Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 16 - Jahrgang 1931
Zu welcher Kirche gehören Sie?Zu welcher Kirche gehören Sie?
Es klingelte. Das Dienstmädchen kam außer Atem in das Zimmer und kündigte den Besuch des Herrn Pfarrers R. an. „Bitten Sie den Herrn, heraufzukommen.“
Wir wohnten damals hoch; man mußte 43 Stufen steigen. Kein Wunder, daß das Mädchen vom schnellen Steigen fast nicht reden konnte. Nun, sie brauchte nicht mehr hinunter zu gehen, denn der Herr Pfarrer war inzwischen schon eingetreten. Das fiel auch nicht weiter auf, da ein Herr Pfarrer ja allerwärts herzlich willkommen ist. Nach kurzer Begrüßung entspann sich folgendes Gespräch: „Herr S., Sie gehören wohl zu unserer Kirche, nicht wahr?“ „Ich gehöre durch Gottes Gnade zu der Kirche.“ „Ich meine, ob Sie Mitglied unserer Gemeinde sind?“ „Ich bin durch Gottes Gnade Mitglied der Gemeinde.“ „Sie scheinen mich nicht zu verstehen, ich meine, ob Sie Mitglied der Niederländisch-reformierten Kirche sind21?“ „Nein, mein Herr, das bin ich nicht; bitte gestatten Sie mir, auch einige Fragen an Sie zu richten?“ „Gewiß, bitte, fragen Sie nur!“ „Sind Sie errettet? Wissen Sie, daß, wenn Sie sterben, Sie in den Himmel gehen werden? Wissen Sie, daß Ihre Sünden hinweggetan sind?“ „Sie fragen sehr viel.“ „Aber Sie haben ja auch manches gefragt, und wenn ich nun Ihre Frage mit „Ja“ beantwortet hätte, und ich wäre Mitglied der Niederländisch-reforinierten Kirche, und ich wäre auch noch Mitglied der lutherischen Kirche und der evangelischen Kirche und dabei auch noch Mitglied der Baptisten-Gemeinde und der Freien Gemeinde, was würden mir alle diese Mitgliedschaften für Nutzen bringen, wenn es mit nur zu Ende ginge und ich nicht wüßte, daß meine Sünden hinweggetan sind durch das kostbare Blut des Lammes? Was würden nur alle Mitgliedschaften in bezug auf die Ewigkeit nützen?“ „Sie haben recht, gewiß, Sie haben recht, für die Ewigkeit hätten Sie nichts davon.“ „Aber Sie haben meine Fragen in bezug auf Sie selbst noch nicht beantwortet!“ „Nun, Herr S., ich glaube wohl sagen zu dürfen, daß ich dem gegenüber nicht ganz fremd stehe.“ „Das soll also sagen, daß Sie ein Gläubiger, ein Erretteter, ein Kind Gottes sind? Sie sind aber in ihrer Kirche Hirte und Lehrer, und Sie machen alljährlich in dieser großen Stadt eine stattliche Anzahl junger Leute zu Mitgliedern Ihrer Kirche, nicht wahr?“ „Freilich, aber das tue ich nicht allein.“ „Mag sein, es geschieht aber unter Ihrer Leitung. Nun bitte, gestatten Sie mir, Sie zu fragen, ob Sie diesen jungen Leuten auch dieselben Fragen stellen, die ich Ihnen gestellt habe.“ „Sie stellen eine ehrliche Frage, und ich will auch eine ehrliche Antwort geben. Ich muß gestehen: Nein! Solche Fragen gehören nicht zu denen, die wir den Konfirmanden stellen.“
Der Herr Pfarrer erhob sich. „Bitte, eilen Sie nicht! Sie werden vielleicht nicht oft auf diesen so wichtigen Gegenstand zu sprechen kommen.“
Er setzte sich wieder, und wir unterhielten uns weiter über die ernsten Fragen, die uns beschäftigten.
Ich hatte den Eindruck, daß er ein Kind Gottes und wir also Brüder waren. Er ist schon seit Jahren heimgegangen und wird gewiß (wie es uns allen gehen wird) vieles besser verstehen, als er es hienieden verstanden hat.
Das obenerwähnte Gespräch, wie viele Jahre es auch schon in der Vergangenheit liegt, habe ich nie vergessen.
Wie macht man doch viel aus dem, was eigentlich nichts ist! Wie werden die armen Seelen irregeführt! Wie entsetzlich ernst ist es doch, daß es dem Feind gelungen ist, Tausende und aber Tausende mit sogen. Gottesdienst zu beschäftigen und sie von Jesu Christo fernzuhalten.
Und wie viele liebe Gläubige begnügen sich damit, daß sie Mitglieder einer Kirche sind, ohne daß es ihnen selbst in den Sinn kommt, einzusehen, daß das ganze Kirchenwesen in der Schrift auch nicht die leiseste Anerkennung findet.
Der Herr Jesus spricht in den fünf ersten Versen von Joh 10 ein Gleichnis aus. Im sechsten Verse heißt es dann: „Dieses Gleichnis sprach Jesus zu ihnen; sie aber verstanden nicht, was es war, das Er zu ihnen redete.“
Ist es nun nicht so, daß bis auf den heutigen Tag bei weitem von der Mehrzahl (selbst der Kinder Gottes) genau dasselbe gesagt werden muß? Das schöne Gleichnis des Herrn und was Er in den folgenden Versen des Kapitels sagt, wird gar nicht verstanden.
Wir wollen uns etwas näher damit beschäftigen in der Hoffnung, damit unseren geliebten Geschwistern zu dienen.
