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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 14 - Jahrgang 1929
EpaphrasEpaphras
Zwischen inspirierten Berichten über Personen des Volkes Gottes und menschlichen Biographien ist ein großer Unterschied. Von ersteren kann in Wahrheit gesagt werden: „Viel in wenigem,“ von den letzteren „wenig in vielem“.
Die Geschichte eines Gläubigen des Alten Testamentes, die sich über eine Zeit von 365 Jahren erstreckte, ist in zwei Sätzen zusammengefaßt: „Henoch wandelte mit Gott; und er war nicht mehr, denn Gott nahm ihn hinweg.“ (1Mo 5,24) Wie kurz, aber wie voll und umfassend ist ein solcher Bericht! Wie viele Seiten würde wohl ein Mensch mit der Beschreibung eines solchen Lebens gefüllt haben! Und doch, was könnte mehr gesagt werden? „Zu wandeln mit Gott“ umschließt alles, was in dem Leben eines Gläubigen gefunden werden kann. Ein Mensch mag die ganze Welt bereisen - mag überall das Evangelium predigen - mag um Christi willen leiden - mag Hungrige speisen, Nackte kleiden, Kranke besuchen, er mag christliche Bücher schreiben, drucken und verbreiten, kurz, er mag alles tun, was ein Mensch tun kann, und doch würde alles in diesem einen kurzen Satze zusammenzufassen sein: „Er wandelte mit Gott“. Und wohl ihm, wenn es so zusammengefaßt werden kann.
Es ist aber möglich, daß jemand fast alles, was vorhin aufgezählt worden ist, tut, und dabei doch nicht eine Stunde mit Gott wandelt. Ja, ein solcher mag nicht einmal wissen, was es heißt, „mit Gott zu wandeln“. Dieser Gedanke ist höchst ernst und prüfend und sollte uns zu dem verborgenen Leben mit Christo anspornen, ohne welches aller Dienst, auch der glänzendste, nur Rauch ist.
Wenn wir beachten, wie uns Epaphras im Neuen Testament vor Augen gestellt wird, so können wir manche Belehrungen daraus ziehen. Die Hinweise auf ihn sind zwar kurz, aber sehr inhaltreich. Das, was ihn kennzeichnete, ist das, was wir heute so sehr nötig bedürfen. Seine Arbeiten, soweit sie in der Schrift aufgezeichnet sind, waren nicht solche, die in die Augen fielen oder die Aufmerksamkeit und das Lob der Menschen hervorriefen, aber es waren köstliche Arbeiten - unschätzbar wertvolle Arbeiten - Arbeiten im verborgenen Kämmerlein, Arbeiten hinter der verschlossenen Tür, Arbeiten im Heiligtum, Arbeiten, ohne welche alle anderen Arbeiten sich als wertlos und unfruchtbar hätten erweisen müssen.
Epaphras wird uns von dem durch Gott gebrauchten Biographen nicht als ein gewaltiger Prediger oder fruchtbarer Schreiber vorgestellt, obgleich er dieses gewesen sein mag, und beides ist gewiß an seinem Platze auch zu schätzen, der Heilige Geist teilt über ihn nichts derartiges mit. Er führt uns vielmehr seinen einfachen Charakter vor Augen, um unseren geistlichen Sinn zu erwecken. Als ein Mann des Gebetes wird er vor uns gestellt - als ein Mann ernsten, inbrünstigen, ringenden Gebetes - des Gebetes nicht für sich selbst, sondern für andere. Laßt uns das inspirierte Zeugnis ernstlich betrachten! „Es grüßt euch Epaphras, der von euch ist, ein Knecht Christi Jesu, der allezeit für euch ringt in den Gebeten, auf daß ihr stehet vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes. Denn ich gebe ihm Zeugnis, daß er viel arbeitet für euch und die in Laodicäa und die in Hierapolis.“ (Kol 4,12-13) Das war Epaphras. O, daß in unseren Tagen Hunderte da sein möchten, die ihm gleich wären! Gewiß haben wir dankbar zu sein für Prediger - dankbar für Schreiber - dankbar für Brüder, die in dem Werke des Herrn reisen, aber wir bedürfen Männer des Gebetes, Männer, die im verborgenen Kämmerlein in ihren Gebeten für die Heiligen ringen, Männer gleich Epaphras.
