Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 17 - Jahrgang 1932
Im Schatten Seiner FlügelIm Schatten Seiner Flügel
Die Gewißheit in schweren Tagen, unter dem Schutze unseres großen und liebenden Gottes zu stehen, Seiner Vatertreue vertrauen zu dürfen, auch wenn die Wolken am Horizont immer dunkler und drohender werden, ist ein starker und auch der beste Trost für unsere Herzen. In dem Schatten und unter dem Schutze Seiner Flügel können wir uns bergen. Da vermag das arme Herz stille zu werden, Not oder auch Unrecht, die uns auf dem Pfade begegnen, müssen dem freudigen Bewußtsein weichen, daß wir hier geborgen sind. Die Güte und Huld unseres Hirten folgen uns alle Tage unseres Lebens. Bei Ihm finden wir für alle Lagen, alle Umstände ein Herz, das uns versteht und uns mit weiter, unermüdlicher Liebe umschließt.
Es gibt gar viele Stellen im Worte Gottes, die von dem „Schutze der Flügel“ sprechen, besonders die Psalmen sind reich daran. Und da ist es vielleicht gut, wenn wir uns die Bedeutung der einzelnen Stellen in ihrem Zusammenhang einmal vor Augen führen, damit dieser kostbare Gegenstand unserem Herzen noch teurer werde. Das Forschen in der Schrift ist stets ein großer Gewinn; wenn es dann ins praktische Glaubensleben übertragen wird, wenn die Wahrheiten, die wir erfahren, zu unserem Herzen sprechen, dann ist das Nachsinnen über die Gedanken Gottes von dem Nutzen, den Gott Selbst uns wünscht.
Ganz allgemein stellen die Flügel in der Heiligen Schrift ein Sinnbild der Macht dar, sei es einer richtenden oder häufiger einer bewahrenden Macht. So kennzeichnen z. B. Stellen wie Jes 8,8, Jer 48,40 und 49,22 die Heeresmacht Assyriens zum Gericht über Juda in künftigen Tagen der Drangsal oder die Macht Nebukadnezars zum Gericht über Moab und Edom. Vor allem aber bilden die Flügel das Symbol der göttlichen Macht. Das Rauschen der Flügel der lebendigen Wesen und der Cherubim ist wie die Stimme Gottes, des Allmächtigen (Hes 1,24; 10,5), einer Stimme, die durch den Mund des Propheten Gericht über Israel aussprechen muß. Auch in 2Sam 22,11, Ps 18,10 und Ps 104,3 sind die „Fittiche des Windes“ Bilder der richtenden göttlichen Gewalt.
In besonderer Weise aber versinnbildlichen die Flügel die schützende Macht, die Gott für Seine Geliebten entfaltet. In der Wüste tragen die Flügel Seiner Macht: Auf Adlers Flügeln hat Jehova Israel getragen und zu Sich gebracht (2. Mose 19,4). „Wie der Adler sein Nest aufstört, über seinen Jungen schwebt, seine Flügel ausbreitet, sie aufnimmt, sie trägt auf seinen Schwingen: So leitete ihn Jehova allein, und kein fremder Gott war mit ihm.“ (5. Mose 32,11.12) Israels erster Weg durch die Wüste stand unter dem Zeichen solcher Obhut. Die Allmacht Gottes trug Seine Kinder auf Adlerschwingen, enthob sie den Feinden auf der Erde und brachte sie sicher ans Ziel.2
Im Lande entfaltet sich die Macht der Flügel in beschirmender Weise. Sie wird dann notwendig, wenn der Feind droht, wenn Gerichte nahen oder bereits hereingebrochen sind. Als der Herr Jesus auf diese Erde kam, wollte Er Israels Schirmherr sein. Zu Ihm sollte Jerusalem Zuflucht nehmen, denn Er war gekommen, das Reich des Segens aufzurichten und das Volk in diese Segnungen einzuführen. Die Feinde Israels hätten den Plan räumen müssen. Aber die Kinder Jerusalems haben nicht gewollt. „Wie oft“, klagt der Herr, „habe Ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein versammelt unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ (Mt 23,37; Lk 13,34) Sie verwarfen ihren Beschützer und schlugen Ihn durch die Hand derselben Feinde, von denen Er allein sie hätte befreien können, ans Kreuz.
