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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 18 - Jahrgang 1933
Heb 12,15-17 - Das Versäumen der Gnade GottesHeb 12,15-17 - Das Versäumen der Gnade Gottes
In den früheren Betrachtungen über das 12. Kapitel des Hebräerbriefes sahen wir, daß jeder aus Gott Geborene und durch das Opfer Jesu Christi Geheiligte den Wunsch und das Sehnen nach Heiligkeit in seiner Seele trägt. Wohl mögen Fehltritte und Zukurzkommen bei uns gefunden werden, aber der Heilige Geist, der in uns wohnt, hält dieses Verlangen in unseren Herzen wach. Er enthüllt durch das Wort der Wahrheit uns mehr und mehr die Herrlichkeit der Person unseres Herrn und des Werkes Seiner Liebe. Und indem Er so die Liebe Gottes in unser Herz ausgießt, löst Er uns von den Dingen der Welt, der Lust des Fleisches und den Wegen, in denen wir einst wandelten.
Je näher wir dem Herrn sind und Gottes Gnade kennen, um so mehr folgen wir dann der Ermahnung, dem Frieden und der Heiligkeit nachzujagen, womit Gott den köstlichen Segen, Ihn zu schauen, verbunden hat.
Wenn Gottes Gnade einen solchen Segen für Seine Heiligen und Geliebten bereit hat, so sollen wir in der Erlangung dieses Segens nicht lässig sein, aber nicht nur an uns allein sollen wir denken, ihn zu erlangen, sondern auch an alle die, mit denen Gott uns so eng verbunden hat. Wir stehen nicht für uns allein, sondern sind mit anderen gleich Gliedern eines Leibes verbunden und sollen deshalb auch in brüderlicher Sorge aufeinander achthaben, daß nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide und dadurch des Segens Gottes verlustig gehe.
Gottes Gnade ist für alle da. Niemand kann sich ihr entziehen, ohne Schaden für seine Seele und Segensverluste zu erleiden. Der Mangel an Gnade (oder wie übersetzt werden kann: versäumen, entziehen, unbenutzt lassen, abwenden von der Gnade) betrifft nicht den einzelnen allein, sondern er berührt die ganze Gemeinde, ebenso wie, wenn ein Glied leidet, der ganze Leib leidet. Wie wichtig ist es deshalb, achtzuhaben, daß sich nicht jemand von der Gnade Gottes abwende und eine Wurzel der Bitterkeit aufsprosse und viele durch diese beunruhigt und verunreinigt werden. O daß wir mehr Gottes Gnade kennten und in ihr gegründet seien! Nichts vermag uns so von uns selbst, von der Welt und dem Fleische zu lösen und mit dem Herrn zu verbinden wie die Erkenntnis der Gnade Gottes. Sie hält uns auch klein und demütig zu Seinen Füßen.
Der Anfang des Sich-Abwendens von der Gnade ist oft so gering, daß er kaum auffällt. Um den Mangel an der Gnade Gottes sehen zu können, bedürfen wir Augen, die nicht von dem Richtgeist und der Tadelsucht, sondern von dem Heiligen Geiste geschärft sind. Barnabas hatte solche Augen, die befähigt waren, Gottes Gnade sehen zu können. Er war ein Mann voll Heiligen Geistes und Glaubens. Als er nach Antiochien kam, sah er die Gnade Gottes (Apg 11,23.24). Freude darüber erfüllte seine Seele, und er fand das rechte Wort für jene Gläubigen in der Ermahnung: „Mit Herzensentschluß bei dem Herrn zu verharren.“ Wie sehr bedürfen wir solcher Augen, die sowohl die Gnade Gottes als auch den Mangel an der Gnade Gottes sehen, um dann mit den rechten Worten helfen, stärken und aufrichten zu können! O möchten solche Barnabasse nie in der Gemeinde fehlen!
