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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 12 -Jahrgang 1927
Gottes Auserwählung und des Menschen VerantwortlichkeitGottes Auserwählung und des Menschen Verantwortlichkeit
Bei Betrachtungen über die Auserwählung hört man oft Bedenken laut werden, die sich dahin ausdrücken, es könne durch die Lehre der Auserwählung dem Evangelium die Kraft genommen, die Verantwortlichkeit des Menschen ausgestrichen und unsere Errettung als eine Tat unseres Willens nicht anerkannt werden.
Wir können gut verstehen, daß sich beim Betrachten der souveränen Gnade Gottes im Blick auf die Verantwortlichkeit des Menschen auch bei Gläubigen Schwierigkeiten einstellen, besonders, wenn man versucht, diese beiden Tatsachen in Einklang zu bringen.
Die Schrift bezeugt an vielen Stellen beides sehr deutlich: Nebukadnezar z. B. sagt über Gottes Souveränität (Unumschränktheit): „Nach Seinem Willen tut Er mit dem Heere des Himmels und mit den Bewohnern der Erde; da ist niemand, der Seiner Hand wehren und zu Ihm sagen könnte: Was machst Du?“ (Dan 4,35); und Paulus behandelt in Röm 1,18 - 3,19 eingehend die Verantwortlichkeit des Menschen.
Fangen wir aber an, diese beiden Zeugnisse der Schrift (das eine an die Gläubigen, das andere an die Ungläubigen gerichtet) miteinander zu verbinden, so entstehen sofort Schwierigkeiten. Da kommt die Frage: Wenn Gott vor Grundlegung der Welt jeden Gläubigen auserwählt hat und der Herr sogar sagt: „Niemand kann zu Mir kommen, es sei denn, daß der Vater ihn ziehe“ (Joh 6,44), sind dann nicht alle Bemühungen in der Verkündigung des Evangeliums zwecklos? Wer auserwählt ist, wird doch errettet und wer nicht auserwählt ist, muß verloren gehen. -
Man kann nicht verstehen, daß die Apostel, die die Gläubigen über die Auserwählung belehrten, trotzdem die Ungläubigen mit allem Ernst noch ermahnten: „Tut Buße - laßt euch retten von diesem verkehrten Geschlecht“ (Apg 2,38.40). „Glaube an den Herrn Jesus, und du wirst errettet werden“ usw (Apg 16,31). Man meint, sie hätten vielmehr sagen müssen: „Der Mensch ist tot in Sünden und muß auf Gott warten, der ihn errettet, wenn er auserwählt ist“.
Diese Beispiele mögen genügen, zu zeigen, welche
Schwierigkeiten entstehen, wenn wir die Verantwortlichkeit des Menschen mit der souveränen Gnade Gottes in Einklang bringen wollen, anstatt beide Wahrheiten, und zwar jede an dem Platze, den Gott ihr in dem Worte angewiesen hat, stehen zu lassen und in ihrer ganzen Tragweite anzuerkennen.
Das Evangelium hat sein besonderes Gebiet, und die „Weisheit Gottes im Geheimnis“ hat gleichfalls ihr besonderes Gebiet. Die Schrift unterscheidet genau zwischen dem Evangelium und was mit demselben verbunden ist und der Offenbarung der Dinge, die Gott den Gläubigen geschenkt hat. Jedes hat sein eigenes und besonderes Gebiet, wo es entfaltet werden soll.
Das Gebiet für das Evangelium ist die Welt; es soll allen Menschen gebracht werden. „Gehet hin in die ganze Welt und predigt das Evangelium der ganzen Schöpfung. (Mk 16,15).
Das Gebiet für die Offenbarung der verborgenen Weisheit Gottes aber ist nicht die Welt, sondern die Gemeinde. Die Gläubigen sollen damit vertraut gemacht werden, damit sie die Dinge kennen, die ihnen von Gott geschenkt sind. (1Kor 2,12).
