verschiedene Autoren
Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 22 - Jahrgang 1937
Wille und SiegWille und Sieg
„Sich selbst bekriegen ist der schwerste Krieg,
Sich selbst besiegen ist der größte Sieg.“ „Ich kann nicht! Es ist unmöglich!“ sagte ein Offizier zu Alexander dem Großen, nachdem er von einer Felsenfestung zurückgeworfen worden war. „Fort mit dir!“ donnerte der große Mazedonier ihn an: „Nichts ist dem unmöglich, der den Willen hat zu siegen“, und, sich an die Spitze seiner Soldaten stellend, verjagte er den Feind aus seinen Verschanzungen.
Auch in der Schrift wird dem Willen eine große Bedeutung zugemessen. „Dir geschehe, wie du willst.“ (Mt 15,28) „Willst du gesund werden?“ (Joh 5,6) „So jemand Seinen Willen tun will, so wird er von der Lehre wissen, ob sie aus Gott ist.“ (Joh 7,17) Wir sehen also, daß auch nach der Schrift viel abhängig ist von dem Willen des Menschen, und es wäre ein großer Irrtum, von der Zerstörung oder auch nur Ignorierung des Willens zu reden. Die Größten im Reiche Gottes waren immer ausgeprägte Willensnaturen. Wir brauchen nur an Paulus und sein reiches Leben zu erinnern, das einem großen Hindernisrennen zu vergleichen ist (nach 2Kor 11,18-33; vgl. 1Kor 9,24-27) und das ohne Aufbietung äußerster Willenskraft nicht denkbar ist, ein schlagender Beweis, daß diesen Großen lange nicht alles einfach in den Schoß gefallen ist. Das Reich Gottes verlangt äußerste Willensentwicklung, Willensschulung, Willensspannung und Willensentfaltung.
Wir unterscheiden auf Grund der biblischen Seelenlehre zwischen Naturwollen und persönlichem Wollen des Menschen, wie wir überhaupt zwischen Naturleben und Personleben oder bewußtem Leben unterscheiden. Unter Natur versteht die Schrift den ganzen schöpfungsmäßig oder durch die Geburt überkommenen Wesensbestand nach Geist, Seele und Leib und nennt denselben bald Natur (Jak 3,7; 1Kor 15,44a; Röm 2,14; Gal 2,15; Jud 10), bald „lebendige Seele“. (1. Mose 2,7; vgl. 1Kor 15,44a)
Diese Natur ist mit einem starken Wollen oder Lebenstrieb ausgestattet. Zu diesem gehören: a) der Selbsterhaltungstrieb, der sich äußert in Hunger, Durst, Verteidigung, Temperaturempfinden u. a. m., b) der Geltungstrieb, d. h. der Trieb zu Herrschaft, Besitz und Ehre, und c) der Genuß- oder Freudetrieb, der sich äußert in Wissensdrang, Bedürfnis nach Gemeinschaft u. a. m.
Von diesem Naturwollen unterscheidet sich und wird ihm gegenübergestellt der bewußte persönliche Wille, der eine Fähigkeit des Geistes und eine Folge der Vernunft ist (1Kor 7,37: „der Gewalt hat über seinen eigenen Willen“), also der eigene oder Personwille über dem Naturwillen. (Mt 26,41b; Joh 21,18)
Das Naturwollen hat seine Berechtigung (Kol 2,20 bis 23), kann aber nur dann sich zum Nutzen des Menschen auswirken, wenn es unter einem reinen Willen steht. Da aber auch der Geist des Menschen und damit auch der Wille der Sünde verfallen ist, ist das ausgeschlossen. Auch der beste Wille wird immer entweder dem Selbsterhaltungs-, Geltungs- oder Vergnügungstrieb dienen (Eph 2,3; 1Pet 4,3; 2Pet 1,21), und er ist auch durch die Sünde nicht mehr vollständig, sondern zerrissen. (Jes 57,20) Wille ist Entschlussfähigkeit und Wahlfähigkeit und Zielbewußtheit und Zielstrebigkeit. Der Wille ist die bewußte Bewegung auf ein Ziel hin. Wie eine Linie aus aneinandergereihten Punkten besteht, so besteht der Wille aus aneinandergereihten Entschlüssen. Vor dem Sündenfall war diese Linie ununterbrochen; bei dem gefallenen Menschen aber ist diese Linie zerrüttet und in einzelne Punkte aufgelöst und muß deshalb auch nach der Wiedergeburt gestützt werden. (Ps 51,12; 112,7.8)
