Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 14 - Jahrgang 1929
Mk 10,32-34 ; Lk 18,31-34 – „Auf dem Weg nach Jerusalem“Mk 10,32-34 ; Lk 18,31-34 – „Auf dem Weg nach Jerusalem“
Jesu ganze Lebensaufgabe gipfelt zuletzt in einer Stunde: der Stunde in Gethsemane und auf Golgatha. Von dieser Stunde spricht der Herr in Joh 12,27; Lk 22,53 usw. Als nun die Stunde sich nahte, schlägt der Herr den Weg nach Jerusalem ein. Er geht Seinen Jüngern voran; mit Furcht und Zittern folgen sie Ihm nach. Warum sind sie so bestürzt und voller Furcht? Hatten sie nicht freiwillig alles verlassen, um Ihm nachzufolgen? (Mk 10,28) Ganz gewiß, aber sie erwarteten nicht den rauhen Weg zum Kreuze auf Golgatha, sondern die Aufrichtung Seines Reiches. Deshalb waren sie so bestürzt und voller Furcht. Trotz der jahrelangen Unterweisungen des Herrn waren sie für die Prüfungen eines solchen Weges nicht reif, und manche Stunde innerer Zerknirschung mußte diesem schweren Gange folgen, bis sie fähig wurden, auch ihre Lebensaufgabe zum Preise ihres Gottes und Heilandes zu erfüllen und die Prüfungen ihres Glaubens zu bestehen.
Markus zeichnet uns das Bild dieses Weges mit den Worten: „Und Jesus ging vor ihnen her; und sie entsetzten sich und, indem sie nachfolgten, fürchteten sie sich.“ - Furcht und Entsetzen ergriff sie, als Er ihnen sagte: „Wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was durch die Propheten auf den Sohn des Menschen geschrieben ist ...“ Der Heilige Geist fügt dann hinzu: „Und sie verstanden nichts von diesen Dingen, und dieses Wort war vor ihnen verborgen, und sie begriffen das Gesagte nicht.“ (Lk 18,31-34) Der Herr stellt sich nun Selbst an die Spitze der verzagten Jüngerschar. Er geht vor Seinen bestürzten Jüngern her und flößt damit ihren bangen und bewegten Herzen Mut und Freudigkeit ein. Noch ist Er in ihrer Mitte, noch kann Er sie führen und bewahren, bald aber nahte die Stunde, wo Sein Wort: „Glaubet auch an Mich“ (Joh 14,1) sie auf die Probe stellen würde.
Als der Herr nach Bethanien ging, um Lazarus aufzuerwecken, sagte Er Seinen Jüngern: „Laßt uns wieder nach Judäa gehen.“ Die Jünger sagen zu Ihm: „Rabbi, eben suchten die Juden Dich zu steinigen, und wiederum gehst Du dahin?“ Und Thomas sprach zu den Mitjüngern: „Laßt auch uns gehen, auf daß wir mit Ihm sterben!“ (Joh 11,7.8.16) Diese Worte zeigen uns die Gemütsverfassung und die Gedanken der Jünger. Erst zieht Er sich - so denken sie - Seiner Sicherheit wegen aus Jerusalems Nähe zurück, und jetzt ist Er fest entschlossen, nach Jerusalem hinaufzugehen, wo doch Seine Feinde Ihn mit Haß- und Mordgedanken ersehnen. Ihre Augen sehen nur die Feinde und die Gefahren der Leiden und des Todes, in welche Er und ebenso auch sie selbst kommen würden. Aber sie sahen nicht auf das von den Propheten und von dem Herrn verkündigte Wort, aus welchem sie den Erlösungsplan und den unvermeidlichen Opferweg ihres Herrn und Heilandes hätten erfahren können. Auch uns wird Furcht und Angst befallen, wenn wir nicht im Worte Gottes zu Hause sind und wenn wir aus demselben nicht die unabänderlichen Wege unseres Gottes erkennen.
Sie sahen, wie gesagt, Jerusalem nur als den Sitz Seiner Feinde und als den Ort Seines Unterganges an. Der Herr aber ging nach Jerusalem, weil kein anderer Ort geeigneter war, die Erlösungstat zu vollbringen. Nicht unter den Steinen, die oft gegen Ihn erhoben wurden, sollte Er Sein Leben beschließen, sondern am Kreuzesstamm - nicht in der Hitze der Leidenschaft und Verblendung der Feinde, sondern nach wohlbedachtem Rat und auf dem ganz richtigen Instanzenwege sollte Er verworfen und dem Urteil des Todes überantwortet werden. So konnte Christus nur zu Jerusalem sterben, der Residenzstadt des jüdischen Volkes. Juden und Heiden sollten vereint ihre Hände an und später ihre Hände auf dieses von Gott ersehene Opfer legen. Ebenso mußte Er in Jerusalem auferstehen, damit an amtlicher Stelle die Tatsache des leeren Grabes öffentlich bekannt werde.
