Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 14 - Jahrgang 1929
Joh 10 – „Der gute Hirte“Joh 10 – „Der gute Hirte“
„Gottes Bach ist voll Wassers“ oder „hat Wassers die Fülle.“ (Ps 65,9) Dieses Wort klingt in unserer Seele beim Lesen der Gleichnisreden des Herrn in Joh 10. Wie viele Kinder Gottes sind durch diese Worte, in welchen der Herr Sich uns als der gute Hirte offenbart, erquickt worden! Wenige aber beachten diese Rede des Herrn (Joh 10) in ihrem Zusammenhang.
Die ersten fünf Verse dieses Kapitels sprach der Herr zu den Pharisäern. Sie waren blind (Joh 9,40) und verstanden Seine Worte nicht. Das 9. Kapitel ist eng mit dem 10. Kapitel verbunden. In der Heilung des Blindgeborenen und den Folgen, die diesem daraus erwuchsen, liegt die Erklärung für das 10. Kapitel. Der Herr offenbart, was Er als der gute Hirte Seinen Schafen ist. Der geheilte Blindgeborene war eines Seiner Schafe, welches Er aus dem Hof der Schafe Seiner Herde zuführte.
Mit dem Hof der Schafe bezeichnet der Herr die Juden. Sie waren durch die Zwischenwand der Umzäunung, das Gesetz usw. von den übrigen Nationen abgesondert. In diesem Hofe befanden sich alle jüdischen Gläubigen, die auf das Kommen ihres Messias, des Sohnes Gottes, warteten. Niemand als Er allein hatte das Recht, die Schafe aus diesem Hofe herauszuführen. (Hes 34)
Falsche Hirten, Betrüger machten Anspruch auf die Herde, aber sie waren Mietlinge und nicht Hirten. Sie waren gleich Dieben und Räubern nicht durch die Tür, sondern anderswo in den Hof der Schafe eingestiegen. Die Schrift hatte genau die Tür gekennzeichnet, durch welche der wahre Hirte eintreten würde, so daß sie Ihn erkennen konnten. Der Ort Seiner Geburt, der Charakter und die Herrlichkeit Seiner Person, die Umstände Seines Lebens usw., kurz alles war zuvor genau beschrieben. Der Einzige, der diese Kennzeichen trug und in der zuvor bestimmten Weise durch die Tür einging, war Jesus. Ihm tat der Türhüter auf; Johannes der Täufer oder vielmehr der Heilige Geist, in Johannes und anderen wirkend, öffnete Ihm in Seiner Geburt, im Tempel, in dem Zeugnis Johannes, in der öffentlichen Salbung usw. die Tür weit. Und die Schafe, der wartende jüdische Überrest
(jene treuen Seelen in der Mitte der ungläubigen Masse des jüdischen Volkes), hörten die Stimme des Hirten der Schafe.
Am Schluß des 8. Kapitels sehen wir, wie die Masse des Volkes Jesus angesichts Seiner großen Gnade, mit der Er sie segnen wollte, verwirft. Von den Juden verworfen, konnte der Hof nicht mehr länger der Platz für Ihn noch für Seine Schafe sein. Jesus hatte Seinen Platz außerhalb des Hofes, und die notwendige Folge war, daß die wahren Schafe auch herauskommen mußten. Die Frage für die Gläubigen jener Tage war dieselbe wie heute: Entweder in einem religiösen System, welches Jesus verwirft, zu bleiben, oder aus demselben herauszugehen und mit Ihm außerhalb desselben alle Folgen zu tragen.
Genau in dieser Lage befand sich der blindgeborene und sehend gewordene Mann im 9. Kapitel. Von seinen Verwandten nicht anerkannt, von seinen Nachbarn verleugnet, wird er von den religiösen Führern aus der Synagoge, aus ihrer Mitte hinausgeworfen. Und warum? Weil er den Herrn Jesus als seinen Heiland bekannte und für Seine Rechte eintrat.
Und genau so ist es heute noch mit uns. Wenn wir für den Herrn Jesus eintreten und Ihn als Herrn bekennen, so werden wir bald die gleiche Erfahrung machen, die der Blindgeborene machte, nämlich, daß wir nicht anerkannt, verworfen und hinausgestoßen werden.