Nach der Wiedergeburt ist der Wille dieselbe, von Gott geschenkte Kraft und Tätigkeit, aber mit anderem Inhalt, und zwar: a) Selbsterhaltungstrieb für die Ewigkeit (Joh 14,19; Mt 10,39), b) Geltungstrieb für den Herrn (1Thes 2,19), c) Genuß- oder Freudetrieb an himmlischen oder geistlichen Dingen. (1Kor 9,25)
Damit begeben wir uns aber hinein in den unumschränkten Willen Gottes und gelangen so erst zur wahren Willensfreiheit (Eph 6,6; Ps 103,21; Mt 6,10). Die größte Freiheit erlangt der Mensch in der stärksten Gebundenheit an den Willen Gottes, weil er sich in diesem als in einem unumschränkten Raum unumschränkt ausdehnen kann. Sobald unser Wille mit dem Willen Gottes zusammenfällt, ist uns nichts unmöglich (Joh 9,31; 1Joh 5,14; Mk 9,23 u. a. m). Nur so sind die ungewöhnlichen, menschlich unmöglichen Leistungen eines Paulus zu erklären. (Gal 4,13; 2Kor 12,7-10; 2Kor 11,20-29; Röm 15,18.19)
Der Wille des Paulus hatte sich so einsgemacht mit dem Willen Gottes, daß er ganz in demselben aufging und dadurch gerade an Kraft und Umfang gewann. Das kleine „Ich bin, was ich bin“ (1Kor 15,10), war hineingestellt in das große unendlich große „Ich bin, der ich bin“ (2. Mose 3,14). So verhielten sich die beiden Willen zueinander wie zwei konzentrische Kreise.
Zwei konzentrische Kreise haben zusammen aber nur ein Zentrum. Das Zentrum des Willens Gottes ist Gott Selbst. Gott ist somit aber auch das Zentrum unseres Willens. Das Zentrum treibt den Kreis von innen, und der größere Kreis bewahrt den kleinen von außen, sich unharmonisch auszudehnen. (1Kor 9,16; vgl. Apg 16,6.7; Phil 2,13!)!
Also nicht Vernichtung des Willens, sondern Heiligung, Reinigung und
Schulung desselben durch Einfügung in den Willen Gottes, das ist die
Absicht Gottes (2Chr 15,15; Esra 1,4; 1Chr 28,9; 2Kor 8,10; Joh 7,17).
Ein Mensch ohne Selbstbewußtsein ist keine Person, und einer ohne Willen
wäre ein Wrack. „Nichts sein, nichts haben, nichts wollen“ ist
gefühlsselige Schwärmerei. Nicht das Selbstbewußtsein, sondern der
Hochmut soll zerstört werden, nicht der Wille, sondern die Willkür soll
verschwinden, nicht der eigene Wille, sondern der Eigenwille soll
zerbrochen werden. Im Unterliegen siegen, im Sterben leben, im Verlieren
gewinnen, im Verzichten besitzen, im Aufgeben nehmen, im Hinabsteigen
sich aufschwingen - das ist größte Entfaltung des Willens (
Das beste Beispiel in dieser Willensentfaltung ist der Herr Selbst (Joh 12,24). Lk 22,42 lautet auf den ersten Blick fast wie Aufgeben des eigenen Willens. Doch wenn wir näher zusehen, ist es nicht ein Aufgeben, sondern ein Einfügen des eigenen Willens in den Willen des Vaters. In dem „nicht mein Wille geschehe, sondern der deine“ liegt nicht Resignation (Willenlosigkeit), sondern ein heißer Wunsch, der einer brennenden Bitte gleicht. Hier entspann sich der größte Kampf.
Das war nicht Willenlosigkeit, das war nicht einmal Willfährigkeit, das war Willigkeit, das war zielbewußter Wille, das war äußerste Entfaltung von Willenskraft!
Die größte Persönlichkeits- und Willensentfaltung liegt nicht im Geltendmachen aller Machtmöglichkeiten, nicht in der unbedingten und unumschränkten Selbstentfaltung und Selbstbehauptung, sondern in der bewußten Selbsthingabe. Somit war die größte Niedrigkeit zugleich die größte Macht- und Herrlichkeitsentfaltung Gottes. („Er entäußerte Sich Selbst und nahm Knechtsgestalt an“. Phil 2,7).
Wie oft stehen wir vor der Felsenfestung unseres eigenen alten Ichs oder anderer Schwierigkeiten. „Ich kann nicht“, klingt es schließlich kleinlaut nach soundso vielen Niederlagen und Mißerfolgen. „Sie wollen es wahrscheinlich nur halb“, pflegte der große FeldHerr Suworow zu solchen Leuten, die keinen
Erfolg hatten, zu sagen. „Alles ist möglich dem, der da glaubt“, und: „Dir geschehe, wie du willst!“ klingt es aus dem Munde unseres Herrn und Königs.
Hans Legiehn.