Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 17 - Jahrgang 1932
Joh 10,12.13 - Wer ist der Mietling? Die Hirtenrede des Herrn
Joh 10,12-13 - Wer ist der Mietling? Eine Studie über die Hirtenrede des Herrn (1)Joh 10,12-13 - Wer ist der Mietling? Eine Studie über die Hirtenrede des Herrn (1)
10In den Unterweisungen des Herrn Jesus spielen die Bilderreden eine bedeutende Rolle. Zur Verdeutlichung und oft auch zur Verhüllung Seiner Gedanken hat Sich der Herr sehr oft bildlicher Redeweise bedient. Vom Gesichtspunkt der sprachlichen Form und der inhaltlichen Auslegung aus können wir diese Aussprüche des Herrn in drei Gruppen zerlegen, in:
1. Einzelvergleiche („Similes“ und „Metaphern“),
2. Allegorische Parabeln und
3. Eigentliche Parabeln.
Für die Vorbereitung des Verständnisses unserer Frage ist nur ein kurzer Blick auf die beiden letzteren erforderlich.
Ein eigentliches Gleichnis ist eine Erzählung aus dem Natur- oder Menschenleben, in der ein Vorgang aus der Geschichte des Reiches Gottes dargestellt werden soll. Ein solches Gleichnis hat darum stets eine fortschreitende Handlung, ist gewissermaßen eine Geschichte, die auch ohne ihren höheren Sinn und ohne das innere Verständnis desselben, zum Beispiel von einem Kinde, dennoch als eine in sich durchaus fertige Erzählung empfunden wird. Bei einem solchen Gleichnis hat die Auslegung darauf zu achten, daß sie nicht etwa alles einzelne erklären will. Sonst kommt sie in die gekünsteltsten, unnatürlichsten und pressendsten Falschdeutungen hinein. Bei einer Allegorie dagegen ist jeder einzelne Zug von Bedeutung. Das Bild hat keine auch nur formale Selbständigkeit dem Gedanken gegenüber, oder anders ausgedrückt: „Das Gleichnis ist ein Gemälde, die Allegorie ein durchscheinendes Bild“ (Prof. Godet).
Aber nicht alle Gleichnisse des Herrn sind nach obiger Regel zu erklären. Das Gleichnis vom „viererlei Ackerland“ in Mt 13 ist ein deutliches Beispiel, daß es bei manchen Gleichnissen sehr wohl darauf ankommt, mehr als nur den „Vergleichungspunkt“ und einige Hauptzüge zu deuten, gibt doch der Herr Selber eine bis in die kleinsten Einzelheiten gehende Deutung der verschiedenen Züge dieser Parabel! Dasselbe ist, fast noch deutlicher, bei dem Gleichnis „von dem Unkraut unter dem Weizen“ der Fall. Auch da braucht man nur die in dem gleichen Kapitel von dem Herrn Selbst gegebene Deutung zu lesen, um vor einer zu starren Anwendung der gerade in der heutigen Gleichnisauslegung oft und zum Teil auch mit Recht betonten Regel bewahrt zu werden, daß nicht die Einzelzüge, sondern nur der Hauptpunkt (das „Tertium Comparationis“) und wenige unmittelbar damit zusammenhängenden Hauptmomente zu erklären seien. Man darf also die Unterscheidung nicht zu starr in die zwei Klassen Allegorien und Parabeln durchführen, sondern muß beachten, daß es auch sehr wohl Zwischenglieder gibt, d. h. Bildworte, die sowohl das Wesen des Gleichnisses als auch dasjenige der Allegorie an sich tragen. Zu diesen Zwischenformen glauben wir auch die drei Gleichnisse in Johannes 10 rechnen zu müssen. Sie sind zu plastisch und bildhaft, als daß verkannt werden sollte, daß in ihnen jeder Zug einer geschichtlichen Wirklichkeit entspricht.
Wir sagen: „drei Gleichnisse“ und sind uns dabei wohl bewußt, daß wir mit dieser Zahl zunächst manchen Leser in Erstaunen oder gar Befremden versetzen. Aber wir hoffen, in dem Folgenden den Nachweis bringen zu können, daß sich jene „Hirtenrede“ des Herrn in Wahrheit in drei sehr ähnliche und dennoch in sehr bemerkenswerter Weise voneinander verschiedene Einzelgleichnisse zerlegt, was für die Auslegung von der allergrößten Bedeutung ist und vor manchen, allerdings weit verbreiteten Falschdeutungen bewahrt. Vorausgeschickt muß nur noch werden, daß die große, orientalische, undogmatische Beweglichkeit der Einzelbilder es auch in den Gleichnissen des Herrn zuweilen mit sich bringt, daß unter Umständen ein und dasselbe Bild, sogar in ein und demselben Kapitel, etwas Verschiedenes bedeutet.