Suchen wir aber diese für zwei gesonderte Gebiete, für zwei ganz verschiedene Personenklassen bestimmten Dinge auf ein gemeinsames Gebiet zu bringen und der menschlichen Vernunft anzupassen, so werden wir, anstatt beide (die Verantwortlichkeit des Menschen und die souveräne Gnade Gottes) in ihrer ganzen Weite anzuerkennen, von dem einen oder dem anderen nur soviel gelten lassen, als es uns nach unseren Gedanken vereinbar zu sein erscheint.
So haben manche gemeint, den goldenen Mittelweg wählen zu sollen, indem sie glaubten, die Wahrheit müsse in der Mitte liegen, und sie lehren, die Auserwählung sei nicht eine Auserwählung bestimmter Personen, sondern nur eine solche im allgemeinen Sinne. Jeder Mensch könne nach Seiner freien Wahl und seiner Fähigkeit das Gute erwählen und sich dadurch der Schar der Auserwählten hinzutun, und deshalb hätten wir in Übereinstimmung mit der Auserwählung allen Menschen das Evangelium zu verkündigen.
Wir können verstehen, daß die, die solcher Meinung sind, ängstlich jedes Wort und jede Schrift, die rückhaltslos von der Auserwählung Zeugnis gibt, meiden und verurteilen. Sie begründen dieses damit, daß, wenn ein solches Zeugnis einem Ungläubigen in die Hand käme, es ihm zu einem Anlaß werden könne, seine Verantwortlichkeit abzulehnen.
Sollen wir nun deshalb, weil etliche die Schrift „zu ihrem eigenen Verderben verdrehen“, die Wahrheit, die Gott nicht den Unbekehrten, sondern den Gläubigen gegeben hat, unter den Scheffel stellen? Und warum? Weil etwa ein Ungläubiger Worte, die ihm überhaupt nicht gelten, auf sich anwenden könnte, der aber die Worte, die Gott an ihn richtet, nicht annimmt?
Wie leicht sind wir doch bereit, von der göttlichen Tat der Liebe in der Auserwählung, von ihrer wunderbaren Größe, etwas abzustreichen, damit auch für unsere Seite genügend Platz bleibt! Als ob unser Errettetsein nicht allein Sein Werk, Gottes Gnade und Gabe wäre, sondern auch unser Tun und Wille darin Raum und Ruhm haben müsse. Im Himmel werden wir nicht singen: „Du und ich“, sondern allein: „Du bist würdig ... denn Du bist geschlachtet worden und hast für Gott erkauft durch Dein Blut usw.“ Dort werden wir die Tat unseres Willens nicht neben die Tat Seines Willens stellen. Warum hier?
Welchen Grund haben Gläubige, wenn in der Auserwählung die göttliche Seite unserer Errettung betrachtet wird, so ängstlich bedacht zu sein, daß auch ja gleich daneben die Tat unseres Willens und der Verantwortlichkeit des Menschen betont wird? Tut dieses etwa die Schrift? Gehören diese beiden Dinge zusammen? Als Gottes Liebe uns (ich rede zu Gläubigen) erwählte, hatten wir da überhaupt schon etwas getan, das zu unseren Gunsten hätte berücksichtigt werden können? Fand unsere Auserwählung nicht statt, ehe wir das Geringste getan hatten? Warum denken wir denn, wenn von der Auserwählung geredet wird, sofort daran, auch unsere Seite, die Seite der Verantwortlichkeit des Menschen, dabei zu erwähnen? Als ob durch die Lehre der Auserwählung diese könnte abgeschwächt oder gar mit der Auserwählung verbunden werden; oder als ob die Herrlichkeit Seiner souveränen Gnade nicht ohne die Betonung unserer Verantwortlichkeit betrachtet werden dürfe. Solche Richtlinien gibt uns die Schrift nicht.
