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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 21 - Jahrgang 1936
Der gefangene AdlerDer gefangene Adler
Als ich kürzlich in S. war, bot sich mir ein wehmütiger Anblick. Ich sah einen großen Adler in einem großen eisernen Käfig. Die Sonne, die strahlend am Himmel stand, schien ihm zuzurufen, sich doch von der Erde aufzuschwingen und sich in seinem natürlichen Element zu bewegen und zu erfreuen. Und gleichsam dieser Einladung folgend, wandte er seine Augen der Sonne zu, breitete seine gewaltigen Schwingen aus und setzte zum Fluge an. Dann aber, man sah es ihm an, wurde er sich der eisernen Stäbe bewußt, die ihn zu einem Gefangenen machten. Der königliche Vogel senkte seine Flügel, neigte seinen Kopf in deutlich wahrnehmbarer Enttäuschung und Beschämung. Mit wachsender Teilnahme beobachtete ich den armen gefangenen Vogel an diesem lieblichen Sommernachmittag. Immer wieder, wenn er nach der Sonne schaute, blitzte das Licht in seinen Augen auf und hob er die Flügel in vergeblichem Bemühen, sich in die Lüfte zu schwingen. Und ebensooft sanken seine Flügel wieder herab, beugte er den Nacken mit den Zeichen einer Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit, wie ich sie kaum jemals gesehen habe. Und doch lag das Sehnen nach Freiheit so deutlich in seinen blitzenden Augen, und seine ausgestreckten Schwingen bezeugten, daß er auch die Fähigkeit hatte, sich in der Freiheit zu bewegen. Nur der Käfig war es, der ihn trotz seines Verlangens und seiner Kraft zu einem Gefangenen machte.
Der gefangene Vogel wurden mir zu einem Gleichnis. Er redete zu mir von Gläubigen - und ach, wie viele mag es geben - die das Sehnen nach den himmlischen Dingen, die ihnen gehören, im Herzen tragen und auch die Fähigkeit besitzen, in ihrem Sinnen und Denken dort zu leben, wo ihr wahres Leben ist, denn der Heilige Geist wohnt in ihnen. Und doch wissen und kennen sie kaum etwas von dem wirklichen Genuß der himmlischen Dinge. Vielleicht haben etliche sie einst geschmeckt, aber jetzt nicht mehr, weil sie von der Welt gefangengehalten werden.
Und was ist das für ein Käfig, der sie gefangenhält? Der Käfige, die der Teufel hat, sind viele. Manche Gläubige sind im Käfig der ungöttlichen Verbindungen um irdischer Vorteile willen. Andere sind von der Freundschaft der Welt umschnürt, und ihr Herz ist durch Untreue verengt. Die Gläubigen in Korinth waren in diesem traurigen Zustand, als Paulus ihnen schrieb: „Ihr seid nicht verengt in uns, sondern ihr seid verengt in eurem Innern.“ (2Kor 6,12)
Wieder andere sind fleischlich gesinnt und vom Fleische gefangengehalten, Sie haben vergessen, daß wir nicht Schuldner sind dem Fleische, „um nach dem Fleische zu leben, denn wenn ihr nach dem Fleische lebet, so werdet ihr sterben.“ (Röm 8,12.13) Sie sind von der Lust des Fleisches umstrickt. Die Dinge, mit denen sie einmal tändelten und spielten, wurden zur Gewohnheit, und als sie wünschten, frei davon zu werden, entdeckten sie, daß sie Gefangene geworden waren. Andere sind gleich denen, über welche der Apostel weinte, die auf das Irdische sinnen. Auch Geldliebe ist ein schrecklicher Käfig. Alle diese armen Gefangenen werden in ihrem engen
Käfig festgehalten, und in ihrem Begehren nach den irdischen Dingen haben sie ihre Freude an den himmlischen Dingen verloren.
Die Erfahrungen dieser Gläubigen gleichen der des gefangenen Adlers. Sie besuchen die Versammlungen, und sie hören das Wort des Herrn. Ihre Herzen werden berührt, und sie heben ihre Augen auf und schauen den Glanz der Herrlichkeit des Herrn, und das Verlangen nach jenen Dingen, von denen sie wissen, daß sie ihnen gehören, wird lebendig in ihren Herzen. Aber sie sind festgebunden, und Seufzer statt Lobgesänge kommen aus ihren verzagten Herzen. Sie mögen ihren Herzenszustand vor anderen verbergen, sie selbst aber müssen sich die Vollständigkeit ihrer Niederlage gestehen. In Reue und mit neuen Vorsätzen und Gebeten wälzen sie sich schlaflos auf ihrem Bett, und ist der neue Tag gekommen, so sehen sie wieder, daß all ihre Vorsätze vergeblich waren. Die Lockungen, mit denen der Teufel sie einst verführte, waren zu einem Käfig geworden, der sie eisern gefangenhält. Sie, die der Herr freigemacht, sind wieder Gefangene, und fast zweifeln sie, daß die geistliche Freude und Freiheit jemals wieder ihr Teil werden wird.
