Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 11 -Jahrgang 1926
Das Gewissen und die SchriftDas Gewissen und die Schrift
Die Inspiration der Heiligen Schrift ist eine in den Kreisen der Kinder Gottes vielbesprochene Frage. Immer zahlreicher werden die Stimmen, die das geschriebene Wort Gottes antasten und vermeintliche Irrtümer oder sogenannte Widersprüche glauben gefunden zu haben. Solche Stimmen geben sich den Anschein der Wichtigkeit, Wahres und Irrtümliches scheiden und so für die Wahrheit kämpfen zu wollen.
In dieser Gegnerschaft muß man aber unterscheiden zwischen ausgesprochenen Feinden und irregeführten Brüdern. Erstere werden offenbar als Feinde Gottes durch ihre gehässige Sprache gegen alle, die den Namen des Herrn anrufen aus reinem Herzen, während letztere in Aufrichtigkeit meinen, das Werk des Herrn zu treiben, obgleich sie Schulter an Schulter mit den Feinden stehen.
Die Ersteren sind Unbekehrte, „verfinstert am Verstand, entfremdet dem Leben Gottes“ - Eph 4,18 -, und wissen daher das Wort dem Wesen nach nicht zu schätzen, ja, sie vernehmen nichts vom Geiste Gottes. „Was vom Fleisch geboren ist, ist Fleisch“ (Joh 3,6); daher vermögen wir auch nicht, ihnen Dinge verständlich zu machen, die wir selbst auch erst von dem Tage an zu erfassen vermochten, als der Heilige Geist unseren Verstand erleuchtete.
Solche Menschen stoßen sich an der göttlichen Offenbarung im Worte und im Sohne (1Pet 2,8). Das Licht will ihre Finsternis zerstreuen, aber sie lieben die Finsternis mehr als das Licht und kommen nicht zum Lichte.
So entbrennt der Kampf. Das für den Augenblick aufgerüttelte Gewissen wird zum Schweigen gebracht, und man gibt sich der Vernunft mit ihren törichten Verirrungen hin. Von allen Seiten tauchen sie auf, jene zahllosen Haufen von Rationalisten, Freidenkern, Materialisten ... Menschen, „dahingegeben in einen verworfenen Sinn“ (Röm 1,28), Feinde Gottes in Gedanken und Werken, „Menschen, die den Geist nicht haben“ (Jud 19), deren Ende Verderben ist.
Aber ihnen zur Seite sehen wir, wie gesagt, auch Brüder, zwar irregeleitete, aber immerhin und trotz alledem Brüder, Gott sei Dank dafür! Wie sollen wir uns ihre Anwesenheit im Lager der Feinde erklären?
Diese Brüder haben eine Bekehrung erlebt wie wir. An dem Tage, als das Gewissen ernst zu ihnen redete, haben sie sich verurteilt und zerbrechen lassen. Sie sind ebenso wie wir durch den Geist Gottes zu dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn geführt worden. Vergebung der Sünden, Friede mit Gott, Gemeinschaft mit Ihm, das Recht der Gotteskindschaft wurde ihr Teil.
Aber leider kam dann ein Tag verhängnisvollen Abgleitens vom Wege.
Durch irgendwelche Umstände, die bei den einzelnen sehr verschieden sein mögen, ließen sie sich von dem durch die Fußspuren des guten Hirten bezeichneten Pfad abwenden: zunächst vielleicht kaum merklich, aber dann bald auffälliger. Seine Stimme schien ihnen nicht mehr klar und deutlich zu sein, und sie fingen an, ihr Ohr der Stimme der Fremden zu öffnen. Ohne es zu wollen und es zu erkennen, gingen sie gar bald auf einem anderen Wege als auf dem Seiner Zeugnisse (Ps 119,14).
Woher kommt dieser Irrweg? Durch einen leicht erklärlichen Mangel an Wachsamkeit. Als sie ihren verlorenen Zustand erkannt und den Heiland angenommen hatten, beugten sie sich gern vor der Autorität des Herrn, der durch Sein geschriebenes Wort zu ihnen sprach. Ist es doch gerade das geschriebene Wort, welches sich am erweckten Gewissen durch seine göttlichen Wirkungen als die Wahrheit erweist. Dieses Wort der Wahrheit war für sie so innig mit Dem verbunden, von dem es ausging, daß sie keinen Augenblick daran gedacht haben würden, einen Unterschied zwischen der Person und dem Worte zu machen. In der Schrift begegnete Er ihnen, durch die Schrift sprach Er zu ihnen, in ihr sahen sie Ihn; der Heilige Geist nährte sie von Ihm durch das Wort.
Sie standen in der ersten Liebe, in der das Herz offen ist für das göttliche Leben, das dann nicht nur den ganzen Organismus beherrscht, sondern auch die Vernunft völlig zufrieden stellt und zugleich in Schranken hält, nicht Rechte geltend zu machen, die der Schöpfer ihr zu ihrem eigenen Wohl nicht gegeben hat. (Gal 3,3).