Die Schrift gibt beiden, der souveränen Gnade Gottes in der Auserwählung und der Verantwortlichkeit des Menschen für das Angebot der Gnade ihren bestimmten Platz. Sie bringt beide in ihrer ganzen Tragweite voll zur Geltung. Die eine Seite enthält das, was von seiten Gottes geschehen ist, und sie ist allein für die Kinder Gottes bestimmt. Die andere enthält das, was von seiten der Menschen zu geschehen hat, und betrifft die ganze Welt des Unglaubens.
Es dürfte für manche unserer Leser, besonders für die jüngeren, von Nutzen sein, noch einige Worte mehr über diese beiden Seiten in unserer Errettung zu sagen.
Ich möchte, um ein Bild zu gebrauchen, unsere Errettung mit einer Linie vergleichen. Jede Linie hat zwei Endpunkte. Wir können eine solche Linie von dem einen und auch von dem anderen Endpunkte ausgebend anschauen; wir können aber in einer Linie nicht feststellen, wo beide Endpunkte sich vereinen, d. h. wo in der Linie der eine Endpunkt aufhört und der andere beginnt.
So, möchte ich sagen, spricht die Schrift von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus über unsere Errettung. Sie zeigt uns die Linie unserer Errettung gleichsam als von zwei sich scheinbar entgegenstehenden Endpunkten ausgehend. Von dem einen Ausgangspunkt geschaut, sehen wir unsere Errettung in der Verkündigung des Evangeliums und der Annahme des Heils in dem Glauben an den Herrn Jesus als eine Tat unseres Willens. Von dem anderen Ausgangspunkt geschaut, sehen wir dagegen unsere Errettung in der souveränen Gnade Gottes, in unserer Auserwählung und der Zuvorbestimmung des Lammes vor Grundlegung der Welt.
Die eine Seite wendet sich an den Menschen als das verständige und Gott verantwortliche Wesen, dem die Botschaft der Gnade vorgelegt und gesagt wird: „Wer da will, der nehme!“
Die andere Seite beginnt mit Gott und dem Ratschluß Seiner Liebe und Gnade in unserer Auserwählung nach Seiner Vorkenntnis vor Grundlegung der Welt.
Wir wenden uns noch einmal zur ersten Seite. Sie zeigt uns die Verantwortlichkeit des Menschen und Sünders. Er ist Gott voll verantwortlich für seine
Sünden und für jede Ablehnung der ihm angebotenen Gnade. Ein Baum, ein Tier kann nicht verantwortlich gemacht noch zur Verantwortlichkeit verpflichtet werden. Der Mensch ist aber für sein Tun Gott verpflichtet; ob er fähig oder nicht fähig ist, seine Verpflichtung zu erfüllen, das ändert nichts an der Sache.
Der natürliche Mensch möchte sich gern dieser seiner Verpflichtung Gott gegenüber durch Vorgabe seiner Unfähigkeit und Kraftlosigkeit entziehen. Was würde aber en Mensch antworten, wenn jemand, der ihm 1000 Mark schuldet, sagen würde, weil er nicht fähig sei, seinen Verpflichtungen nachzukommen, deshalb trage er keine Verantwortlichkeit mehr für seine Schuld ihm gegenüber?
Oder der Mensch gibt vor, weil er in Sünden geboren sei, Gott nicht verantwortlich zu sein. Aber ist er Gott nicht verantwortlich für seinen Willen? Sagt ihm nicht schon sein eigenes Gewissen, daß sein Wandel nach eigenem Willen böse ist, und ebenso, daß er für das Böse, daß er nach seinem Willen tut, verantwortlich ist? Und ist er nicht verantwortlich, wenn er Gott nicht glaubt?
Wir sehen also, daß Gott den Sünder nicht errettet gleich einem leblosen Gegenstande, sondern als eine verständige Person, die verantwortlich für ihr Tun ist. Gott stellt jeden Sünder vor die Entscheidung. Es ist kein Mensch in der Welt, zu welchem Gott nicht spräche. Die Art und Weise, wie Gott mit dem Einzelnen spricht, ist sicher sehr verschieden. Das sehen wir aus Hiob (Hiob 33,29.30). Aber jeder Mensch vernimmt Seine Sprache. Das Wort des Glaubens wird seinem Munde und Herzen nahe gebracht, und so trägt jeder völlig und uneingeschränkt die Verantwortung für die Folgen seiner Entscheidung.