Was verlor dieser Mann? Er verlor seinen Platz unter den Christus verwerfenden, frommen Juden und die Freundschaft seiner weltlichen Verwandten und wurde als ein eingebildeter, dummer Mensch, der sich gegen die bestehenden und geheiligten alten Gebräuche auflehnte, verachtet. Aber wir fragen wieder: „Verlor er wirklich etwas?“
Diesen Verworfenen suchte der Herr Jesus auf. Als Er hörte, daß sie ihn hinausgeworfen hatten, ist der Verworfene Seinem Herzen so teuer, daß Er Sich aufmacht, ihn zu suchen, um ihm in Seiner Person alles das zu ersetzen, was er um Seines Namens willen aufgegeben hatte. Und als Er ihn „fand“, offenbarte Er ihm Seine ganze Herrlichkeit. (Joh 9,35-38) Der Herr rechtfertigt damit Sein Verhalten gegen Seine Widersacher. (Vergl. auch Jes 66,5) Wir lernen daraus, welch ein unmeßbarer Gewinn dem zuteil wird, der außerhalb aller religiösen
Systeme und Parteiungen in die Gemeinschaft des Sohnes Gottes geführt wird und in dem Gewirre der Stimmen der Menschen allein die Stimme des guten Hirten hört und Ihm folgt. Diesen Gewinn zeigt uns der Herr in den Worten des 10. Kapitels. Verworfen von den religiösen Führern seiner Zeit, hörte der einst Blinde, jetzt als ein Schaf Seiner Herde, die Stimme des einen Hirten, des Sohnes Gottes, und folgte Ihm nach, außerhalb all der Dinge, die er bisher gekannt und geschätzt hatte.
Der Herr beschreibt uns nun den wunderbaren Gewinn, den dieser Mann und alle, die gleich ihm ihren Platz an des Herrn Seite einnehmen, empfangen. Drei Segnungen enthüllt uns der 9. Vers, welche das Teil derer sind, die sich in der Gemeinschaft des verworfenen Hirten befinden, nämlich: Errettung, Freiheit und Weide. Dieses konnte nicht gesagt werden von den alttestamentlichen Gläubigen. Gewiß, sie kannten Jehova, aber wodurch sie gekennzeichnet wurden, war 1. ein priesterlicher Dienst zwischen Jehova und ihnen, 2. eine Wiederholung der Opfer, durch welche nie die Frage ihrer Sünden geordnet werden konnte, und folglich 3. die Unmöglichkeit des glücklichen Sich-Nahens zu Gott und des Sich-Freuens in Ihm - denn der Vorhang war noch nicht zerrissen.
Unter der „Weide“ aber, zu welcher das Schaf Zugang hat, verstehen wir die Stätte, wo seine Speise ist. Auf vier Dinge möchten wir hinweisen, welche gleichsam in der Weide eingeschlossen sind. Das 1. ist Leben (V. 10), das 2. ist Vertrautheit (V. 14.15), das 3. ist Einheit (V. 16) und das 4. ist Sicherheit (V. 27-30).
In bezug auf das erste, „Leben“, sagt der HErr: „Ich bin gekommen, auf daß sie Leben haben und es in Überfluß haben.“ Das Leben, welches alle Schafe haben, ist in Überfluß, d. h. es ist unbeschränkt. Wieviel wir, jeder einzelne für sich, es ergriffen, in Besitz genommen haben, ist eine andere Frage, aber es ist unser (Vergl. 1Tim 6,12). Es ist ein Leben des völligen Freigemachtseins von dem Gesetz der Sünde und des Todes (Röm 8,1-4), ein Leben des Sieges über Sünde und Tod (1Kor 15), ein Leben der Verwandtschaft mit Gott (Joh 20,17) und der Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohne (Joh 17). Nichts Geringeres als dieses ist das Teil der Schafe Christi. Der
Grund, auf welchem dieses Leben uns zuteil geworden ist, ist Sein Tod. Es konnte nicht anders sein, denn das Gericht, welches auf uns lag, mußte vollzogen werden. Der Herr sagt deshalb: „Der gute Hirte läßt Sein Leben für die Schafe.“ Keine Furcht hindert uns jetzt mehr, uns Gott zu nahen.
Das zweite ist „Vertrautheit“. Der Herr sagt: „Ich bin der gute Hirte; und Ich kenne die Meinen und bin gekannt von den Meinen, gleichwie der Vater Mich kennt, und Ich den Vater kenne.“ Sind wir nicht erstaunt über solche Worte, in denen der Herr uns sagt, daß eine solche ungehinderte Vertrautheit, wie sie zwischen dem Herrn Jesus und dem Vater bestand, auch zwischen uns und unserem Hirten besteht? Und noch einmal erinnert uns der Herr bei diesen Worten an die Grundlage dieser Vertrautheit, an Seinen Tod. Er sagt noch einmal: „Ich lasse Mein Leben für die Schafe.“ Möchten wir mehr lernen, was dieses Vertrautsein ist! Jesus war immer in des Vaters Schoß (Joh 1,18). Johannes ruhte an Seiner Brust (Joh 13,23ff). Dessen der Sohn sich in dem Vater erfreute, dessen erfreute sich Johannes bei dem Herrn . O, möchten wir doch recht erfassen, welch ein Platz der Liebe uns an des Hirten Brust geöffnet ist! Du junges Kind Gottes, du Kindlein im Glauben, dies ist ein spezielles Vorrecht für dich! (Jes 40,11) Sei nicht zurückhaltend Ihm gegenüber; Er ist nicht zurückhaltend dir gegenüber. Sein Herz ist dir geöffnet! Warum willst du zurückhaltend sein und dich nicht an Seine Brust lehnen?
