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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 23 - Jahrgang 1938
1Kor 8,1 – Die Erkenntnis bläht auf1Kor 8,1 – Die Erkenntnis bläht auf
Wir kennen es alle, das Wort des Apostels Paulus: „Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber erbaut.“ Es ist eine Waffe geworden in rechten und unrechten Händen, am richtigen und am falschen Fleck, zum Nutzen wie zum Schaden. „Die Erkenntnis bläht auf.“ Schnell erklärt man, müde geworden durch die vielen einander entgegenstehenden Auslegungen des Wortes Gottes, daß es besser sei, von einer Vermehrung seiner Erkenntnis Abstand zu nehmen und sich allein der praktischen Betätigung christlicher Liebe zu widmen. „Die Liebe aber erbaut“ - seht, da steht es ja! Und indem man so redet, ist zugleich, mehr oder weniger bewußt, das Urteil gesprochen über alle, die sich durch den Geist Gottes gern immer tiefer in Sein Wort und Seine Wahrheiten einführen lassen wollen.
Wozu hat uns denn dann Gott Sein Wort gegeben und bis auf den heutigen Tag aufbewahrt? Damit wir es als ein Buch mit sieben Siegeln betrachten? Merken wir nicht, daß sich hinter solchen Worten, wie ich sie eben anführte, ein großer Mangel an Vertrauen gegen Gott verbirgt und - auch ein wenig Oberflächlichkeit und Trägheit? Spüren wir nicht den Triumph des Feindes? Endlich hat das liebe Ich - ich will einmal ganz deutlich reden - eine Entschuldigung gefunden für die heute außerordentlich große Vernachlässigung des Wortes Gottes. Man gleicht eben in unserer ablenkungsreichen Zeit soviel lieber dem Schmetterling als der Biene. Beide lieben die Süßigkeit der Blumen, aber der Schmetterling flattert von einer Blüte zur anderen; wenn jedoch die Biene, so sagt man, eine wirklich gute Honigquelle gefunden hat, bleibt sie beharrlich sitzen, solange, bis sie alle Süßigkeit herausgeholt hat.
Doch was will uns dann das in der Überschrift angeführte Wort sagen? „Die Erkenntnis bläht auf.“ Das sagt derselbe Apostel, der immer wieder schreibt: „Ich will nicht, daß ihr unkundig seid, Brüder13!“ - der so oft fast vorwurfsvoll fragt: „Wisset ihr nicht ...?“ und auch das herbe Wort sagte: „Wenn jemand unwissend ist, so sei er unwissend!“ (1Kor 14,38). Gibt das nicht zu denken? Es ist also nur denkbar, daß der Apostel in unserer Stelle nicht etwa jegliche Erkenntnis, sondern vielmehr das Wie des Erkennens, die Art der Erkenntnis im Auge hat, oder deutlicher gesagt: die Herzensstellung dessen, der das Wort erforscht und daraus seine Erkenntnis mehrt. Wir können ja bei allem unserem Tun nicht genug prüfen, ob unsere Herzen im Lichte Gottes sind oder ob unser Ich etwas sucht für sich. Es kommt alles an auf die Echtheit oder Verkehrtheit unserer Beweggründe.
Deutlicher sehen wir dies, wenn wir weiter lesen: „Wenn jemand sich dünkt, er erkenne etwas, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen soll.“ (1Kor 8,2). Erkennen sollen wir, aber auf das Wie kommt es an! „Wenn jemand meint, etwas zu sein, da er doch nichts ist, so betrügt er sich selbst.“ (Gal 6,3). Das ist der wichtige Punkt, die Quelle so vieler Beunruhigung und Verwirrung. Ernst und entschieden redet derselbe Apostel über solch aufgeblasenes Wesen an vielen Stellen seiner Briefe. So in 1Tim 6,3f.: „Wenn jemand ... nicht beitritt den gesunden Worten, die unseres Herrn Jesus Christus sind, und der Lehre, die nach der Gottseligkeit ist, so ist er aufgeblasen und weiß nichts ...“ Wissend in den eigenen Augen und „nichts wissend“ in den Augen Gottes! Solche Aufgeblasenheit finden wir auch in jenem Selbstzeugnis aus dem Sendschreiben an Laodicäa: „Ich bin reich und bin reich geworden und bedarf nichts.“ Der „treue und wahrhaftige Zeuge“ aber sagt: „Du weißt nicht, daß du der Elende und der Jämmerliche und arm und blind und bloß bist.“ (Off 3,17). Wie unwissend!