Soweit wir sehen, haben wir in Joh 10 folgende drei Gleichnisse:
1. Das Gleichnis vom Hirten: Vers 1-6,
2. Das Gleichnis von der Tür: Vers 7-10.
3. Das Gleichnis von dem guten Hirten: Vers 11-18.
Erst im Zusammenhang dieser drei Gleichnisse ist es möglich, die obige Frage nach der Bedeutung des „Mietlings“ richtig zu beantworten, und daher möge man es auch nicht als eine unnötige Weitschweifigkeit ansehen, wenn wir diese Einzelfrage aus dem dritten Gleichnis in einen so weiten Rahmen stellen.11
I. Das Gleichnis vom (rechtmäßigen) Hirten. Vers 1-6.
Die ersten Verse des 10. Kapitels des Johannesevangeliums werden oft dazu benutzt, den Sündern die Notwendigkeit und Art der Errettung ans Herz zu legen. Man sagt: Der Sünder muß zu dem Heiland kommen, wie man hier durch die Tür, die ja nach Vers 9 der Herr Jesus Selber sei, hindurchschreiten müsse. Wer nicht Christus als die „Tür“ erfahren hat, ist ein „Dieb“ und ein „Mörder“ und geht ewig verloren. So wird dies Gleichnis dazu verwandt, die Unterlage zu einer Evangelisationsversammlung zu sein, und gewiß ist auch schon viel Segen von dieser Art der Betrachtung und Anwendung ausgegangen. Diejenigen, die etwas tiefer sehen, betonen dann noch mit Recht, daß doch der durch die Tür Hindurchgehende als „Hirte“ bezeichnet wird (V. 2), so daß das Gleichnis nicht nur so ganz allgemein die Wahrheit ausspreche, daß ein Sünder durch Christus als die Tür hindurchgegangen sein müsse, sondern daß der Herr damit sagen wolle, daß nur diejenigen in Seiner Herde, das heißt Seiner Gemeinde, eine Hirtentätigkeit ausüben konnten, die zuerst selber das Heil erfahren haben. Aber auch bei dieser Auffassung bleibt das vorliegende Gleichnis ein Evangelisationstext, wenn auch mit einer gewissen Beschränkung auf einen begrenzten Kreis.
Dennoch muß mit Nachdruck betont werden, daß weder die eine noch die andere Auffassung die an dieser Stelle von dem Herrn ausgesprochenen Gedanken wiedergibt. Natürlich ist es richtig, daß jeder, der das Heil erlangen will, das nur durch das Hindurchschreiten durch Jesum Christum als die „Tür“ erreichen kann, aber davon spricht der Herr nicht an dieser Stelle, sondern an manchen anderen, ja, wie wir mit Bestimmtheit zu erkennen glauben, sofort in den diesen ersten sechs Versen folgenden Worten, aber nicht in jenen sechs Versen selber.
Die besagte Auffassung, die wohl als Anwendung, aber nicht als Auslegung ihr Existenzrecht hat, steht nämlich, insofern es sich um die Erklärung des Sinnes handelt, den der Herr Jesus Selber vor Augen gehabt hat, sowohl mit dem Vorangegangenen als auch mit dem Folgenden im Konflikt.
Zuerst muß beachtet werden, daß das 10. Kapitel des Johannesevangeliums nicht an heilssuchende Seelen, sondern an Pharisäer gerichtet ist, die soeben in der feindlichsten Weise einen der Jünger des Herrn , den geheilten Blindgeborenen, aus der Synagoge hinausgeworfen hatten (Joh 9, bes. Vers 34). Aus dieser gespannten Lage ist die „Hirtenrede“ herausgewachsen! Bei dieser Gelegenheit hatte der Herr soeben zu Seinen Feinden gesagt: „Zum Gericht bin ich in die Welt gekommen, auf daß die Nichtsehenden sehen und die Sehenden blind werden“. Und als dann die Pharisäer ihr Blindsein in Abrede stellten, hatte Er hinzugefügt: „Wenn ihr blind wäret, so würdet ihr keine Sünde haben, nun ihr aber saget: wir sehen, so bleibt eure Sünde“ (Kap. 9,39-41). Direkt im Zusammenhang und in unmittelbarer Fortsetzung dieser Seiner ernsten Worte an Seine Gegner fährt der Herr, zu den Pharisäern sprechend, dann weiter fort: „Wahrlich, wahrlich, Ich sage euch: Wer nicht durch die Tür in den Hof der Schafe eingeht, sondern anderswo hinübersteigt, ist ein Dieb und ein Räuber“ (Vers 1). Also ist die Hirtenrede des Herrn weit davon entfernt, eine Einladung an heilsverlangende Seelen zu sein, in Wahrheit ein ernstes Wort des Gerichts und der Scheidung an die Feinde Jesu! Christus will sagen, daß die Pharisäer „Diebe“ und „Räuber“ sind, die in den Hof - man sollte besser übersetzen: in die „Hürde“ - des Hauses Israel eingedrungen sind. Denn daß Er mit der Hürde die israelitische Theokratie meint, geht deutlich aus Vers 16 hervor, wo Er ausdrücklich bezeugt, daß Er noch „andere“ Schafe habe, die nicht aus „dieser“ Hürde seien, womit die gläubigen Heiden gemeint sind, die ursprünglich nicht zu dem Volke und den Segnungen Israels Zutritt gehabt hatten. (Eph 2,11-22)
Wen meint Er nun mit dem „Hirten“, der durch die „Tür“ hindurchschreitet und dem der Türhüter auftut?
