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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 12 -Jahrgang 1927
Malchus und sein VerwandterMalchus und sein Verwandter
In einem Geiste der Unbesonnenheit, der schlecht zu dem Augenblick paßte, hatte Petrus nach dem Knecht des Hohenpriesters geschlagen und ihm das Ohr abgehauen. Seinem energischen Temperament gemäß hatte er seine Zuflucht zum Schwert genommen, um Seinen Herrn vor dem Feinde zu schützen. Aber das Schwert war für die Verteidigung des Herrn nicht die rechte Waffe. Der Herr stand im Begriff, Sich in die Hände sündiger Menschen zu überliefern, um Seinen Auftrag hienieden zu erfüllen. Selbstverteidigung war kein Stück dieses Planes Seiner Gnade; Er gab Sich hin, die Schrift zu erfüllen; während die Jünger schliefen, war Er im Geiste schon durch die furchtbarsten Proben hindurchgegangen und zubereitet für alles, was über Ihn kommen sollte. Er hatte den Kelch aus Seines Vaters Hand genommen, bereit, ihn zu trinken.
Das unbesonnene und vorschnelle Eingreifen des Jüngers hielt Ihn nur auf dem Wege auf. Der Schlaf hatte Petrus für solche Prüfungen schlecht vorbereitet. Als er vom Schlaf erwachte, wußte und ahnte er nicht, welcher Art die Versuchungen sein würden, die seiner warteten, und kannte er nicht sein eigenes Unvermögen, diesen zu begegnen. Gleich dem geschorenen Simson griff er zum Schwert, der Waffe, die Menschen gebrauchen. Ohne Zweifel tat er es in guter Absicht, aber sein Verhalten war eine traurige Verirrung.
Er schlug und hieb Malchus das Ohr ab. Wer war Malchus? Er war der Diener des Hohenpriesters. Ist dies nicht bemerkenswert? War nicht der Schall der Schritte seines Herrn hinter ihm? Sicherlich, wenn derselbe auch nicht da war. Die Würde seines hohen Berufes verhinderte ihn, sich bei Nacht diesem blutdürstigen Haufen anzuschließen, der mit Fackeln und Waffen nach dem dunklen Gethsemane zog. Er blieb in seinem Palast zurück, aber er schickte Malchus, um seine Stelle einzunehmen, und der war es, der unter dem Schwertstreich des Petrus litt. Wäre der Hohepriester selbst dabeigewesen, der Schlag, den sein Knecht erhielt, würde ihn getroffen haben. Nun aber stieß der Diener des Hohenpriesters mit dem Jünger Jesu im Kampf zusammen, und der erstere wurde verwundet. (Joh 18,10).
So vollführte Petrus Taten, aber sie paßten nicht zu der Zeit und den Umständen. David hatte „seine Helden, seine mächtigen Männer“, und die Berichte über ihre Tapferkeit sind auf den Blättern des heiligen Buches eingetragen. Sie fochten und siegten durch den Gebrauch der menschlichen Waffen, aber ihre Waffen paßten zu der Zeit und den Umständen.
Der Herr Jesus kam nicht, um die Welt zu richten, sondern um die Welt zu erretten (Joh 12,47). Sein Jünger handelte entgegengesetzt.
Wie träge sind wir doch, zu lernen, was Gnade ist, und die himmlische Natur des Christentums zu erfassen. Wie langsam lernen wir die Verschiedenheiten in den Zeitaltern oder Verwaltungen Gottes mit Menschen unterscheiden! Das Gesetz und das Schwert paßten wohl zueinander, aber die Gnade und das Schwert stehen sich einander entgegen. Unserer menschlichen Natur nach verstehen wir ersteres gut und sind gern bereit, mit Gesetz und Schwert zu handeln, aber als Gotteskinder sollen wir lernen, das letztere zu verstehen und in Gnade zu handeln. Petrus handelte nach dem Gesetz und zog das Schwert, aber sein liebreicher Meister handelte in Gnade und heilte des Malchus Ohr. Wie herrlich ist der Gegensatz!
Sein ganzes Leben hindurch trug von nun an der Diener des Hohenpriesters die heilende Berührung des Herrn an sich. Wie muß er fähig gewesen sein, den Unterschied zu beschreiben zwischen dem impulsiven und harten Jünger und dem stillen und sanften Meister! War sein Herz berührt worden? Kehrte er zu seinem Herrn zurück und berichtete ihm von der sanften Gnade Jesu, die ihm zuteil geworden war? Wir wissen es nicht.