Ihr Haus wird ihnen überlassen, ja, es wird öde gelassen (Lk 13,35; Mt 23,38). Die Juden bleiben ihrer Verstocktheit und schließlich ihrem Gericht überantwortet. Jerusalem, ihre Stadt, wird zerstört. Diese Zeit des Gerichts ist noch nicht abgeschlossen, sie wird in der kommenden Drangsal erst ihren Höhepunkt erreichen. Zuvor kehren die Juden ins Land zurück. Dort finden wir sie im ersten Buch der Psalmen. Das öde gelassene Haus wird wieder bewohnt, aber die Masse des Volkes verharrt im Unglauben. Nur der gläubige Überrest hält sich an seinen Gott: „Menschenkinder nehmen Zuflucht zu Seiner Flügel Schatten.“ (Ps 36,7) Der Glaube, der hier spricht, erhebt sich in anderen Psalmen bis zu der Höhe der Gefühle des Herrn Selbst, der während Seines Wandels auf Erden in die Leiden des Überrestes einging und sie in höherer, vollkommener Weise durchlebte. So ruft Er durch den Mund des Psalmisten, wie einst der Überrest rufen wird: „Bewahre Mich wie den Augapfel im Auge, birg Mich in dem Schatten Deiner Flügel.“ (Ps 17,8) Sein Vertrauen beruhte in völligem Gehorsam, in Gerechtigkeit inmitten der Feinde (das ist der Gegenstand des 17. Psalms) auf Gott, auf den Er, als vollkommener Mensch betrachtet, von Mutterschoße an geworfen war. Die Liebe des Vaters begleitete den Weg des Sohnes, der durch Leiden führte.
Das zweite Buch der Psalmen führt uns in die Drangsal und Leiden der Vertriebenen. Der Antichrist erweist sich in Jerusalem als Feind der gläubigen Juden und vertreibt einen Teil des Überrestes in die Wüste. Satan, die alte Schlange, verfolgt das fliehende Weib, das uns in Off 12 diese Gläubigen aus Israel darstellt. Dem Weibe werden die zwei Flügel des großen Adlers gegeben, auf daß sie in die Wüste fliege (Off 12,14). Jehova Selbst nimmt Sich Seiner Getreuen an. Wie Er einst ihre Väter auf Adlers Flügeln getragen, so wird Er es wiederum am Ende der Tage tun. Wunderbares Bild! Seine beschützende Macht ist es, die die Geliebten den Angriffen des Feindes enthebt.
So muß sich der Überrest einen kleinen Augenblick verbergen (Jes 26,20). Aber er nimmt Zuflucht zu Gott: „Ich will Zuflucht nehmen zu dem Schatten Deiner Flügel, bis vorübergezogen das Verderben.“ (Ps 57,1) Stufenweise wächst das Vertrauen, erhebt sich der Glaube: „Ich werde weilen in Deinem Zelte in Ewigkeit, werde Zuflucht nehmen zu dem Schutze Deiner Flügel“ (Ps 61,4), ja, die Gewißheit steigert sich zu dem Ausruf: „Ich werde jubeln in dem Schatten Deiner Flügel.“ (Ps 63,7) In der Tat ein herrlicher Glaube, der in einem dürren und lechzenden Lande ohne Wasser weiß, daß der Lobgesang, der Gottes noch schweigend harrt, bald in Herrlichkeit zu Jerusalem ertönen wird. (Ps 63,1; 65,1)
Es ist wie ein Erinnern an die Adlerflügel, die getragen bis an den Zufluchtsort, und ein Vorausschauen in die sichere Zukunft der Gegenwart Gottes. Solcher Glaube muß uns beschämen. Wie oft verzagen wir in den Nöten und Schwierigkeiten der gegenwärtigen Zeit! Wie schauen wir bang in die Zukunft und erhoffen von äußeren Dingen Besserung der Lage! Warum nehmen wir nicht lieber Zuflucht zu dem
Schatten Seiner Flügel? Hat Gott nicht auch uns wie auf Adlersflügeln bis hierher getragen und uns täglich Seine liebende Fürsorge geoffenbart? Er wird uns auch weiter helfen. Unser banges und verzagtes Herz darf getrost sein. Wir dürfen jubeln in dem Schatten Seiner Flügel, Seine Macht wird uns tragen bis in die Wohnungen des Vaterhauses, die weit schöner sind als die Zelte, in denen das irdische Volk Gottes einst wohnen wird (Ps 61,4). Der Herr Jesus hat sie uns Selbst bereitet, und wir werden dort aller Kämpfe, aller Müdigkeit des Weges für ewig enthoben sein.
Th. Bu.
2 Das Bild des Hirten, der die Herde durch die Wüste leitet (Ps 78,52), stellt mehr die bewahrende Macht inmitten der Angriffe des Feindes dar.↩︎