Gewiß gibt es da viele Grade und Abstufungen. Die große, entscheidende Frage ist die unserer Beweggründe. Sie werden - leider muß man es sagen - oft erst bei der Darbietung des Wortes offenbar; oft fühlen die Zuhörer mehr oder weniger deutlich, daß es dem Redenden nicht so sehr darauf ankommt, ihnen etwas mitzuteilen an Segen, sondern daß er nur beschäftigt ist mit dem angesammelten Schatz seiner Erkenntnis. Diese Beobachtung aber kann oder sollte niemals eine Waffe werden wider die, die aus echter
Liebe zu Gottes Wort immer wieder an diesem unerschöpflichen Brunnen ihren Durst zu stillen begehren, die immer wieder zu dieser einzigen Kraftquelle des Christen zurückkehren. Selbst das Gebet ist nichts, wenn es nicht immer wieder von Gottes Wort befruchtet und in die rechten Bahnen gelenkt wird, wenn es nicht in wirklichem Einklang steht mit Seinen in Seinem Wort niedergelegten Gedanken.
Wie unendlich freundlich bemühte sich der Herr in jener uns allen bekannten denkwürdigen Nacht, dem „Lehrer Israels“ neues Wissen zu dem seinigen (Joh 3,2) hinzuzufügen - nicht ohne einen leisen Tadel ob seines „Nichtwissens“ (Vers 10). Welch einzigartige Unterrichtsstunde erlebten die Jünger auf dem Wege nach Emmaus, sie, die viel zu wenig auf das, „was die Propheten geredet haben“, geachtet hatten (Lk 24,25). Und war es etwa kein „gutes Teil“, was Maria erwählt hatte, als sie „Seinem Worte zuhörte“? (Lk 10,39.42). Wir sind auf verkehrtem Wege, wenn wir alle Erkenntnis verwerfen. Paulus flehte für die Epheser, daß ihnen der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der „Vater der Herrlichkeit“, doch „erleuchtete Augen des Herzens“ geben möge. „Damit ihr wisset ...“, sagt er (Eph 1,17f). Sie sollten die Heilsgüter kennen, genießen und im Leben verwirklichen.
Schon wenn dieser Versuch gemacht wird - das Erkannte auch stets zu verwirklichen, wie wir es in der bekannten Stelle von dem Schriftgelehrten Esra lesen -, schon dann wird uns aufgehen, wie wenig Grund wir haben, uns ob unserer Erkenntnis „aufzublähen“. Und es gibt noch einen anderen, leichter abzulesenden Gradmesser. Wahres Licht und Wärme gehen in der Regel zusammen. „Erleuchtete Herzen“ werden warm. Wenn wir unsere Erkenntnis durch fleißige Arbeit unter Gebet vermehren aus Gottes Wort, dann mögen wir in erster Linie darauf achten, daß unsere Herzen dabei warm werden. Nicht der Kopf allein! Der Kopf von der Arbeit, und das Herz von dem inneren Gewinn; aber die rechte Erkenntnis wird da gewonnen, wo Kopf und Herz zugleich warm werden.
Von einem warmen Herzen spricht der Apostel auch in unserer Stelle. Denn er fährt - auf den ersten Blick überraschend - fort: „Wenn aber jemand Gott liebt, der ist von Ihm erkannt.“ (1Kor 8,3). Das will, soweit ich es verstehe, sagen: Wenn unsere Herzen warm sind im Anschauen der großen Liebe Gottes und voller Liebe zu Ihm, der uns zuerst geliebt hat, dann beschäftigen wir uns gewiß nicht mehr damit, was wir für weise und treffliche, „fortgeschrittene“ Leute sind, wieviel wir wissen und erkennen, sondern werden uns in wachsendem Maße bewußt, daß wir in unserer ganzen Armseligkeit vor Seinem Angesicht offenbar sind, daß wir „von Ihm erkannt“ sind. Im Gegenteil, unter solchen Wirkungen Seines Wortes werden wir, anstatt ob unseres Wissens „aufgeblasen zu sein“, immer mehr einsehen, wie wenig wir wissen; unsere Erkenntnis scheint sich keineswegs zu vermehren, sondern im Gegenteil, angesichts der ganzen Fülle des Stoffes wird sie uns immer kleiner und unzureichender vorkommen.
Um so weiter, denke ich, werden wir dann „unseren Mund auftun“, damit „Er ihn fülle“.
Fr. v. Ki.
13 Zweimal in demselben Briefe: 1Kor 10,1; 12,1; ferner Röm 11,25; 2Kor 1,8; 1Thes 4,13.↩︎