Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 15 - Jahrgang 1930
Apg 20,7-12 ; Hes 11,13 - „Eutychus Pelatja“Apg 20,7-12 ; Hes 11,13 - „Eutychus Pelatja“
Ich möchte auf zwei Ereignisse hinweisen, die in Verbindung mit dem Dienst am Worte Gottes stattfanden und die sehr bemerkenswert sind. Das eine ist das eines jungen Mannes namens Eutychus, der vom dritten Stock während der Predigt des Apostel Paulus hinunterfiel und tot aufgehoben wurde. Das andere ist der plötzliche Tod eines Fürsten in Israel namens Pelatja, der eintrat, als Hesekiel gegen die Einwohner Jerusalems prophezeite.
Im ersten Falle finden wir, daß Gott in Gnaden dazwischentrat und den herabgestürzten Mann durch den Apostel Paulus wieder zum Leben zurückrief. Und wir lesen, daß die Gläubigen, als er wieder lebendig wurde, „nicht wenig getröstet wurden“.
Solche Gnade offenbarte Gott in dem zweiten Falle während des Dienstes des Propheten Hesekiel nicht. Als der Prophet sah, daß Gott das Leben dieses Fürsten in Israel hinweggenommen hatte, fiel er nieder auf sein Angesicht und schrie mit lauter Stimme und sprach: „Ach, Herr, Jehova, willst Du dem Überrest Israels den Garaus machen?“
Durch die Rede des Apostel Paulus in Troas wurden die Zuhörer sehr auf die Probe gestellt, ob ihre Herzen wirklich mit dem Gegenstand seiner Rede beschäftigt waren und ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet war; denn er verzog das Wort bis Mitternacht. Bei Eutychus war dieses nicht der Fall; er wurde vom Schlaf überwältigt, und in diesem Schlafzustand geschah sein tiefer Fall. Dieser sein Fall zeigte der ganzen Gemeinde, daß er geschlafen und den Anforderungen, die durch das Wort Gottes an ihn gestellt waren, nicht entsprochen hatte. Aber nicht allein dieses, auch er selbst erlitt einen Verlust, den er nicht wieder einholen konnte. Wohl wurde durch die Gnade Gottes sein Leben erhalten, aber den Teil des Dienstes Pauli, den er während seines Schlafes versäumt hatte, verlor er, und wer weiß, welche Segnungen Gott den Seinigen in diesen Stunden gab!
Wir dürfen nicht denken, daß Eutychus in seinem Schlafzustand und dem darauf folgenden Fall allein dasteht und daß heutzutage in der Gemeinde des Herrn niemand in seinem Zustand zu finden sei. So, wie durch das Wort Gottes Eutychus auf die Probe gestellt und offenbar wurde, so ist es auch heute noch.
Wenn der Diener des Wortes kühn genug ist, seinen Zuhörern Pauli Lehre: die himmlische Berufung und das himmlische Band der Gemeinde mit Christus, vor Augen zu stellen, so wird bald offenbar werden, ob ein Seelenzustand vorhanden ist, der dem des Eutychus entspricht. Und leider kann die Tatsache nicht verleugnet werden, daß heute eine Menge in der Nachfolgerschaft des Eutychus gefunden wird, die für das dem Apostel anvertraute Geheimnis „Christus und Seine Gemeinde“ kein Interesse hat und vom Schlaf überwältigt ist.
Haben wir nicht alle Ursache, uns zu fragen, ob wir nicht zu diesem Geist des Schlafes und der allgemeinen Gleichgültigkeit unter dem Volke Gottes beigetragen haben, der gerade im Hinblick auf die von Paulus offenbarten himmlischen Wahrheiten heute so viele Gläubige schlafend gemacht hat?
Eine Verkündigung des Wortes, die den Kindern Gottes erlaubt, sich das beste aus beiden Welten zunutze zu machen, ist in der Tat heute beliebt, wohingegen ein Dienst, der uns von den weltlichen Dingen hinweg zu den Genüssen unserer himmlischen Segnungen führen und unser Herz mit den Dingen, die droben sind, wo Christus ist, beschäftigen will, entweder verachtet oder zurückgewiesen wird.
Es ist wirklich eine große Gnade, wenn die Autorität des Wortes Gottes anerkannt und unser Ohr für des Herrn Stimme geöffnet ist, der da sagt: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten!“ (Eph 5,14) Möchte der laute, der lange und liebende Ruf des Herrn : „Wache auf, wache auf!“ jedes schlafende Herz erwecken, damit es mehr Licht empfange und mehr Freude finde an der Lehre des Apostels von der himmlischen Berufung und sich nicht damit begnügt, nur seiner ewigen Errettung in Christo gewiß zu sein und den Himmel nur später einmal zu erwarten, sondern jetzt schon durch Glauben in demselben zu wandeln. (Phil 3,20)
Es ist nötig und wichtig, zwischen den Tücken und schwankenden Neigungen des Herzens, verbunden mit Unwissenheit (wie es oft der Fall ist) und der Widerspenstigkeit des Herzens, die sich wider Gott erhebt, zu unterscheiden.
Die Unterscheidung dieser beiden Dinge geben uns im Grundsatz die Erklärung für das Mitleid, daß dem Eutychus und nicht dem Pelatja erwiesen wurde.