Auch hier muß man sich hüten, zu vorschnell mit der Antwort bereit zu sein. Sonst kommt man leicht mit dem Folgenden in Widerspruch, genau so, wie man bei der Erklärung der „Diebe“ und „Räuber“ mit dem Vorangegangenen in Konflikt geraten war. Wer der Hirte ist, geht so deutlich aus Vers 4 und 5 hervor, daß man sich wundert, wie ein so klares Wort so oft und so weithin mißverstanden werden konnte. „Wenn er (der Hirte) seine eigenen Schafe alle herausgebracht hat, geht er vor ihnen her, und die Schafe folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie nicht folgen, sondern werden vor ihm fliehen, weil sie die Stimme des Fremden nicht kennen.“
Liest man zu diesen Worten noch hinzu, was der Herr hinterher in dem gleichen Kapitel sagt: „Meine Schafe hören Meine Stimme, und Ich kenne sie, und sie folgen Mir“, so kann es keinem Zweifel mehr unterliegen, daß Er mit dem Hirten niemand anders als Sich Selber meint, denn auch der beste Diener des Herrn , der in Seiner Herde einen „Hirtendienst“ erhalten hat, wird nie und nimmer die Schafe, die er zu weiden hat, als seine „eignen“ bezeichnen können (vgl. 1Pet 5,3!)!, und überhaupt ist der Wortlaut von Vers 4 und 5 gar zu genau mit Vers 27 übereinstimmend, als daß auch nur ein Schatten von Zweifel übrigbliebe, daß der Hirte, der die Seinen mit Namen ruft und dessen Stimme sie kennen und dem sie folgen, der Herr Jesus Selber ist.
Die Tür, durch die der Hirte Jesus Christus dann hindurchschreitet, ist nun natürlich nicht Er Selbst (wie man irrigerweise aus dem zweiten Gleichnis Vers 7 und 9 in das erste Gleichnis hineingelesen hat) 12, sondern ganz einfach der gottgeordnete Weg, der Weg, auf dem der Herr auf den Schauplatz Seines Wirkens getreten ist, der Weg der alttestamentlichen Weissagung und der allgemeinen heilsgeschichtlichen Vorbereitung. Auf diesem von dem Vater geordneten Wege des göttlichtheokratischen Amtes ist Christus in Seine Tätigkeit eingetreten, während die Pharisäer sich einfach die herrschende Stellung, die sie in jenen Tagen in Israel innehatten, unrechtmäßig angemaßt hatten.
Und schließlich der Türhüter - wer kann es nun anders sein als der große Wegbereiter, der dem kommenden Messiashirten die Pfade zu bereiten und die Tür zur Schafhürde zu öffnen hatte: Johannes der Täufer?! Wir verstehen diejenigen Ausleger wohl, die diesen Zug des Gleichnisses überhaupt nicht deuten wollen, sondern einfach darin einen Hinweis darauf sehen, daß der Herr Jesus von dem gläubigen Überrest in Israel mit Freuden begrüßt wurde. Doch ist dieser letztere ja schon unter dem Bilde der „eigenen“ Schafe dargestellt, die der Hirte mit Namen ruft, so daß es sich sehr wohl als das Beste nahelegt, in dem Türhüter, der den Eingang zu der Hürde zu bewachen hat, die Einzelpersönlichkeit des Täufers zu erblicken.13
Doch es fehlt hier der Platz, auf die vielen Einzelzüge dieses wunderbaren Gleichnisses einzugehen, zumal manches ohne eine genauere Begründung leicht den Anschein der bloßen Behauptung gewinnen könnte. Aber für unseren Zusammenhang wird das bisher Dargelegte auch genügen.