Müssen wir nicht hier die mannigfaltige Weisheit Gottes bewundern, die sich in der Entwicklung der Erlösung, der wunderbaren Zeit und Stunde, als auch in dem Ort des Vollzuges offenbart? Nur mit Anbetung können wir anschauen, wie Er bis ins Kleinste auf die Gedanken des göttlichen Willens einging.
Der Herr sagt Seinen Jüngern alles, was Seiner Übergabe in der Sünder Hände vorausgehen würde (Lk 18,32.33). Und ist nicht alles so eingetroffen, wie es von Ihm vorausgesagt wurde? Der Herr sieht ihre Verzagtheit und gibt ihrem wankenden Glauben einen tröstenden Anhalt, indem Er ihnen bestimmt verkündigt, daß Er am dritten Tage wieder auferstehen werde. Das Kreuz ist dem Herrn die Staffel zur Herrlichkeit. Auch darin ist Er den Seinigen als ein Vorbild vorangegangen.
Der Heilige Geist berichtet Lk 18,34, daß die Jünger keine Silbe von dem verstanden, was der Herr ihnen mit solcher Geduld und Offenheit klar machte. Woher kam dieser Unverstand? Sie wußten nicht, wie diese Leidensverkündigung mit dem ihnen vorschwebenden Bilde des Messias zu vereinbaren sei. Aber noch auffallender ist es, daß die Jünger den Herrn mißverstanden, wenn Er noch so bestimmt von Seinem Tode redete, während das Volk Ihn, wenn Er auch nur dunkel von Seinem Tode sprach, verstand. Seine Jünger konnten eben nicht begreifen, daß Gott den, welchen Er so liebte und an dem Er Wohlgefallen hatte, sollte so leiden und sterben lassen. Sie sahen nicht die Notwendigkeit der Erlösung und gingen an den Plan Gottes mit ihrer Vernunft, ihrem Fleisch und Blut heran und legten sich alles so dar, wie es ihren Wünschen und Meinungen als notwendig erschien.
Aber auch uns, denen es der Geist Gottes offenbart hat, bleibt es ewig groß und wunderbar, daß unser hochgelobter Herr und Heiland, der Gottes- und Menschen-Sohn Sich uns zugut kreuzigen ließ und daß Gott Seinen in den Schriften niedergelegten Plan bis ins Kleinste ausgeführt hat. Dieses ist ja die Art aller Gotteswerke. Wenn davon geredet wird, ehe sie geschehen, so sind sie uns nicht begreifbar; wenn sie aber geschehen sind, dann können wir sie im Nachschauen erfassen.
Wunderbar ist es, daß diesem Abschnitt die Heilung des Blinden vor Jericho folgt. Der Blinde wünschte „sehend“ zu werden, und der Herr ließ es geschehen. Ebenso ging es den Jüngern; auch „ihre Augen wurden aufgetan“, als der auferstandene Herr bei ihnen weilte. (Lk 24,31)
Wie viele ernste Lehren können wir aus diesen betrachteten Worten ziehen. Geistliche Blindheit ist ein gefährliches Übel. Da geht man, statt sich von der himmlischen Weisheit des Wortes Gottes belehren zu lassen, seinen eigenen Gedanken nach. Man möchte nicht nach Gottes Willen und in den Erniedrigungswegen des Herrn wandeln. Man fürchtet den Kampf und die Mühe. Und so entwickeln sich die Störungen in unserem Glaubensleben. Bei den Jüngern zeigte sich dieses in der langen Kette der nachfolgenden Enttäuschungen: Sie flohen, wo sie ausharren sollten; Petrus verteidigte sich im Garten Gethsemane, statt sich der Führung Gottes anzuvertrauen, und das Ende war sein tiefer Fall.
Wer aber wie der Blinde sich die Augen seines Herzens öffnen läßt, der wird im fortschreitenden Erkennen und Anerkennen der Wege und Gedanken Gottes die heilsame Gnade Gottes in der Verherrlichung Seines Namens zum Ausdruck bringen.
E. v. d. K., H.