Derselbe Heilige Geist, der die Welt überführt von Sünde, von Gerechtigkeit und Gericht, bringt durch die Predigt des Evangeliums auch den Menschen das Heil in Christo nahe und stellt sie vor die Willens-Verantwortlichkeit, dasselbe anzunehmen oder abzuweisen.
Gott fordert eine klare Willensentscheidung: „Willst du gesund werden?“ (Joh 5,6). „Wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst!“ (Off 22,17). Jeder einzelne muß Gott auf das Angebot Seiner Gnade ein „Ja“ oder „Nein“ sagen. Welche Geistesmächte in solchen Entscheidungsstunden auf dem Plane sind und welche Kämpfe um die Seele und in der Seele eines Menschen stattfinden, davon können wir etwas sehen in der Bekehrung des Prokonsuls Sergius Paulus (Apg 13,4-12). Der Heilige Geist in Paulus und der Satan in Elymas warben und standen im Kampf um dessen Seele. Er selbst aber mußte sich entscheiden, „dem einen anzuhangen und den anderen zu verachten“ (Mt 6,24). Er war weise und öffnete dem Wirken des Heiligen Geistes sein Herz. Entgegengesetzt haben wir aber auch Beispiele dafür, daß Menschen dem Heiligen Geiste widerstehen und das Angebot der Gnade Gottes von sich stoßen können. (Apg 7,51 und 13,46).
Alle Menschen befinden sich im Bereich der Gnade Gottes. Jeder kann aus Gnaden selig werden. Gott will, daß alle Menschen errettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit kommen (1Tim 2,4). Von Seiten Gottes ist dem Sünder kein Hindernis, zu Ihm zu kommen, in den Weg gelegt. „Wo die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden.“ (Röm 5,20). Jede Schwierigkeit, errettet zu werden, ist durch Gottes Hand beseitigt. Das Hindernis liegt im Willen des Menschen. Er ist Gott so entfremdet, daß er nicht kommen will. „Ihr wollt nicht zu Mir kommen, auf daß ihr Leben habet.“ (Joh 5,40). „Wie oft habe Ich deine Kinder versammeln wollen ... und ihr habt nicht gewollt.“ (Lk 13,34).
Der Auftrag des Herrn an Seine Knechte, alle ohne Unterschied, ob gut, ob böse, einzuladen (Mt 22,9.10), gilt den Knechten des Herrn heute noch. Das ist für uns nicht schwer zu verstehen. Jeder aber, der die Einladung hört, ist verantwortlich dafür und entscheidet selbst durch die Annahme oder Verwerfung über sein ewiges Los.
Nachdem wir die Seite der Verantwortlichkeit des Menschen für das Angebot der Gnade und ebenso die Verpflichtung der Gläubigen, alle ohne Unterschied, Gute und Böse, einzuladen, betrachtet haben, laßt uns nun noch einen Augenblick die andere Seite der unumschränkten Gnade Gottes in der Auserwählung anschauen.
Ehe wir darauf eingehen, möchte ich nochmals darauf hinweisen, daß die Auserwählung Gottes nicht zu der Botschaft gehört, die wir der Welt zu bringen haben. Sie ist allein an die Gläubigen gerichtet. Wo sich auch die Apostel an die Ungläubigen wandten, nirgends finden wir auch nur eine Spur von Andeutung an die Auserwählung, um so mehr aber finden wir sie in ihren Belehrungen an die Gläubigen.