Wir freuen uns über die Füße derer, die Christum verkündigen, und über die, welche befähigt sind, die Feder „eines fertigen Schreibers“ (Ps 45,1) zu handhaben, und über solche, die im Geiste Christi wieder und wieder hingehen, in jeder Stadt die Brüder zu besuchen. Gott bewahre uns davor, daß wir solche ehrenvollen Dienste gering schätzen oder gar verkleinern! Wir schätzen sie mehr, als wir in Worten ausdrücken können, aber doch, vor allem bedürfen wir des inbrünstigen, ringenden, ernsten Gebetes. Ohne dieses kann nichts geschehen. Ein nicht betender Mann ist ein kraftloser Mann, ein nicht betender Prediger ein nutzloser Prediger, ein nicht betender Schreiber ein unfruchtbarer Schreiber; ein nicht betender Evangelist wird nicht viel Frucht sehen; ein nicht betender Hirte wird wenig Nahrung für die Herde haben. Wir brauchen Männer des Gebetes, Männer gleich Epaphras, Männer, deren Kämmerlein Zeugnis ablegen kann von ihrer ringenden Arbeit. Das sind die Männer, die wir heute so sehr, sehr nötig brauchen. Diese Arbeiten im Verborgenen bringen reiche Segnungen, sowohl dem, der sie tut, als auch dem, für welchen sie getan werden. Das ist stille, niemand belästigende Arbeit; sie wird in der Zurückgezogenheit, in der heiligen, göttlichen Gegenwart getan, ohne von irgend einem menschlichen Auge gesehen zu werden.
Wie wenig hätten die Kolosser von dieser lieblichen und doch so ernsten Arbeit des Epaphras gewußt, wenn der Heilige Geist sie nicht in dem Brief erwähnt hätte! Vielleicht möchten einige von ihnen sogar geneigt gewesen sein, zu denken, daß er nicht genügend Sorge für die Heiligen in Kolossä entfaltet habe. Es ist ja möglich, daß es dort auch Personen gab, wie es solche jetzt noch gibt, die die Sorge eines Mannes für das Werk des Herrn an seinen Besuchen, Briefen oder dergl. abmessen. Dies würde bei Epaphras ein ganz falsches Maß gewesen sein. Um seine Sorge und Teilnahme zu ermessen, hätten sie ihn auf seinen Knien sehen müssen.
Neigungen meines Herzens können mich nach Berlin, Leipzig oder anderen Orten leiten, um die Brüder zu besuchen, Neigungen meines Herzens können mich leiten, Briefe nach vielen Orten zu schreiben, aber nur Liebe - Liebe zu den Seelen - Liebe zu Christus kann mich leiten, für Gottes Volk zu kämpfen, so wie Epaphras es tat: „Auf daß sie stehen vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes.“ (Kol 4,12)
Diese kostbare Arbeit im Verborgenen erfordert keine „spezielle“ Gabe, keine besonderen Talente, keine hohe Begabung, jeder Gläubige kann diese vollführen; er mag nicht Fähigkeiten haben zu lehren, zu schreiben, zu evangelisieren, aber er kann beten. - Jedes Kind Gottes kann beten. Man hört zuweilen von der Gabe des Gebetes reden - ein Ausdruck, der ganz unpassend und nicht nach der Schrift ist. Man meint damit gewöhnlich eine fließende Ausdrucksweise gewisser und bekannter Wahrheiten. Solche können sich dem Gedächtnis eingeprägt haben und als leere Worte von den Lippen ausgesprochen werden. Dies ist eine armselige Sache und hat kaum etwas mit einem Gebet gemein. Solcher Art waren die Gebete des Epaphras nicht, und nach solchen sehnen wir uns auch nicht. Wir bedürfen einen Geist des Flehens, ein Herz, das auf die mancherlei Nöte der Gemeinde eingeht und dieselben in ausharrender, inbrünstiger und gläubiger Fürbitte vor den Thron der Gnade bringt.
