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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 5 -Jahrgang 1917
Joh 20,1-18 - „Ein Herz für den Herrn“Joh 20,1-18 - „Ein Herz für den Herrn“
Der Hirte war geschlagen, und die Schafe der Herde waren zerstreut. Die Finsternis hatte ihre ganze Macht entfaltet. Furchtbares hatte die kleine Jüngerschar erlebt. Ihr banges Ahnen über das Los ihres Meisters hatte sich schrecklich erfüllt. Man hatte Ihn gefangen, verurteilt, gegeißelt, gekreuzigt, und Er, dem Legionen Engel zur Verfügung standen, hatte Sein Haupt im Tode geneigt. All ihre Hoffnung war nun dahin. Liebende Hände brachten Spezereien und „feine“ Leinwand und betteten königlich Seinen Leib in die neue Gruft Josephs von Arimathia. Dann wälzten sie einen großen Stein vor die Tür, damit niemand Ihn antasten möge, und hielten Sabbath mit Jesus im Grabe - Trost- und Hoffnungslosigkeit im Herzen.
So brach der erste Wochentag an. Und kaum ist er angebrochen, da treibt es Maria Magdalene hin zum Grabe, dorthin, wo Er liegt, den ihre Seele liebt. Es ist noch finster, aber Finsternis kann sie nicht zurückhalten. Sie eilt zum Grabe. Und welche Bestürzung! Sie sieht: der Stein ist fort und das Grab ist leer. Jesus ist nicht mehr da. Sie weiß nichts von Seiner Auferstehung. Noch unter dem Eindruck des Erlebten, Entsetzlichen der letzten Tage, denkt sie nichts anderes, als der Haß habe Seine Feinde nicht ruhen lassen, auch noch Seinen Leib zu nehmen und der Schmach zu weihen. Neues Herzeleid füllt ihre Seele. Sie eilt, sie läuft zu den Jüngern mit der Schreckenskunde: „Sie haben den Herrn aus der Gruft weggenommen.“
Petrus und Johannes gehen zur Gruft. Sie sehen, sie gehen hinein - heraus - und wieder heim. Aber Maria geht nicht heim. Sie kann nicht fort gehen von der Stätte, wo er gelegen. Allein steht sie draußen und weint, von Schmerz überwältigt. Allein ist sie mit ihrem Weh und Leid, und doch nicht allein. - Einer sieht ihren Kummer - Er, um den sie weint. Noch einmal bückt sie sich vornüber und erblickt zwei Engel. So groß und hehr Engel auch sind, ihr Herz verlangt nach Ihm. Sie können ihr Verlangen nicht stillen. Sie wendet sich zurück - und sieht Jesum stehen, meinend, es sei der Gärtner.
Welche Liebe! Wie groß, wie tief, wie innig zu ihrem Herrn! Ja, sie hatte Ursache, Ihn zu lieben. Hatte Er sie nicht erlöst von sieben Dämonen? Diese siebenfache Befreiung war gleich einem siebenfachen Bande, das ihre Seele an Ihn kettete. Und mehr. Was hatte sie bei Ihm gefunden, an Ihm gesehen, von Ihm gehört? Konnte sie anders als weinen, als sie Ihn nicht mehr hatte? Und ihr Heiland ist auch mein und dein Heiland. Er hing für uns am Kreuz und stieg für uns in das Grab. Für uns hat Er den Tod geschmeckt und die Strafe zu unserem Frieden auf Sich genommen. Er befreite Maria von sieben Dämonen. Bist du und ich von weniger gelöst? Sind nicht solche da, die bekennen müssen, ihre Zahl war Legion? Wo ist die Liebe, die wir bei Maria finden? Was ist Er uns? Besitzt Er unser Herz? Hier sehen wir, was erste Liebe ist, eine Liebe, die aller anderen Liebe voran steht.
Vielleicht sagst du: Einmal war es so, da nahm Er den ersten Platz in meinem Herzen ein. O, beuge dich in Scham, in Bekenntnis und Buße. Blicke zurück nach der Grube, aus der Er dich zog. Sieh' an Seine
Liebe, mit der Er dich gesucht, erlöst und getragen! Er, Seine Liebe ist die bewegende Kraft unserer Liebe. Wir lieben, weil Er uns zuerst geliebt. Seine Liebe gewann unser Herz, als wir noch Sünder waren, und Seine Liebe gewinnt unser Herz als Kinder Gottes. Trinke aus dieser Quelle, und du wirst nicht mehr dürsten, und Liebe wird von dir strömen.
Liebe muß die Gemeinschaft des Geliebten haben, sie folgt, wohin Er geht. Jonathans Seele verband sich mit David, als er ihn von der Gewalt des Starken, des Riesen, befreite; aber seine Liebe ging nicht so weit, ihm in die Höhle zu folgen und seine Verwerfung zu teilen. Wie anders bei Ruth. Sie sagt: „Wohin du gehst, will ich gehen, und wo du weilst, will ich weilen; dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott; wo du stirbst, will ich sterben und daselbst will ich begraben werden.“ Ist dies unsere Stellung zum Herrn? Bei Maria war es so. Bruder! Schwester! Wir sind in den letzten Tagen. Die Liebe vieler erkaltet. Mehr als je ist Er der Verworfene. Tritt an Seine Seite. Geh' dorthin, wo Er ist - außerhalb des Lagers. Teile Seine Schmach. Erfreue Sein Herz. Bekenne Ihn. Sprich zu den Verlorenen. Ermutige die Seinigen. Erzähle ihnen von dem Geliebten, und die erkalteten Herzen werden warm werden und du selbst wirst trinken von Seiner Liebe.