Eines Tages verirrten sie sich. - Wie kam das? - Sie hielten ihre Augen für das Licht und meinten, sie könnten geben, was sie ja doch empfangen mußten! Mit anderen Worten, sie räumten dem Gewissen einen Platz ein, der allein dem Herrn und Seinem Worte gebührt. Sie hatten solche beweisführenden Erfahrungen mit dem Herrn gesammelt, daß sie ihre Erfahrungen als leitend und bestimmend für ihr ferneres Leben hielten. Aber konnten ihre Erfahrungen etwa an die Stelle der Lichtquelle selbst treten? Erhob eine gewisse Kenntnis des Wortes sie über das Wort selbst?
Das Gewissen - es sei ferne von uns, seine Wichtigkeit herabsetzen zu wollen! - hat eine große Aufgabe in unseren Beziehungen zu Gott, denn durch das Gewissen können wir das vom Kreuz auf Golgatha strahlende Licht aufnehmen und die Tiefe unseres Falles entdecken und ebenso auch die Dinge, welche Gott wohlgefallen, aber doch alles nur in dem Maße, wie der Heilige Geist den Lichtglanz der Herrlichkeit im Angesichte Jesu Christi auf uns strahlen läßt. (Ps 4,6; Eph 5,14; 2Kor 4,4-6).
Das Auge ist nicht in sich selbst Licht, und ebenso ist auch das Gewissen nicht in sich selbst Licht.
Beides sind wunderbare Organe; das eine dient dem Körper für das irdische Leben, das andere der Seele für das geistliche Leben. Beide leisten uns im normalen
Zustande unschätzbare Dienste; beide wunderbar eingerichtet zum Aufnehmen, zum Empfangen, aber nicht zum Geben, sondern nur zum Vermitteln.
Das Auge ist ein sicherer Führer, jedoch nur, wenn das Licht ihm leuchtet; wird es aber finstere Nacht, so verliert es ohne die Hilfe einer Lampe völlig seinen Nutzen. Ebenso ist es mit dem Gewissen: durch das Wort und den Heiligen Geist erleuchtet, nur in dem Lichtglanz der Herrlichkeit Gottes im Angesicht Christi ist es fähig, uns den geraden Weg zu zeigen. Leuchtet dem Gewissen aber aus irgend einem Grunde das Licht nicht mehr - so daß es Nacht um uns wird - in welch ein Labyrinth (Irrgarten) führt es uns dann!
Und die Nacht kommt leicht.
Sobald unser Wille, unsere Lüste wirken und das Ich sich meldet, naht die Nacht, und das Gewissen wird umdunkelt. Aber Gott sei gepriesen! wir sind nicht auf uns selbst, auf unsere eigene Kraft und Fähigkeit angewiesen, den rechten Pfad zu finden. Sein unwandelbares Wort, die von Gott eingegebenen Schriften, sind unsere Leuchte und unsere unantastbare Autorität. Jedes Herz, das sich Seiner Stimme öffnet, wird vom Heiligen Geist geleitet, sich der Schrift zu unterstellen. Nur in der Schrift offenbart sich die Person des Herrn, nur dort enthüllt sich dem Gewissen der Weg, die Wahrheit und das Leben. Abseits von der Schrift plagen und quälen wir uns vergeblich, den geraden Weg zu finden, und geraten sicher auf Abwege.
Jene erwähnten Brüder stellen die Autorität des Gewissens über die des inspirierten Wortes und ändern so den Kurs des christlichen Lebens; ohne es zu bemerken, geben sie ihrem Gewissen den Platz des Wortes und öffnen die Tür zu „einem anderen Evangelium“, das man etwa wie folgt ausdrücken könnte: „Das Gewissen sagt: Ich bin das Licht der Welt“. „Das Gewissen sagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. „Mein Gewissen ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“ „Wodurch wird ein Jüngling seinen Pfad in Reinheit wandeln? Indem er sich bewahrt nach seinem Gewissen“. „In meinem Herzen habe ich mein Gewissen bewahrt, auf daß ich nicht wider Dich sündige.“ „Das Gewissen der Gläubigen ist vollkommen, erquickend die Seele.“ „Ihr erforscht euer Gewissen, denn ihr meint, in ihm ewiges Leben zu haben ...“ „Das Gewissen ist lebendig und wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert ...“
So könnte man fortfahren, aber diese wenigen Beispiele mögen genügen, uns ein Bild zu machen, welche Gefahr man läuft, wenn man den festen Boden der Schrift verläßt und sich auf sein Gewissen, die Vernunft oder andere Dinge der Menschen stützt.
Wir wollen uns gegenseitig warnen, nicht diesem Irrtum zu verfallen. Jede Seele, die sich einfältig und aufrichtig an den Herrn hält, wird nicht fehlgehen. Im geschriebenen Wort erkennen wir bald die leitende und tröstende Stimme des guten Hirten. Wenden wir uns aber von der Schrift, so trennen wir uns von Ihm. Erschrickt unser Herz nicht vor dieser Gefahr? Um so mehr wird sie uns anspornen, „zu lesen, zu hören und zu bewahren, was in ihr geschrieben ist“. (Off 1,3).
Ch. A. - A. v. W.