Ich bin überzeugt, daß das, was ich hier schreibe, die bittere Erfahrung einiger ist, die es lesen, und daß in ihrem Herzen sich die bange Frage erhebt: „Gibt es noch einen Weg der Befreiung für mich?“ Ja, es gibt einen, denn der Herr ist barmherzig und gnädig. Gnade ist es, die uns im Anfang Errettung und Befreiung schenkte, und Gnade ist es, die uns wieder zur Freiheit führen kann, wenn wir sie verloren haben. So schrecklich auch der Rückfall gewesen sein mag, Gott bleibt der Gott aller Gnade. Er ist gut und zum Vergeben bereit und groß an Güte gegen alle, die Ihn anrufen (Ps 86,5). Das heißt aber nicht, daß Er über die Sünden Seiner Kinder leicht hinweggehe, als seien sie nichts, sondern daß es in dem Herrn Jesus Christus eine volle Sühnung und Befreiung für alle gibt.
Aber auch auf der Seite des Verstrickten und Gefallenen bedarf es eines erwachten und geübten Gewissens. Jene Tränen der Nacht und Seufzer der Reue zeigen, daß das Leben der Seele nicht erloschen ist. Furchtbar aber ist der Zustand, wenn das Gewissen verhärtet und die Seele das Empfinden für die Sünde verlor. Wenn aber die Seele von Herzen Leid trägt über den traurigen Fall, so beweist dies, daß ein treuer Sachwalter bei dem Vater und der Heilige Geist in dem Herzen tätig sind, und die Seufzer des Gefangenen steigen empor zu Gott (Ps 79,11). Welch ein Trost ist dies für das reuige Herz!
Natürlich kann es keine Befreiung geben, wenn nicht ein wirkliches Verurteilen und Drangeben des Bösen in Wahrheit und vom Herzen aus stattfindet. Es war das Herz, das zuerst verlockt und verstrickt wurde, und auch die Wiederherstellung muß vom Herzen aus beginnen. Das Böse kann aufgegeben werden unter dem Druck von Umständen oder der Furcht vor den Folgen, aber es wird sicher wieder fortgesetzt werden, wenn die Furcht verschwunden und die Gelegenheit dafür sich wieder bietet. Dann aber werden die Gitter des Gefängnisses viel stärker sein als zuvor. Der Weg zur wirklichen Freiheit ist, daß das Herz von dem bösen Wege überführt und geheilt wird, und dieses geschieht durch die Erkenntnis des Kreuzes Christi und was es in sich schließt.
Das Kreuz Christi ist die Offenbarung der heiligen und gnadenvollen Liebe Gottes, und es redet zu uns von der Sühnung unserer Sünden - von Jesus Christus, dem Gerechten, der jeder Anklage wider uns begegnet. Die Sünden aus unserer unbekehrten Zeit und ebenso die Sünden nachdem fanden dort ihre Sühnung, und der Herr Jesus, der die Strafe für uns in jener schrecklichen Stunde am Kreuze trug, ist jetzt für uns in der Gegenwart des Vaters als unser Fürsprecher tätig (1Joh 2,1). Erfassen unsere Herzen das vollkommene Werk Christi am Kreuz, dann stimmen auch wir in den Ruf des Apostels (Gal 2,20) ein: „Ich bin mit Christo gekreuzigt, und nicht mehr lebe ich, sondern Christus lebt in mir; was ich aber jetzt lebe im Fleische, lebe ich durch Glauben, durch den an den Sohn Gottes, der mich geliebt und Sich Selbst für mich hingegeben hat“, ja, selbst für mich, den unglücklichen Zurückgegangenen und Gestrauchelten.
Wer die wiederherstellende Gnade erfahren hat, der bezeuge auch anderen zur Warnung seine bittere Erfahrung, daß nie ein Gläubiger Befriedigung in fleischlichen Dingen finden kann, sondern nur Seelenkämpfe, Kummer, Schmerz und Leid. Mit jedem Sicheinlassen in Dinge, die den Herrn verunehren, räumen wir dem Teufel einen Vorteil über uns ein und vergeuden nicht nur die kostbare Zeit, für den Herrn zu wirken, sondern bringen uns in Gefahr, von dem Feinde gefangengenommen zu werden.
Gott hat Lust an der Wahrheit im Innern (Ps 51,6), und diese muß Er bei uns finden. Kein Selbstbetrug darf in unserem Herzen vor Ihm sein, denn Er weiß alles und ist bereit, alles zu vergeben, wenn wir es Ihm bekennen. Und wenn wir gegen Menschen gefehlt haben, so haben wir auch denen, gegen welche wir gesündigt haben, es zu bekennen. David sagt: „Als ich schwieg, verzehrten sich meine Gebeine durch mein Gestöhn den ganzen Tag. Denn Tag und Nacht lastete auf mir Deine Hand (welch treue Gottesliebe)!; verwandelt ward mein Saft in Sommerdürre. Ich tat Dir kund meine Sünde und habe meine Ungerechtigkeit nicht zugedeckt. Ich sagte: Ich will Jehova meine Übertretungen bekennen; und Du, Du hast vergeben die Ungerechtigkeit meiner Sünde.“ (Ps 32,3-5) Welch unvergleichliche Gnade enthüllen uns diese Worte! Gott antwortet auf das offene Bekenntnis der Wahrheit sofort mit Seiner Gnade. Ja, es ist Gnade Gottes, die das Herz zum Bekenntnis bringt, und Gnade Gottes, die dann sofort vergibt. Er ist treu und gerecht, daß Er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit.