Wenn wir auf den Brief an die Römer blicken, in welchem Paulus wie in keinem anderen das Evangelium entfaltet - so finden wir, daß er erst im 8. Kapitel, als er von dem Menschen in Christo spricht, die Auserwählung berührt. Wer sind diese Auserwählten in Römer 8,33? Es sind die, die ihr völliges Verdorbensein als Menschen im Fleisch nach Römer 1-3 erkannten und Gottes Gerechtigkeit durch Glauben an Jesum Christum erlangten.
Von der Stunde an, wo der Sünder das „Wort des Glaubens“ annimmt, ist er errettet aus der Gewalt der Finsternis und versetzt in das Reich des Sohnes Seiner Liebe. Er gehört nicht mehr zu den „Sündern“, sondern zu den „Kinder Gottes“ (Kol 1,13; Röm 5,8; Röm 8,16). Von jetzt an empfängt er ganz andere Belehrungen als zuvor, da er noch zur Welt gehörte. Jetzt wird er unterwiesen in Gottes geheimnisvoller, verborgener Weisheit. Jetzt soll er die Dinge kennen lernen, die uns von Gott geschenkt sind. (1Kor 2,7.12).
Aber nicht jedes Kind Gottes ist für diese Belehrungen aufnahmefähig. Um in die „verborgene Weisheit Gottes“ eingeführt zu werden, müssen wir zuerst zur Klarheit gelangen über den Zustand, in den der Mensch durch die Sünde gekommen ist. Dieses ist eine Grundbedingung für das geistliche Verständnis des Reichtums Seiner Gnade, welche Er gegen uns hat überströmen lassen (Eph 1,8). Diese Grundlage fehlte den Korinthern. Der Mensch im Fleisch, den Gott am Kreuze Christi beseitigt hatte, galt ihnen noch etwas; seine Kraft und Weisheit hatte noch Wert in ihren Augen. Damit zeigten sie, daß sie die Wahrheit des Kreuzes Christi, in welchem der Mensch als gänzlich verdorben für immer abgetan war, noch nicht erfaßt hatten. Das war der Grund, warum Paulus noch nicht zu ihnen als zu Geistlichen über die verborgenen Dinge der Weisheit Gottes reden konnte, sondern ihnen als Unmündigen in Christo Milch zu trinken geben mußte.
Und so ist es auch mit uns. Erst dann, wenn wir durch die Belehrungen des Wortes den völlig hilf- und hoffnungslosen Zustand des Menschen als tot in Sünden erkannt haben, ist uns die Tür des Verständnisses für die „verborgene Weisheit Gottes“ geöffnet.
Dann erkennen wir, daß der Mensch aufgehört hat, ein freies Wesen zu sein, und deshalb auch keinen freien Willen mehr hat (Unter „Freisein“ verstehen wir, nicht unter Zwang oder dem hemmenden Einfluß einer Macht zu stehen). Der Mensch aber ist ein Sklave Satans und verkauft unter die Sünde (Röm 7,14); er ist ein Gebundener und steht unter Herrschaft und kann nicht selbstbestimmend wählen.
Die Schrift erkennt an, daß er sowohl einen Willen als auch, daß er Verstand hat. Sein Wille wie sein Verstand sind nicht durch die Sünde zerstört. Aber von einem freien Willen redet die Schrift nicht, und von seinem Verstand sagt sie, daß derselbe verfinstert ist (Eph 4,18) und daß der Gott dieser Welt den Sinn der Ungläubigen verblendet hat (2Kor 4,4). Der natürliche Mensch mag sich dem Namen nach frei nennen und von seinem freien Willen reden, der Tatsache nach aber ist er verfinstert, verblendet und ein Gebundener Satans. Er will frei sein, aber nur frei und unabhängig von Gott, um seinen eigenen Willen zu tun. Ein solcher „freier“ Wille ist Gesetzlosigkeit, ist Sünde und stammt vom Satan.
So war es nicht von Anfang. Im Paradiese war er frei im Gebrauch seines Willens. Er traute aber Satan mehr als Gott. Er stellte seinen Willen unter Satans Leitung und wurde ein Sünder. Von da an leitet Satan den Willen des Menschen so völlig, daß auch nicht einer gefunden wird, der Gott suche. Er will weder Gott noch das Gute und zieht die Dinge der Weit der Gnade Gottes vor. Wir sehen dieses ja in der Absage der Einladung Gottes zum großen Abendmahl.