Ein solcher Geist des Flehens wird sich in allen Umständen und zu allen Zeiten als wirksam erweisen. Jede Zeit, sei es Morgen oder Mittag, Abend oder Mitternacht, ist für diese Arbeit im Verborgenen passend. Zu allen Zeiten kann das Herz seine Gebete und sein Flehen am Thron der Gnade vorbringen. Unseres Vaters Ohr ist uns stets geöffnet. Zu jeder Zeit dürfen wir zu Ihm kommen. Komme, wann und womit es auch sei, Er ist immer bereit zu hören, und bereit, zu antworten. Er ist der Hörer und Erhörer unserer Gebete. Er will unser inbrünstiges Gebet. Er liebt es, wenn wir wie Jakob ringen: „Ich lasse Dich nicht los, Du habest mich denn gesegnet.“ (1Mo 32,26) Er ermutigt uns dazu, indem Er sagt: „Bete - suche - klopfe an!“ (Mt 7,7) Er gibt uns Beispiele, daß wir „allezeit beten und nicht ermatten“ sollen (Lk 18,1). „Alles, um was irgend ihr betet und bittet, glaubet, daß ihr es empfanget.“ (Mk 11,24) - „Wenn aber jemandem von euch Weisheit mangelt, so bitte er von Gott.“ (Jak 1,5) Diese Worte haben eine unbegrenzte Anwendung; sie gelten allen Kindern Gottes. Das jüngste und schwächste Kind Gottes kann beten, kann eine Antwort empfangen und kann Dank sagen.
Nichts weckt unser Interesse für Gottes Volk so, als die Gewohnheit des ständigen Betens für dasselbe. Wie innig nahm Epaphras teil an allem, was die Gläubigen zu Kolossä, Ladocea und Hierapolis betraf. Diese Teilnahme trieb ihn, zu beten und seine Gebete vermehrten seine Teilnahme. Je mehr wir mit anderen fühlen und an ihrem Ergehen teilnehmen, desto mehr werden wir für solche beten, und je mehr wir beten, desto mehr wird unsere Teilnahme zunehmen. Halten wir an, für Gottes Volk und Werk im Gebet zu stehen, so wird jedes Wachstum in der Mitte desselben unser Herz erfreuen, und ebenso ist es auch in Bezug auf unsere Gebete für einzelne Personen, seien es Gläubige oder Ungläubige. Tragen wir solche auf unserem Herzen vor Gott, so werden wir das, was wir für sie von dem Herrn erbitten, mit tiefer Sorge suchen, und wenn es uns geschenkt wird, mit wahrer Dankbarkeit aus Gottes Hand entgegennehmen. Alles dieses sollte uns anspornen, Epaphras nachzuahmen, dem der Heilige Geist wegen seiner Gebete für Gottes Volk den ehrenvollen Titel „ein treuer Diener Christi“ (Kol 1,7) beilegt.
Aber nicht dieses allein, der höchste Beweggrund, in dem Geiste Epaphras gefunden zu werden, sollte der sein, daß wir alsdann in Übereinstimmung mit dem Geiste Christi sind. Christus tritt in unaufhörlicher Fürbitte für die Seinigen ein. Sein Wunsch ist es, daß sie stehen „vollkommen und völlig überzeugt in allem Willen Gottes“ (Kol 4,12); und wenn wir so in der Fürbitte für die Geliebten des Herrn stehen, so haben wir das hohe Vorrecht, in Gemeinschaft mit dem großen Mittler und Fürbitter zu sein. Ist es nicht wunderbar, daß es armen, schwachen Geschöpfen hier unten erlaubt ist, für das Gleiche zu beten, was das Herz unseres Herrn in der Herrlichkeit beschäftigt? Wie köstlich muß das Band gewesen sein, welches das Herz des Epaphras mit dem Herzen Christi verband, wenn er so inbrünstig für seine Brüder in Kolossä betete!
Geliebte Leser, laßt uns das, was Epaphras tat, erwägen und ihm nachahmen! Laßt uns beten - inbrünstig beten für die Geliebten des Herrn ! Wir leben in einer sehr ernsten Zeit, alles geht dem Ende zu. Wie nötig haben wir Männer, die für das Werk des Herrn auf ihren Knien arbeiten. Ein solcher war Epaphras. Das erste, was wir über ihn hören, ist, daß er ein Mann des Gebetes war (Kol 4,12), und das letzte, daß er ein Genosse, ein Mitgefangener des dem Herrn so völlig ergebenen Apostels Paulus war (Philem. 23). Möge der Herr auch unter uns diesen Geist des ernsten Gebetes und anhaltenden Flehens erwecken! Möchten viele sich bereit finden lassen, gleich Epaphras für das Werk des Herrn zu arbeiten! Solcher Männer bedürfen wir so sehr in dieser letzten Zeit.
M. (v. d. K).