Der Tod des Pelatja war eine Heimsuchung Gottes, der Seinen Unwillen gegen einen Mann zeigte, der in seinen eigenen Augen weise war (Spr 26,12) und der sich zugleich der zwiefachen Sünde schuldig machte, Gottes Boten zu widerstreben und Gottes Volk irre zu führen. Der Schrei des Propheten in dieser ernsten Stunde: „Ach, Herr, Jehova! willst Du dem Überrest Israels den Garaus machen?“ offenbarte, daß Gott nicht nur dem Fürsten entgegenstand, sondern auch denen unter dem Volke, deren Herzen sich in Stolz und Sicherheit gegen Ihn erhoben hatten und die diejenigen, welche Gott fürchteten, mit Verachtung behandelten. Auf diesen Schrei des Propheten antwortete Gott wie folgt: „Menschensohn, deine Brüder, deine Brüder, die Männer deiner Verwandtschaft, sind es und das ganze Haus Israel insgesamt, zu welchen die Bewohner von Jerusalem sprechen: Bleibet fern von Jehova; uns ist das Land zum Besitztum gegeben! Darum sprich: So spricht der Herr, Jehova: Obgleich Ich sie unter die Nationen entfernt, und obgleich Ich sie unter die Länder zerstreut habe, so bin Ich ihnen doch ein wenig zum Heiligtum geworden in den Ländern, wohin sie gekommen sind.“ (Hes 11,15.16)
Viel Böses war in dem Hause Israel getan worden, den Unwillen Gottes hervorzurufen; ihre Zerrissenheit und Zerstreuung bezeugte dieses; aber anstatt auf die Stimme ihrer Brüder, die Jehova fürchteten, zu hören, verachteten sie diese. Mit frevelnden Worten forderten sie sie auf: „Uns ist das Land zum Besitztum gegeben!“ (Hes 11,15b) Gott aber verkündigte ihnen durch den Mund des Propheten, daß Jerusalem ihnen nicht ein Kessel sein solle, der sie vor der von außen kommendem Bedrängnis schützen würde, sondern daß Er sie an der Grenze Israels richten werde. Noch während der Prophet die Worte Jehovas ausrichtete, nahm Gott Pelatja durch den Tod hinweg. Gott zeigte dem Volke, daß Er die Widersteher Seines Wortes in einem Augenblick beseitigen könne. Mit verächtlichen Mienen und höhnenden Lippen mochte dieser Fürst dem Munde Gottes gegenüber gestanden haben, als ein plötzliches Gericht ihn traf. Gott besiegelte gleichsam Sein Wort und gab ihnen den Beweis, daß Sein Gericht sie sicher treffen würde. Der Prophet kannte den traurigen Zustand des Volkes, er liebte sein Volk und fürchtete, daß Gott sie alle hinwegnehmen könne. Deshalb sein erschütternder Schrei: „Ach, Herr, Jehova! willst Du dem Überrest Israels den Garaus machen?“ Wie demütig schloß er in diese Worte die Fürbitte für den Überrest ein!
Obwohl Gott in Seiner Antwort den Stolz, die falsche Sicherheit und das Widerstreben des Volkes bloßstellte, versicherte Er doch in unendlichem Erbarmen Seinem Diener, daß Er seiner Brüder, der Männer seiner Verwandtschaft und des ganzen Hauses Israel in Seiner Gnade gedenken wolle und daß ein Tag kommen würde, wo Er sie wieder sammeln und aus den Ländern zusammenbringen werde, in welche sie zerstreut worden seien. Und nicht allein werde Er ihnen das Land Israel geben, sondern auch ein Herz und einen neuen Geist in ihrem Innern. Und sie würden Sein Volk und Er ihr Gott sein. Welche Gegensätze in der Größe der Sünde und in der Größe der Gnade! Ja, wir lernen bisweilen die ganze Schwere unserer Sünden und ebenso die ganze Größe unserer Segnungen erst recht in dem Gegensatz zu verstehen. Wie hochmütig und anmaßend waren die Worte dieser Bewohner Jerusalems: „Uns ist das Land zum Besitztum gegeben!“ gegenüber dem demütigen Bekenntnis des Überrestes: „Nicht uns, Jehova, nicht uns, sondern Deinem Namen gib Ehre.“ (Ps 115,1) Sie ließen das Wort „nicht“ aus, und damit bewiesen sie, daß sie sich nicht nur der Verachtung ihrer Brüder schuldig machten, sondern auch unverdiente Ehre für sich selbst in Anspruch nahmen, anstatt sie Gott zu geben, von dem alles kam und dem auch aller Ruhm gebührte.
So wie Eutychus' Schlaf und Fall nicht auf ihn allein beschränkt ist, so ist auch die Sünde der Bewohner Jerusalems nicht allein auf diese und die Zeiten des Alten Testamentes beschränkt. Zu allen Zeiten hat sie Gottes Volk umstrickt, und wir finden etwas davon wieder bei den Jüngern des Herrn , als sie jemand tun sahen, was sie hätten zu tun fähig sein sollen und doch nicht tun konnten wegen ihres Mangels an Gebet und Fasten. Im Eigendünkel kamen sie zu dem Herrn , und Johannes sagte: „Lehrer, wir sahen jemanden Dämonen austreiben in Deinem Namen, der uns nicht nachfolgt; und wir wehrten ihm, weil er uns nicht nachfolgt. Jesus aber sprach: Wehret ihm nicht; denn es ist niemand, der ein Wunderwerk in Meinem Namen tun kann und bald übel von Mir zu reden vermögen wird; denn wer nicht wider uns ist, ist für uns.“ (Mk 9,38-40) Diese Antwort des Herrn offenbart uns sowohl Seine Treue, mit welcher Er den Eigendünkel Seiner Jünger aufdeckte, als auch Seine Gnade gegen alle, die Seinen Namen lieben und Seine Autorität anerkennen. Möchten wir alle hieraus eine Lehre ziehen und uns von der Sünde der Selbsterhebung bewahren lassen! Laßt uns, statt unsere Brüder zu verachten, durch die Gnade lernen, andere höher zu achten als uns selbst und zu sagen: „Der Herr sei gepriesen!“
H. (v. d. K).