalten bei Alb. v. d. Kammer, Klotzsche.↩︎