Nicht der verwundete oder geheilte, nicht der dankbare oder undankbare Malchus fesselt in dieser Stunde unser Auge, sondern der liebreiche Herr in Seiner unendlichen Gnade, dessen vergebende und heilende Hand sich sanft auf den Diener Seines größten Feindes legt. Solche Beweise Seiner Gnade nehmen unser Herz gefangen und zeugen von dem, was Er ist. So zeigen uns die Schriften den Herrn Jesus in Seiner ganzen Vollkommenheit nicht in einer mit uns vergleichenden Weise, sondern als im Gegensatz zu uns und zu den Besten der Menschen. Die Menschen treten in vielen verschiedenen Charakteren vor uns, aber auch im besten Falle doch nur, um zu zeigen, daß sie leichter sind als ein Hauch (Ps 62,9). Wie so anders dagegen der Herr Jesus, der Sohn des Menschen und der Sohn Gottes. Er tritt voller Gnade und Wahrheit vor uns, damit wir erkennen möchten, was für ein Gott der Gott ist, gegen den wir gesündigt haben und der uns entfremdet worden ist; denn Er war in Wahrheit Gott geoffenbart im Fleisch. Wie wunderbar ist es, Ihn so anzuschauen!
Sinnet darüber nach, geliebte Leser: Gott geoffenbart im Fleisch! Gott offenbart Sich so, damit wir, die gefallenen Schuldigen und durch die Sünde Verblendeten, Ihn erkennen möchten.
Die Schöpfung mit ihren unzähligen Wundern und Schönheiten vermochte Ihn (Gott) nicht zu offenbaren, obgleich sie von Seiner Macht und Größe zu uns reden kann.
Der Herr Jesus, nur Er offenbart Ihn; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat Ihn kundgemacht (Joh 1,18). Er war Gott geoffenbart im Fleisch, und wenn auch im Fleisch ein vollkommener Mensch, versucht in allem, gleichwie wir, ausgenommen die Sünde, war Er vollkommen sowohl in Gnade als auch vollkommen in Wahrheit, so daß auch das in einer solchen Stunde geheilte Ohr des Malchus in lieblichem Einklang mit allen Seinen Wegen von der Krippe an stand. Welch eine herzgewinnende Gnade!
Petri Voreiligkeit trug ihm eine bittere Frucht. Damit, daß er sein Schwert in die Scheide steckte, war sein voreiliges Handeln für ihn in seinen Folgen nicht abgeschlossen.
Als er seinem nun gefangenen Meister in den Hof des Hohenpriesters folgt, nimmt er seinen Platz in der Mitte der anderen Knechte ein, in deren böser Gesellschaft er sich diesen gleichmacht. Er wird beschuldigt, ein Jünger Jesu zu sein, aber bestimmt und fest verleugnet er es.
Aber einer aus dem Kreise sagt: „Sah ich dich nicht in dem Garten bei Ihm?“ Wie empfindlich, gleich einem Dolchstich, muß das Petrus durchdrungen haben, und wer versetzte ihm diesen Stich? Es ist tief berührend: „Es war ein Verwandter dessen, dem Petrus das Ohr abgehauen hatte.“ (Joh 18,25.26). Der Verwandte des Malchus erkannte den Mann wieder, der das Schwert gebraucht hatte. Hier war ein Augenzeuge von dem traurigen Eifer und dem mörderischen Schlage des Petrus.
Es scheint fast so, als ob Malchus und sein Verwandter die Führer der Bande waren, die dem Verräter Judas Ischariot folgten. In dem Eifer, den Wunsch ihres hohenpriesterlichen Herrn zu erfüllen, befanden sie sich wahrscheinlich in der Vorhut und waren dadurch dem Widerstand, der sich bei der Gefangennahme des Herrn erheben konnte, in erster Linie ausgesetzt. Malchus hatte durch den fleischlichen Eifer des Petrus gelitten, und sein Verwandter gab Zeugnis, daß er ihn wiedererkenne, und Petrus, der im Garten irrte, irrte in dem Palast noch viel mehr. Dort schlug er einen Feind, hier verleugnete er seinen Herrn.
Aber berichtete der Verwandte jetzt, wo er Petrus wiedererkennt, nicht auch von jener heilenden Berührung Jesu? Hatte er nichts zu sagen, wie schnell, wie völlig, wie zart der Fehler des Jüngers von demselben Meister wieder gutgemacht wurde, den Petrus jetzt so verleugnete? Wir lesen nichts davon.
Aber ist es nicht so: Kleiner Fehler erinnert man sich, aber große Taten der Güte und Liebe werden vergessen? Das ist das menschliche Herz! So verdorben ist es durch die Sünde. So mag es auch bei dem Verwandten des Malchus gewesen sein. Die Gnade des Herrn war seinem Sinne entschwunden als eine geringfügige, nur ganz natürliche Sache.
Gott sei gepriesen, Er hat in dem Buch der Inspiration eintragen lassen: „Er rührte sein Ohr an und heilte ihn“ (Lk 22,51). Wie viele Jahre mag Malchus vor seinem gottlosen hohenpriesterlichen Herrn gestanden haben mit diesem sichtbaren Zeichen der gnadenvollen, heilenden Berührung des Herrn Jesus, dem unvergänglichen Zeichen der Liebe und des Erbarmens dessen, „der, gescholten, nicht wiederschalt, leidend, nicht drohte, sondern sich Dem übergab, der recht richtet“ (1Pet 2,23). Wie groß, wie kostbar wird der Herr uns, wenn wir Ihn so in Seiner Gnade anschauen.
S. (K).