Maria ahnt nicht, wie nahe ihr der Herr ist. Sie suchte Ihn so, wie sie Ihn nach dem Fleische gekannt hatte. Sie sollte Größeres erfahren. Er hatte sie längst gesehen. Was mußte es für den Herrn sein, Maria so in ihrer Liebe zu Ihm zu sehen. Was sagten Ihm diese Tränen? Sie redeten mehr als Worte. Hat der Herr je so etwas bei uns gesehen? Die Welt entbehrt Ihn nicht. Aber ihr fehlte Er. Fehlt Er uns? Vermissen wir Ihn hier? Fühlen wir, daß diese Welt kein Platz für uns ist? Können wir dort sein, wo Er nicht ist? Er fragt: „Wen suchest du?“ Er fragt auch uns! Wußte Er es nicht, daß Er ihr einziges Verlangen war? Er wußte es, aber Er will aus ihrem Munde die Worte der Liebe hören. Wunderbare Liebe, die Gefallen an unserer Liebe findet! Wir kennen diese Liebe, die Kostbarkeit der Gemeinschaft mit Ihm so wenig, weil wir sie so wenig suchen. Daß Tersteegens Wort:
Ich will, anstatt an mich zu denken,
Ins Meer der Liebe mich versenken sich auch in unserem Leben verwirkliche! Mit welcher Inbrunst würden wir dann rufen: Amen, komm, Herr Jesu!
Der Herr sagte nur ein Wort: „Maria“. Aber diese Stimme, dieser Klang berührte ihr ganzes Herz. Das war die Stimme, die nur das Schaf des Hirten kennt. Was ging durch Marias Seele, als sie dieses „Maria“ hört! Sie wendet sich um und ist auf einmal bei Ihm, dem geliebten Herrn (Werden wir nicht etwas Ähnliches erleben, wenn der Herr uns ruft?). Keine Furcht, keine Verwunderung, keine Frage kommt über ihre Lippen - nur ein Wort: „Rabbuni“. Sie hat genug. Sie ist bei Ihm.
Sie weiß noch nichts von dem Herrlichen, was geschehen ist. Sie will so, wie sie vor Seinem Tode tat, Ihm als dem Messias Israels huldigen. Sie meint, Er sei wieder in das alte Verhältnis zu Seinem Volke zurückgekehrt und will Ihn freudig so begrüßen. Solche Huldigung will der Herr aber jetzt nicht annehmen. (Später, wenn Er zu Seinem Volke vom Himmel zurückkommt, wird Er sie annehmen). Er sagt ihr: „Rühre Mich nicht an, denn ich bin noch nicht aufgefahren.“ Erst müsse Er „auffahren“ und erst danach kann wieder eine Berührung auf dem Grunde des alten Verhältnisses stattfinden. Sie will sich Sein erfreuen, so wie sie Ihn „nach dem Fleische gekannt“ hat, „aber wir kennen Ihn jetzt nicht mehr also“ (2Kor 5,16). Dies soll auch Maria lernen, und so zeigt der Herr ihr in dem „noch nicht“, daß dies jetzt nicht mehr am Platze ist. Ehe dies wieder geschehen kann, muß Er erst auffahren und andere Dinge, ein Neues - der große Plan Gottes: Seine Gemeinde - muß zur Ausführung kommen. Sie ahnt noch nichts von diesem Seinem neuen Stande, als nicht mehr lebend in der Welt. Sie versteht noch nicht, daß das irdische Verwandtschaftsverhältnis (mit Israel dem Fleische nach) aufgehoben und eine höhere, himmlische Verwandtschaft den Seinigen jetzt erschlossen ist. Zu dieser soll ihr liebendes Herz hingeleitet werden, und so fügt der Herr dem „rühre Mich nicht an“ sofort die Botschaft von dem neuen Verhältnis und der himmlischen Verwandtschaft an: „Mein Vater ... euer Vater.“
Fühlte Maria sich verletzt durch das „Rühre Mich nicht an“? Kein Gedanke daran. Wie hätte sie können! Mochte sie auch den Inhalt der Botschaft noch nicht verstehen, aber glücklich, für den Herrn etwas tun zu können, ist sie sofort und mit Freuden bereit, Seine Botschaft den Jüngern zu überbringen. Solche Bereitwilligkeit und ein freudiger Dienst wird nur bei denen gefunden, deren Herz ungeteilt dem Herrn gehört. Hat der Herr nichts für dich zu tun? Muß Er an dir vorübergehen und diesen oder jenen kleinen Dienst einem anderen anvertrauen, weil dein Herz nicht ungeteilt ist? Seine Frage an Petrus ist: „Hast du Mich lieb?“ dann erst folgt: „Weide Meine Schafe.“ Der Herr schenke es uns!
Den meine Seele liebt, der hat nicht Seines Gleichen,
D'rum muß auch Seiner Lieb' all and're Liebe weichen.