Dem Jungbekehrten ist dies eine furchtbare Entdeckung. Und manche Gläubige sträuben sich, einen solchen Abgrund des Verlorenseins, wie das Kreuz Christi ihn uns zeigt, anzuerkennen. Aber es bleibt nur ein „Entweder - Oder“. Entweder der alte Mensch kann verbessert, zurechtgebracht und geheiligt werden, oder er ist verloren, tot in Sünden und so unter der Macht Satans, daß ihm nur durch das Eingreifen einer anderen Hand Rettung werden kann. Nun, die Schrift läßt uns keinen Zweifel, daß der Mensch nicht aus sich selbst, sondern allein durch das Dazwischentreten der souveränen Gnade Gottes gerettet werden kann.
Das ist eine wichtige Lektion, die wir meistens als Jungbekehrte lernen. Haben wir sie gelernt, dann erkennen wir, daß unser Kommen zu Christo eine Folge des Zuges des Vaters zum Sohne war, daß wir aus uns selbst gar nicht den Willen und die Kraft zum Kommen hatten, so wie der Herr sagt: „Niemand kann zu Mir kommen, es sei denn, daß der Vater ihn ziehe.“ (Joh 6,44).
Ein Bruder sagte einmal: „Jeder kann in die Versammlung kommen“. Ein anderer erwiderte: „Nein, nicht jeder kann kommen; der, dessen Beine gebrochen sind, kann nicht kommen“.
Von solchem Gesichtspunkte aus sagt der Herr: „Niemand kann zu Mir kommen“. Nicht, als ob Gott jemand am Kommen hindere - sondern der Mensch ist tot in Sünden, daß, wenn Gott nicht eingreift, er aus sich selbst sich nicht von der ihn beherrschenden Macht befreien und zu Christo kommen kann. Gott muß den Anfang machen. In dem Ziehen des Vaters wird uns die göttliche, anfängliche Seite, in dem Kommen unsere Seite gezeigt. Wir mußten „kommen“, aber unser Kommen war die Wirkung des Zuges des Vaters.
Das erkannten wir noch nicht in der Stunde, als wir verloren zum Heiland kamen. Damals sahen wir in unserem Kommen nur die Tat unseres Willens, jetzt aber sieht der Gläubiggewordene den Zug dessen, der uns errettet hat „nach Seinem eigenen Vorsatz und der Gnade, die uns in Christo Jesu vor den Zeiten der Zeitalter gegeben ist“ (2Tim 1,9), den Zug des Vaters, der uns „von Anfang erwählt hat zur Errettung“ (2Thes 2,13), der uns auserwählt hat vor Grundlegung der Welt.
Hätte Gott Sich nicht nach Seinem Ratschluß und Vorkenntnis vor ewigen Zeiten über uns erbarmt, so wäre „kein Fleisch vor Ihm gerechtfertigt worden“ (Röm 3,20). Da wäre keiner gefunden, der aus eigener Wahl Gott geglaubt hätte. Der Mensch glaubte Satan, aber nicht Gott.
Gott Selbst sagt: „Da ist kein Verständiger, da ist keiner, der Gott suche“. (Röm 3,11).
So war es von dem Tage an, als Gott den Menschen aus dem Garten Eden treiben mußte. So gänzlich verdorben war sein Geschlecht, daß nur Gnade eine Familie in der Arche rettete. Und als dies neue Geschlecht wieder in Götzendienst sank, führte Gnade wieder einen Mann heraus und machte ihn zum Stammvater des auserwählten Volkes, und dieses Volk in Verbindung mit den Nationen tötete den Heiligen und Gerechten.
