Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 14 - Jahrgang 1929
Zu Seinen FüßenZu Seinen Füßen
Zu den Füßen Jesu ist der gesegnetste Platz. Dort wird jede Dunkelheit gelöst und jede Frage geordnet, seien es Fragen der Sünde, der Sorgen oder des Dienstes. Es gibt keinen Platz gleich diesem für den schuldbeladenen Sünder und keinen Platz gleich diesem für das glückliche und unglückliche Kind Gottes.
Jesus ist größer als unsere Sünde.
Die erste große Wahrheit, die der Seele an diesem Platze leuchtet, ist, daß Jesus größer als unsere Sünde ist. So war es bei der Sünderin in Lukas 7,36ff. Der Herr hatte gesagt: „Kommet her zu Mir, alle ihr Mühseligen und Beladenen, und Ich werde euch Ruhe geben“. (Mt 11,28) Vielleicht hatte das Weib diese Worte des Herrn gehört, und sie suchte und fand Ihn im Hause des Pharisäers. Mußte sie, die stadtbekannte Sünderin, nicht zögern, über die Schwelle des Hauses dieses sittenreinen Mannes zu gehen? Welche finsteren Blicke des Hausherrn und der Gäste trafen sie dort! Zwei Mächte aber zogen sie zu den Füßen Jesu: Ihre große Sündenlast und Seine große Liebe. Diese beiden Mächte ließen sie jedes Hindernis überwinden. Wie ein vom Sturm verschlagenes Vöglein einen Platz der Ruhe unter dem schützenden Dache findet, so fand sie den Platz der Zuflucht und Ruhe zu den staubbedeckten Füßen des Sohnes Gottes. Simon hätte dem Weibe nicht erlaubt, ihm nahe zu kommen, und die Jünger würden sie zweifellos mit wenig Gnade behandelt haben; aber Er, der demütige Jesus, und doch der mächtige Fürst des Lebens, hinderte sie nicht, Ihn zu berühren und Seine Füße mit den Tränen ihrer Buße und Dankbarkeit zu benetzen.
Zu Seinen Füßen fand sie ein Herz von unendlicher Zartheit. Er stieß sie nicht von Sich, noch hielt Er ihr ihre Sünden vor, sondern Seine Hand hob die Last, unter der sie seufzte, und sie hörte Seine Stimme: „Deine Sünden sind vergeben, dein Glaube hat dich gerettet, gehe hin in Frieden“. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft, alles war jetzt für sie geordnet. Sie, die so lange eine Beute der Menschen und des Teufels gewesen war, war gereinigt von ihren Sünden, gelöst vom Bösen durch die heiligende Kraft Seiner Liebe, und ihr ganzes Herz floß über in dankbarer Liebe zu dem, der sie nicht hinausgestoßen hatte. Ihr war viel vergeben, und sie liebte viel.
Zu Seinen Füßen fand sie ihre Errettung, und zu Seinen Füßen wird noch immer Errettung gefunden, denn „Er ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit.“ (Heb 13,8)
Jesus ist größer als unser Dienst.
Wir sagen nicht, daß die geliebte Maria von Bethanien identisch ist mit dem Weibe in dem Hause Simons. In dieser Zusammenstellung möchten wir nur ausdrücken, daß Maria diesen Platz zu den Füßen Jesu (wo das Weib ihre Last los wurde) liebte, und wo wir in der Schrift von ihr lesen, finden wir sie zu Seinen Füßen. Die erste Schriftstelle ist Lk 10,38-42. Wir haben für Marthas Dienst kein Wort der Verurteilung. Der Dienst war recht, aber die Dienende war verkehrt. Ihr fehlte das Geheimnis des friedvollen, unbeschwerten Geistes. Viele Dinge bekümmerten sie, während eins, und nur eins allein, Er Selbst, Marias Herz beschäftigte.
Wir bewundern oft Maria, daß sie diesen Platz einnahm. Sollten wir diese Bewunderung nicht vielmehr dem Herrn zuteilen, denn Er war es, durch den sie zu diesem Platz des Segens gezogen wurde?! Sie folgte nur diesem Zuge, der von Ihm ausging, so wie die Nadel dem Zuge des Magneten folgt. Er kam von dem Vater, um des Vaters Willen zu tun und die Herzen sündiger Männer und Weiber mit einem Frieden und einer Freude zu füllen, welche die Welt nicht kennt. Der, zu dessen Füßen Maria ohne Furcht saß, war kein anderer als der, vor welchem mächtige Seraphim ihr Angesicht bedecken und rufen: „Heilig, heilig, heilig ist Jehova der Heerscharen, die ganze Erde ist voll Seiner Herrlichkeit!“ (Jes 6,3) Sie aber kannte Ihn in der Offenbarung Seiner Gnade als den, der Elenden das Brot des Lebens bricht und dessen Worte Worte ewigen Lebens sind. Ihr Herz verlangte, sich von Ihm allein zu nähren.