Das Volk Israel war ein abgesondertes Volk. Der Herr hatte um dieses Volk einen Zaun gebaut, einen Zaun von Gesetzen, Vorschriften, Zeremonien. Es durfte sich durchaus nicht mit anderen Völkern vermischen.
Dieser Zaun, diese Absonderung konnte sehr anschaulich in dem Bilde des Schafhofes dargestellt werden. Ein solcher Schafhof im Orient war ein kleiner oder größerer Raum, umgeben von einem Zaun oder einer Mauer, und eine nur kleine Öffnung war die Tür.
Jeden Abend bringen die Hirten in der Gegend ihre Schafe in den Hof. Am nächsten Morgen stellt sich der Hirt einer Anzahl Schafe an die Tür und ruft seine eigenen Schafe. Und wiewohl der Schafe viele sind und verschiedenen Hirten angehören, ein jedes Schaf kennt die Stimme seines eigenen Hirten und kommt heraus. Der Türhüter kennt die betreffenden Hirten; er darf keinen zulassen, der nicht Schafe in dem Hofe hat.
Wenn wir nun vom Gleichnis zu der verglichenen Sache kommen, dann ist wohl Gott der Türhüter und der Herr Jesus, wie Er von Sich Selbst sagt, der gute Hirte. - Im dritten Kapitel des Evangeliums Matthäus, wo der Herr Seinen Platz inmitten des zu Johannes kommenden jüdischen Volkes einnimmt und Sich von Johannes taufen läßt, da macht der Türhüter Ihm die Tür auf, indem Er vom Himmel her ruft: „Dieser ist Mein geliebter Sohn, an welchem Ich Wohlgefallen gefunden habe!“ (Mt 3,17)
Mit welcher Absicht aber geht der gute Hirte in den Hof der Schafe? Er will Seine eigenen Schafe herausführen. Also das hatte der Herr im Auge: Aus dem jüdischen Hof heraus und nie wieder zurück! Von da an, wo Er sie herausgeführt hat, gibt es keinen Hof mehr, sondern ist von einer Herde die Rede.
Nachher spricht der Herr von „anderen Schafen, die nicht aus diesem Hofe sind“.
Hier müssen wir recht lesen und die Betonung nicht auf „diesem“, sondern auf „Hofe“ legen, sonst scheint es ja, als meinte der Herr, daß es mehrere Höfe gebe. Nein, die „anderen Schafe“ waren nie in einem Hof. Das sind diejenigen, die aus den Nationen zum Glauben kommen würden.
Und dann spricht der Herr: „Und es wird eine Herde, ein Hirte sein.“
Diese gewaltige Tatsache, daß es des Herrn Wille ist, daß es Seiner Absicht, Seinen Gedanken entspricht, die Gläubigen zu einer Herde mit Sich Selbst als dem
Hirten und miteinander zu verbinden - diese haben weithin die meisten Kinder Gottes aus dem Auge verloren.
Wie viele Höfe sind gebaut! Wie viele Zäune scheiden die Kinder Gottes voneinander!
Im ersten Korintherbrief, Kap. 10,32 finden wir eine Dreiteilung der Menschheit: 1. Juden, 2. Griechen (Zusammenfassung für Nationen oder Heiden) und 3. Versammlung oder Gemeinde Gottes.
Vorher gab es nur eine Zweiteilung: Juden und Heiden. Mit der Herausrufung der Gemeinde sowohl aus Heiden als Juden war eine dritte Gruppe entstanden: Die Gemeinde Gottes.
Schon in frühester Zeit, im allerersten Anfang finden wir Spuren der Zersplitterung der Gemeinde, die nach des Herrn Wollen immer eine Einheit hätte sein und bleiben sollen.
Wir entdecken den Spaltpilz schon in der Gemeinde in Korinth, wo man angefangen hatte zu sagen: „Ich bin des Paulus usw.“ (1Kor 3,2)
Aber wie schwer ist es jetzt, wo die Gemeinde Gottes in so viele Teile gespalten ist! Und was soll der Gläubige, der sich ans Wort Gottes halten will, antworten, wenn man ihn fragt: „Zu welcher Kirche gehören Sie?“ Welche Antwort wird dem Willen des Herrn entsprechen?
Glücklicherweise ist es nicht unsere Aufgabe, zu suchen, welche Kirche die bessere oder sogar die beste sei. Wir können sie alle ruhig sein lassen, was sie sind; sie finden im Worte Gottes keine Anerkennung!
Es darf und soll vollständig genügen, zu der einen Herde und dem einen Hirten zu gehören. Zu dieser einen Herde gehören ja alle Kinder Gottes, wo sie sich nebenbei auch sonst noch eingeteilt haben mögen.
Unser Vorrecht, unsere Aufgabe ist es, sie alle (alle wahrhaft Gläubigen) als zu der einen Herde gehörig anzuerkennen, zu lieben, ihnen zu dienen, zu helfen, wo nur der Herr die Gelegenheit dazu bietet.
Selbstredend gibt es in Verbindung mit dieser Tatsache manche praktische Frage; Hauptsache aber ist, ob wir die ernste Wahrheit der einen Herde unter dem einen Hirten recht verstehen. Sind wir dahin gekommen, dann wird Er uns auch den Weg zeigen, den wir zu gehen, und den Platz, den wir einzunehmen haben.
M. J. S.
21 Dieses Gespräch fand in Holland statt. „Aber, mein Herr, wie werden Sie das vor Gott verantworten? Diese jungen Leute meinen doch, daß sie damit, daß sie Mitglied Ihrer Kirche werden, etwas bekommen, was einigen Wert vor Gott und für die Ewigkeit hat, und Sie selbst bezeugen, daß es durchaus nichts nutzen kann. Welch ein fürchterlicher Betrug ist das!“↩︎