Der erste Schritt zur Freiheit ist, daß das Herz dahin geführt wird, den eigenen traurigen Rückgang oder die Sünde des Falles zu erkennen und in dem Bewußtsein der unwandelbaren Gnade vor Gott in Demut zu bekennen. Alsdann dürfen wir uns Seiner vergebenden Gnade erfreuen und erkennen, daß, so wie allein die Gnade unsere Vergangenheit löschte, wir auch allein durch Gnade den Weg in Zukunft zu gehen vermögen. Der nie ruhende Feind wird stets neu versuchen, uns zu umstricken. In dem Bewußtsein unserer Kraftlosigkeit sollte die Bitte unseres Herzens immer wieder sein: „Herr, sei Du meine Kraft! Halte mich, bewahre mich!“ Denn unser törichtes und arglistiges Herz ist immer geneigt, den Einflüsterungen des Feindes Gehör zu geben. Unsere Sicherheit liegt in dem Sichbergen bei dem Herrn.
Eine andere Gefahr für das wiederhergestellte Herz besteht darin, sich zuviel mit der Vergangenheit zu beschäftigen, Der Herr sagt: „Ihrer Sünden und ihrer Gesetzlosigkeiten werde Ich nie mehr gedenken.“ (Heb 10,17) Dies sollte für uns eine solche Wirklichkeit sein, daß sie unserem Verhalten Richtung gibt. Wenn wir das Vergangene zurückrufen, so sollte es nur sein, um Gott für die Gnade zu preisen, mit der Er vergeben hat, und den, der uns soviel vergeben, auch viel zu lieben. Jedes Mit-sich-selbst-beschäftigt-sein ist unheilvoll und hindernd für unser inneres Wachstum, es gibt uns weder Kraft noch Freiheit; aber es kann, besonders wenn es ein tieferer Fall war, zu einer gefährlichen Neigung bei uns werden.
Die wahre Freiheit des Gläubigen liegt in der Freude am Herrn. Der Heilige Geist wohnt in jedem bluterkauften Kinde Gottes und befähigt es, in dieser herrlichen Freiheit zu leben. Wenn ein Herz sich mit Abscheu und Ekel vom sündlichen Wege abkehrt und wieder Dem zuwendet, dessen Liebe sich nie verändert, so findet es die Stäbe seines Gefängnisses beseitigt, und es darf sich wieder der Freiheit der Kinder Gottes erfreuen. Der Gläubige kann seine Schwingen wieder emporheben wie ein Adler; kann laufen und nicht ermatten, gehen und nicht ermüden. (Jes 40,31)
Vielleicht ist das ungleiche Joch - das einige gefangenhält - eine Ehe mit einem Ungläubigen; und davon können sie nicht befreit werden. Unendlich traurig sind solche Fälle; aber auch für solche ist Hoffnung. Auch hier muß der Ungehorsam dem ausdrücklichen Gebote des Herrn gegenüber bekannt werden, und die Gnade Gottes vermag dann das Herz zu befreien, selbst wenn der Käfig bleibt. Das demütige Herz wird sich beugen vor Gott und Seine züchtigende Hand anerkennen, und der Ehegatte, der nicht dem Worte gehorsam ist, mag gewonnen werden durch den Wandel ohne Wort. (1Pet 3,1)
Die Gnade unseres Gottes ist unsere Hoffnung und unsere Kraft. „Wo aber die Sünde überströmend geworden, ist die Gnade noch überschwenglicher geworden.“ (Röm 5,20) Sie ist größer als all unser Zukurzkommen, sie kann nie fehlen. Die Sünde soll nicht über uns herrschen, denn wir sind nicht unter Gesetz, sondern unter Gnade (Röm 6,14). Bei dem Herrn ist Vergebung, damit Er gefürchtet werde. (Ps 130,4)
Niemand aber denke, daß Vergebung und Befreiung auch zugleich die Befreiung von der züchtigenden Hand Gottes in sich schließe oder daß die uns zuteil gewordene Gnade uns davor bewahre, zu ernten, was wir gesät haben, oder daß Gott in Seiner Sorge über uns aufhöre, uns für Sich zu erziehen. Wenn wir dies erwarten, dann zeigen wir nur, daß wir unsere Zurechtweisung noch nicht verstanden haben. Wenn eine Seele wirklich wiederhergestellt ist, so wird sie demütig die Gerechtigkeit Gottes in allen Seinen Wegen und Führungen mit uns anerkennen und überströmen in Dankbarkeit für alle ihr zuteil gewordene Gnade.
J. T. M. - A. v. d. K.