O, wenn Martha erkannt hätte, daß Er nicht gekommen war, bedient zu werden, sondern zu dienen, und daß Sein Herz unaussprechliche Freude darin findet, unser leeres Herz mit der Erkenntnis Seines Vaters und Seiner Selbst, des
Gesandten des Vaters, zu füllen, sie würde ihren Dienft verlassen und gleich ihrer Schwester zu Seinen Füßen das Glück und die Zufriedenheit ihrer Schwester Maria gefunden haben. Möchten wir dieses gleich der Maria tun, denn „Er ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit“.
Jesus ist größer als unsere Not.
Der kalte Hauch des Todes hatte sich auf das friedliche Haus der Schwestern in Bethanien gelegt. Alle Hoffnungen der beiden Schwestern waren vernichtet, und mit wunden Herzen blickten sie auf den zerstörten Kreis ihrer kleinen Familie. Und nun als alle ihre Hoffnungen zerbrochen waren, kam Jesus zu ihnen. Als Maria dahin kam, wo Jesus war, und Ihn sah, fiel sie Ihm zu Füßen und sprach zu Ihm: „Herr, wenn Du hier gewesen wärest, so wäre mein Bruder nicht gestorben“ (Joh 11,32). Mit einem zerschlagenen Herzen legt sie ihren Kummer zu Seinen Füßen. Ob eine weitere Unterredung zwischen ihnen stattfand, wissen wir nicht, die Schrift schweigt darüber. Es gibt Augenblicke gleich diesen, in denen ein Austausch der Herzen ohne Worte stattfindet. Die Gefühle Seiner Liebe und Seiner Teilnahme sind zu tief für Worte. Eins wissen wir, Er ging mit ihr und sie mit Ihm; Seine Tränen flossen mit ihren Tränen; in Seiner Nähe, in Seiner Gemeinschaft, wußte sie: „Alles ist gut.“
Seine Stimme der Macht löste die Bande des Todes und machte den Gebundenen frei; aber Maria sah Größeres als Seine Kraft; sie kannte Sein Herz voll innigen Mitgefühls, denn sie hatte Seine Tränen gesehen. Nie hätte sie wissen können, wie tief Seine Liebe war und wie zart Sein Herz und wie allumfassend Sein Mitgefühl, wenn sie nicht in diese schweren Stunden des Leides gekommen wäre. Geliebtes Kind Gottes, „Jesus Christus ist derselbe, gestern und heute und in Ewigkeit“.
Jesus ist größer als wir.
Zuletzt lesen wir von Maria in Joh 12. Es liegt eine köstliche Harmonie darin, daß dieser Bericht ihres Lebens der letzte ist. Das Pfund echter, sehr kostbarer Nardensalbe hätte sie in dem Kreise der Bekannten ausgezeichnet, aber in verschwenderischer Fülle verwandte sie dieselbe allein für Ihn. Seine Person war ihr größer als ihre eigene Person.
Sie wußte, Er ging jetzt in den Tod. Die Welt hatte Ihm nichts anderes zu geben als ein schmachvolles Kreuz. Unter allen Seinen Geliebten schien allein sie dies zu empfinden. Sie sagte gleichsam in ihrer Handlung: „Das Beste, was ich habe, soll mit Ihm in Sein Grab gehen. Er ist es wert.“ Der Herr allein verstand sie. Er erklärte ihre Handlung, indem Er sagte: „Erlaube ihr, es auf den Tag Meines Begräbnisses aufbewahrt zu haben“ (Joh 12,7). Und weiter: „Wahrlich, Ich sage euch: Wo irgend dieses Evangelium gepredigt werden wird in der ganzen Welt, wird auch von dem geredet werden, was diese getan hat, zu ihrem Gedächtnis“. (Mt 26,13)
So schätzte der Herr das, was von den Menschen verkannt und verachtet wurde. Er sah, daß die Tat aus einem Herzen kam, dem Er alles war und das sich selbst in den Schatten stellte. So war es auch bei Paulus, als er sagte: „Von mir aber sei es ferne, mich zu rühmen, als nur des Kreuzes unseres Herrn Jesus Christus, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist, und ich der Welt“. (Gal 6,14)
Und dahin will der Heilige Geist auch uns führen. Zu Jesu Füßen lernen wir diese Lektion. Bald (und möge der Herr den Tag beschleunigen)! wird jede erlöste Seele sich Ihm droben beugen und ihre Krone zu Jesu Füßen niederlegen, die einst am Kreuze für uns durchnagelt wurden. Mit ungeteilten Herzen werden wir Anbetung darbringen Ihm, der unser Herz gewann und zu Sich zog. Wenn Er uns aber droben alles in allem ist, so soll Er uns auch jetzt schon hienieden alles in allem sein, denn „Jesus Christus ist derselbe, gestern, heute und in Ewigkeit“.
M. (v. d. K).