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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 9 -Jahrgang 1923/24
1Kor 9,20-22 - „Geistliche Anpassungsfähigkeit“1Kor 9,20-22 - „Geistliche Anpassungsfähigkeit“
„Ich bin den Juden geworden wie ein Jude, auf daß ich die Juden gewinne; denen, die unter Gesetz sind, wie unter Gesetz (wiewohl ich selbst nicht unter Gesetz bin), auf daß ich die, welche unter Gesetz sind, gewinne; denen, die ohne Gesetz sind, wie ohne Gesetz (wiewohl ich nicht ohne Gesetz vor Gott bin, sondern Christo gesetzmäßig unterworfen), auf daß ich die, welche ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich geworden wie ein Schwacher, auf daß ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, auf daß ich auf alle Weise etliche errette.“ 1Kor 9,20-22.
Der Apostel Paulus hat uns in diesen Worten die Regel hinterlassen, nach welcher er arbeitete. Seine Wirksamkeit unter den Menschen entsprang nicht seinem Kopfe, sie entfloß vielmehr einem Herzen, das von Liebe zu seinem Herrn brannte. Alles drehte sich um die VerHerrlichung seines Gottes und Herrn und das ewige Glück seiner Mitmenschen, ob es nun Juden oder Heiden waren. Die obigen Worte schrieb er den Korinthern, die auf ihre geistlichen Gaben so stolz waren und in ihrer Ausübung sich selbst suchten, während er nur daran dachte, wie er anderen am besten dienen könne. Möchten seine Worte in unserem Herzen etwas von dem gleichen Eifer und der gleichen Willigkeit wecken, alles so zu tun (was es auch sei), daß es zur VerHerrlichung Gottes und zum Segen der Seelen dient!
Wenn wir die Briefe Pauli lesen, so können wir nicht anders als staunen über die wunderbare Gabe seiner Beweisführung, über die Kraft der Sprache und die tiefe, allseitige Auffassung der Wahrheit Gottes, Dinge, welche ihm geschenkt waren. Aber die herzliche Wärme, die alles durchdringt, der Ernst seiner Gebete, wenn er seine Knie vor dem Vater beugt, zeigen uns ihn als einen, der sich mit all seinen großen Gaben nicht selbst erhob, sondern sie nur dem Dienst anderer widmete. O wie viele, die nicht ein Zehntel der Erkenntnis Pauli besitzen und nicht ein Hundertstel des Ungemachs auszuhalten haben, das er auf Reisen und in Gefahren zu Wasser und zu Lande, unter Juden und Heiden und falschen Brüdern, in der Stadt und in der Wüste, in Hunger und Durst und Kälte, in Wachen und Fasten oft zu ertragen hatte (2Kor 11,26.27), fühlen sich in geistlichem Hochmute oft über andere erhaben und schauen auf ihre Mitchristen hinunter, die in irgend welchem Irrtum befangen sind oder durch die Welt angezogen werden. Ja, dazu sind unsere Herzen nur allzubereit, während dieser so hochbegabte und begnadigte Apostel sich zu allen herabließ, sich allen Umständen und Personen anpaßte, um allen, mit denen er in Berührung kam, von dem größtmöglichen Nutzen sein zu können. Aber nie gab er dabei ein Titelchen der Wahrheit auf oder tat er der Würde des Evangeliums und der Kraft seines göttlichen Auftrages Eintrag. Seine Sorge um die Ehre Gottes verbot ihm dieses; so weit er es aber tun konnte, studierte er die, mit denen ihn Gott zusammenführte, und wußte ihnen mit seltenem Geschick darzureichen, was für sie paßte und was sie verstehen konnten.
So waren seine Ansprachen in den jüdischen Synagogen sehr verschieden von seiner Rede auf dem Areopag in Athen, und ohne Zweifel sprach er auch ganz anders zu einer Lydia, deren Herz der Herr für die Wahrheit geöffnet hatte, als zu dem geldliebenden Felix oder zu einem Agrippa, der von den Sitten und Gebräuchen der Juden Kenntnis hatte.
Wie dringend und energisch sind seine Worte an die Heiligen in Korinth über die Sünde, die sie in ihrer Mitte duldeten! In dem zweiten Brief an sie freut er sich und bringt ihnen aufs neue sein Vertrauen entgegen, ermutigt durch den Eifer, den sein erstes Schreiben bei ihnen hervorgerufen hatte (2Kor 7,7). Und so konnten noch viele Beispiele angeführt werden. Die Wahrheit bleibt immer und überall Wahrheit; wenn sie aber den Seelen auf ungeschickte Weise gebracht wird, so kann ihnen dadurch Schaden geschehen. Ein Kindlein könnte an einem Stück Fleisch ersticken, das für einen Erwachsenen die passendste Speise wäre. O möchte uns allen geistliche Weisheit geschenkt sein, um denen zu helfen, mit denen wir zu tun haben, anstatt daß wir sie hindern. Wir erinnern uns, wie jemand, der jetzt beim Herrn ist, zu sagen pflegte: „Die Hauptsache ist, daß man den Seelen gerade da, wo sie sich befinden, hilft, vorwärts zu kommen“. Gläubige, die Erkenntnis, aber im Mitteilen derselben nicht Weisheit haben, schaden oft viel mehr, als sie nützen, während jemand, der weislich mitzuteilen versteht, wie es für den Zustand des anderen paßt, auch ohne große Erkenntnis ihm sehr nützen kann. Paulus sagt seinem zur Furchtsamkeit geneigten Timotheus: „Gott hat uns nicht einen Geist der Furcht gegeben, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit“ (2Tim 1,7). Die Kraft ohne Liebe würde uns schnell zur Anmaßung führen, vielleicht sogar zu der Anmaßung, selbst über das Gewissen der Brüder zu Herrschen. Die Liebe allein könnte in bloße menschliche Zuneigung ausarten, in welcher wir vielleicht nur noch an das denken würden, was andere erfreuen und ihnen gefallen könnte. Aber der Geist der Besonnenheit erhält uns in dem richtigen Geleise.
Wieviel erst können wir lernen, wenn wir uns von dem Diener zu dem Herrn Selbst wenden! Wie gnädig und liebreich sucht Er das Vertrauen der Samariterin zu gewinnen!
Wie nimmt Er Sich der zwei Jünger auf dem Wege nach Emmaus an, indem Er ihnen das Verständnis für das öffnet, was in den Schriften Ihn Selbst betraf. In dieser Weise bereitet Er sie vor, Ihn nun bald Selbst zu erkennen in dem Brechen des Brotes. Diese wunderbare, göttliche Art, sich allen anzupassen, war es, welche die Zöllner und Sünder in Seine Nähe zog, zu dem Licht der Welt, in welchem sie doch offenbar werden mußten. Und Paulus lernte diese heilige Kunst, wenn wir so sagen dürfen, von seinem geliebten Herrn. Auch für uns liegt der Weg, sie uns anzueignen, nicht etwa in eigenen Anstrengungen, sondern in der Beschäftigung mit dem Herrn Jesus Christus. In der Gemeinschaft mit Ihm lernen wir, vielleicht unbewußt, am sichersten, Seine Gesinnung und Seine Art in uns aufzunehmen.
O daß wir Ihm doch ähnlicher werden möchten! Wir würden dann nicht andere hindern oder abstoßen, weil wir ihnen nicht das zu geben verstehen, was für sie passend oder verständlich ist, sondern vielmehr durch Seine Gnade imstande sein, ihnen zu helfen, sie zu innigerer Gemeinschaft mit dem Herrn und den Seinen zu führen und in der Erkenntnis Seiner Wahrheit zu fördern.
P.