Und ist es nicht Gnade, unfaßbare Gnade, daß Gott aus dieser Welt, die Seinen Sohn kreuzigte, Menschen erwählte, sie rettet und bestimmt, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein? Dieser Liebesplan entstand in Seinem Herzen, und Er ganz allein führte ihn aus. Er ist es, der auserwählt, Er ist es, der zuvorerkannte und zuvorbestimmte, der beruft, rechtfertigt und verherrlicht - alles ist Gott! (Röm 8,29.30). Die Engelwelt staunt, und es gelüstet sie, da hineinzuschauen. Und müssen wir nicht staunen? Voll Bewunderung darüber ruft Paulus aus: „Was sollen wir hierzu sagen?“ „Wenn Gott für uns ist, wer wider uns?“ Wer wird wider Gottes Auserwählte Anklage erheben? (Röm 8,31.33). Müssen wir nicht über einen solchen Vorsatz der Gnade vor Grundlegung der Welt, „vor den Zeiten der Zeitalter“, anbeten?
Um mich nicht zu wiederholen, möchte ich weiteres über die göttliche Seite unserer Errettung in der Auserwählung nicht mehr schreiben, sondern nur auf das früher Gesagte (Handr. 1926, S. 215) hinweisen. Ich komme deshalb nur noch kurz auf den Anfang unserer Betrachtung zurück.
Wir haben gesehen, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn wir beides, Gottes Auserwählung und die Verantwortlichkeit des Menschen, in Einklang bringen wollen. Beides sind Wahrheiten, über welche die Schrift mit großer Klarheit spricht, aber Gott hat jeder ihren bestimmten Platz angewiesen, wo wir sie lernen und wo sie bezeugt werden sollen.
Wenn uns die Schrift die Harmonie der beiden nicht enthüllt
(die ohne Zweifel besteht und die Gott kennt), wollen wir uns dann anmaßen, sie enthüllen zu können?
Die Schrift enthält manche Dinge, wo der Mensch fragt: „Warum?“ Gott sagt uns nicht alles; Er ist Gott, und wir müssen uns bewußt bleiben, daß wir nur Geschöpfe sind. Selbst der stolze König Nebukadnezar, wohl der größte Herrscher, den je die Welt gesehen, mußte lernen, daß es auch ihm nicht zustehe, zu fragen: „Was tust Du?“ (Dan 4,35). Und wenn Gott es uns sagen würde, wären wir fähig, mit dem bißchen Menschenverstand Seinen Gedanken zu folgen?
Die eine Seite, die der Verantwortlichkeit des Menschen, können wir gut verstehen, weil wir Menschen sind; die andere Seite der Auserwählung Gottes vermögen wir nicht mit unserer Vernunft zu erfassen. Nicht als ob sie wider, sondern weil sie über der menschlichen Vernunft ist. Könnten wir sie erfassen, dann hätte der Lügner von Anfang die Wahrheit gesprochen: „Ihr werdet sein wie Gott“ (1Mo 3,5). Unserem Erfassungsvermögen aber sind Grenzen gezogen, und wir sind auf Glauben angewiesen.
Wenn Gott uns die beiden Seiten einzeln, jede für sich an ihrem Platze, zeigt, dann sollte uns das schon deutlich genug sagen, daß wir nicht fähig sind, beide zugleich mit einem Blick in ihrem Zusammenhang zu erfassen, sondern nur einzeln, stückweise; und es sollte uns weiter Beweis genug sein, daß die Wahrheit nicht in der Mitte zu suchen ist, wie etliche sagen, sondern die Wahrheit beider Seiten in ihrer ganzen Tragweite und Bedeutung an dem Platze gefunden wird, wo Gott jede hingestellt und sie uns offenbart hat.
Die Söhne Korahs sangen: „Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküßt“ (Ps 85,10). Beide begegneten sich im Kreuze Christi. Wenn wir auch Gottes Auserwählung und des Menschen Verantwortlichkeit nicht in ihrer Harmonie zu erfassen vermögen, so führen doch beide - und das können wir sehen - zu Christus. v. d. K.