Das dritte ist „Einheit“. Indem Er die jüdischen Schafe aus den religiösen Systemen sammelte, in welchen sie solange gehalten waren, sagte Er (V. 16), daß Er noch andere Schafe habe und sie alle miteinander vereinen wolle. Mit den Worten: „Ich habe andere Schafe, die nicht aus diesem Hofe sind“, meint Er ohne Zweifel die Gläubigen aus den Nationen, „und es wird eine Herde, ein Hirte sein.“ In unseren Tagen wird viel über die praktische Einheit der Kinder Gottes gesprochen, aber wie viele oder wie wenige sind es, welche sich bewußt sind, daß die einzige Möglichkeit dieser praktischen Einheit das sich-Sammeln um den einen Hirten ist! Manche raten, neue Ordnungen aufzustellen, die eine weite Basis für die Einheit geben, aber im besten Falle wird nur eine neue Einzäunung daraus hervor gehen, die, wie alle anderen, im Widerspruch zu der Freiheit, allein dem Herrn und Seinem Worte zu folgen, steht. Nur wenn wir dem Sohne Gottes Seinen Platz als alleinigem Herrn und Führer geben, kann praktische Einheit verwirklicht werden.
Es ist auch gesegnet, zu sehen, wie Er in der Mitte derer, die sich allein um Ihn als eine Herde sammeln, die Liebe des Vaters zum Sohne und des Sohnes vollkommenen Gehorsam zum Willen des Vater entfaltet (V. 17.18). Möchten wir mehr verstehen, was Er ist und was wir in Ihm haben! Wenn wir uns um Ihn - allein um Ihn - versammeln, so wird Kraft und Wärme verspürt werden. Es mag „Winter“ (V. 22) draußen sein, aber nicht drinnen, wo wir an Jesu Brust ruhen. In dem Kreise der Liebe des Vaters weht kein kalter Wind.
Das letzte ist „Sicherheit“. Mit der Frage der Juden, ob Er der Christus sei, forderten sie die Begründung Seiner Rechte über Seine Schafe. In Seiner Antwort drückt der Herr für jeden, der Ohren hat zu hören, klar aus, daß Er wirklich Rechte über Seine Schafe hat und diese nie und nimmer aufgeben wird. Er war der Hirte, und die Schafe hörten Seine Stimme und folgten Ihm. Der wahre Hirte war nun am Schluß der Tage erschienen (V. 8). Sieben Dinge sagte Er den Juden betreffs Seiner Schafe. Und das, was Er ihnen sagte, muß unsere Herzen glücklich machen. Vier Dinge von diesen sieben zeigen die Vertrautheit der Schafe mit dem Hirten an: 1. sie hören Seine Stimme, 2. Er kennt sie, 3. sie folgen Ihm und 4. Er gibt ihnen ewiges Leben.
Ich will nicht näher darauf eingehen, aber laßt mich nur erwähnen, daß der Herr sagt: „Ich kenne sie“, bevor Er sagt: „Ich gebe ihnen ewiges Leben.“ In der vollen Kenntnis alles dessen, was wir sind, hat Jesus uns ewiges Leben gegeben. Die weiteren drei Dinge sind: 5. die Versicherung, daß Seine Schafe nicht verloren gehen, 6. daß sie von des Herrn eigener Hand beschirmt werden und 7. daß, wenn irgend jemand versuchen sollte, sie aus Seiner Hand zu rauben, ein solcher auch mit dem Vater rechnen muß, der größer als alles ist und dessen Hand die Schafe ebenso deckt wie die Hand des Herrn .
Keine Antwort auf die Fragen der Juden nach Seinen Rechten über die Schafe konnte entscheidender sein als die Antwort, daß der Vater sie Ihm gegeben habe (V. 29). Wir sind Ihm vom Vater gegeben, und dies ist es, weshalb wir Ihm so teuer sind - so teuer, daß Er niemals zulassen wird, daß Ihm auch nur eins von Seinen Schafen geraubt wird. Wenn unser Herz die Herrlichkeit dieses Platzes erkennt, zu welchem der Sohn Gottes uns geführt hat, dann fühlen wir in Wahrheit, daß es „grüne“ Weiden sind. Wahrlich, „der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.“ (Ps 23,1)
Jemand mag fragen, woher werden wir die Kraft haben, wenn wir nach diesen Wahrheiten handeln wollen? Nun, teurer Leser, der Blinde war am Anfang des 9. Kapitels ein Bettler, der Tag für Tag etwas aus Menschenhänden entgegennehmen mußte; auch am Ende des Kapitels war er noch ein Empfänger, aber jetzt empfing er nicht mehr aus den Händen der Menschen, sondern von dem Sohne Gottes.
Der Herr Jesus fordert uns nicht auf, einen Weg des Glaubens zu betreten, auf dem Seine Treue uns nicht unterstützt und Seine Hilfe uns nicht jeder Feindschaft gegenüber zur Seite steht; und wenn wir an einen öden Ort zu gehen hätten, so laßt uns daran denken, daß Er mit den vorhandenen fünf Broten und zwei Fischen nicht nur 5000 Menschen speisen, sondern uns auch noch zwölf Handkörbe voll Brosamen geben kann!
W. (A. v. d. K).