II. Das Gleichnis von der Tür. Vers 7-9.
Hier hängt alles von dem Verständnis der Worte ab: „Ich bin die Tür der Schafe.“ Dieser zweite Fall kann auf zweierlei Weise erklärt werden, entweder: „Ich bin die Tür für die Schafe“ oder: „Ich bin die Tür zu den Schafen.“ Beides gibt einen guten Sinn, und beides ist auch von namhaften Schrifterklärern vertreten worden.
Wenn wir (mit Prof. Godet) erklären würden: „Ich bin die Tür für die Schafe“, so gewinnt das Ganze folgendes Bild: Es steht eine Hürde auf freiem Felde. Die Tür ist weit geöffnet. Wenn die Schafe Hunger haben, so gehen sie durch die offene Tür hindurch - ins Freie hinaus und finden dort Weide. Wenn sie Ruhe haben wollen, so gehen sie durch die offene Tür hinein und lagern in dem Innern der Hürde. Die Tür vermittelt ihnen also zweierlei: Schutz und Nahrung. Das tut auch der Herr mit den Seinen. Wer zu Ihm kommt, findet Geborgenheit und auch Nahrung für seine Seele.
Dem Zusammenhang aber scheint die andere Erklärung besser zu entsprechen: „Ich bin die Tür zu den Schafen.“ Dann sind nicht mehr die Schafe selber die Hindurchgehenden, sondern der Hirte, der zu ihnen kommt. Spricht der Herr doch gerade in diesem Kontext (Zusammenhang) davon, wie andere zu den Schafen gekommen seien, die aber als Diebe und Mörder unter ihnen gewütet hätten. Dagegen sei Er gekommen, damit die Schafe leben und Leben im Überfluß haben sollten (V. 10). Das zeigt, daß nicht von einem Durchschreiten der Tür seitens der Schafe selber, sondern seitens derer geredet wird, die zu den Schafen kommen wollten. Hier in diesem zweiten Gleichnis ist also nun in Wirklichkeit von dem die Rede, was man so oft schon in dem ersten hat finden wollen. Hier sagt der Herr in der Tat aus, daß nur der ein rechter Hirte für die Schafe sei, der zuerst selber durch Ihn, Christus, die Tür, hindurchgeschritten sei. Ein solcher wird erst persönlich „errettet“ werden, dann zu den Schafen „eingehen“ können, das heißt den Zugang zur Gemeinde und zu einem Hirtendienst in ihrer Mitte gewinnen, und dann wird er „ausgehen“ und für die ihm anvertrauten Schafe „Weide finden können“.
So faßt es auch, und zwar unseres Erachtens mit Recht, Prof. v. Zahn auf.
Aber wie soll dies so kostbare Leben zustandekommen? Wie soll es möglich sein, daß eine solche Herde in dieser argen Welt gebildet und bewahrt werden kann?
Darauf gibt uns das dritte Gleichnis Antwort.
Er. Sr.
(Schluß folgt, s. G. w).
10 Über diese im Jahre 1931 eingegangene Frage erbat ich eine Antwort von unserem teuren Mitarbeiter Er. Sr. (Br. Sauer, Wiedenest). Die mir von ihm zur Verfügung gestellte war zu lang, um im Fragenteil Verwendung finden zu können, und so haben wir (d. h. Br. A. v. d. K. und ich) uns entschlossen, sie mit dem von dem Verfasser vorgeschlagenen Untertitel fortsetzungsweise im 1. Teil der „Handr.“ zu veröffentlichen; denn es wäre schade, wenn diese wichtige Abhandlung, nur weil sie für den 2. Teil zu lang ist, unserem Leserkreise verlorengehen sollte! Möge sie allen zum Segen sein! - Der Schriftleiter F. K.↩︎
11 Die beste uns bisher bekannte Auslegung ist unseres Erachtens die von Prof. Godet in seinem Johanneskommentar (1890), der wir auch viele Anregungen für das Folgende verdanken, fast noch mehr als der Erklärung von Prof. v. Zahn (Kommentar, 1921).
Er. Sr.↩︎
12 Daß in Vers 7 ein neues Gleichnis, nicht aber die
Erklärung des bisherigen vorliegt, beweist, außer der Logik der obigen
Deutung, auch das Wörtchen „wiederum“, das, wie man aus
Er. Sr.↩︎
13 Ebenso deutet Prof. Godet.↩︎