Ehe wir aber fähig sind, in der rechten Weise darauf zu achten, „daß nicht jemand an der Gnade Gottes Mangel leide“, müssen wir gelernt haben, auf uns selbst zu achten. Paulus ermahnt deshalb Timotheus: „Habe acht auf dich selbst und auf die Lehre; beharre in diesen Dingen; denn wenn du dieses tust, so wirst du sowohl dich selbst erretten als auch die, welche dich hören.“ (1Tim 4,16) Wir können niemand weiter führen, als wie wir selbst sind. Unser Gewicht und unsere Kraft liegt nicht in dem, was wir reden, sondern in dem, was wir sind. Bevor Esra anderen ein Führer aus Babel sein konnte, hatte er sein eigenes Herz darauf gerichtet, das Gesetz Jehovas zu erforschen und zu tun (Esra 7,10). Unser Tun redet mehr als unser Wort. Petrus ermahnte die Ältesten, nicht nur die Herde Gottes zu hüten, sondern auch Vorbilder derselben zu sein (1Pet 5,2.3). Esra war ein Vorbild. Paulus war ein Vorbild; er konnte Timotheus schreiben, daß er nicht nur seine Lehre, sondern auch sein Betragen genau kenne, und deshalb hatte er auch ein Recht, es mit solchem Nachdruck Timotheus und Titus ans Herz zu legen, Vorbilder der Gläubigen in Wort und Wandel zu sein (1Tim 4,12; Tit 2,7). Er, der viel mehr gearbeitet hatte als alle
(1Kor 15,10), sah es als das Wichtigste für einen Diener Christi an, selbst durch die Wahrheit so gestaltet zu werden, daß sie in ihm geschaut werden könnte (2Kor 4,1.2). Welchen Wert hat es auch, die Wahrheit zu verkünden, wenn wir kein Beispiel derselben sind! Wie ernst liegt die Verantwortung auf uns, das zu sein, was wir sagen! Wie groß steht auch in diesem die Person des Herrn vor uns! Er war durchaus das, was Er redete (Joh 8,25). Nur so sind wir fähig, denen zu helfen, die an der Gnade Gottes Mangel leiden, und Schaden in der Gemeinde zu verhüten.
An der Gnade Gottes Mangel zu leiden oder von derselben zurückzubleiben ist mit ernsten Folgen verbunden. Entziehen wir uns der Gnade Gottes, so entziehen wir uns auch ihrer bewahrenden Kraft. Der Fürst dieser Welt gewinnt dann gar leicht Einfluß auf unser Herz, und wir verlieren das rechte Empfinden für die Sünde und die Dinge der Welt und ebenso auch die Wachsamkeit über uns selbst. Wir wissen alle, wie schnell wir von Natur dazu neigen. Segen geht dann nicht mehr von uns aus, ach nein, sondern statt des Segens Verderben. Ist die Gnade nicht mehr in uns wirksam, so werden andere bald von uns angesteckt sein, und eine Wurzel der Bitterkeit entspringt, durch welche dann die ganze Gemeinde befleckt, beunruhigt und verunreinigt wird.
Nun folgt in unserer Schriftstelle eine Warnung für solche, die sich der Gnade Gottes entziehen. Zuweilen hat der Feind diese Schriftstelle benutzt, schwache Gläubige zu erschrecken, die in Unachtsamkeit oder in schweren Umständen von dem Feinde zu Fall gebracht wurden und denen er einflüsterte, nun gleich Esau keinen Raum mehr für die Buße finden zu können. Esau aber war ein Gottloser und kein gefallener Gläubiger - ein Verächter der Gnade Gottes, und deshalb konnte er kernen Raum für die Buße finden. Solche gefallenen und verängstigten Kinder Gottes aber liegen in göttlicher Betrübnis und „in einer nie zu bereuenden Buße zum Heil“ vor dem Angesichte ihres Gottes (2Kor 7,10). Dies war aber nie bei Esau der Fall; er suchte den Segen zu erben, aber für Buße über seine Sünde fand er keinen Raum. Esau ist, wie schon erwähnt, nie das Bild eines gefallenen Gläubigen; die Schrift sagt, er war ein „Gottloser“. Und er blieb ein Gottloser. Und ein Gottloser ist nie das
Bild eines Gläubigen, und ein Gläubiger kann nie das Los des Gottlosen teilen - nie mit der Welt gerichtet werden (1Kor 11,32). Aber Gott gibt uns in Esau eine Warnung vor den Wegen der Gottlosen, ihre Pfade zu betreten. Und das tun wir, wenn wir an der Gnade Gottes Mangel leiden und uns ihr entziehen. Und diese Gefahr ist groß, und ein heiliges Erschrecken sollte unsere Seele erfassen, wenn wir uns auf den Wegen Esaus entdecken. Schon der Psalmist ruft aus: „Wohl dem, der nicht wandelt im Rate der Gottlosen, noch tritt auf den Weg der Sünder, noch sitzt, da die Spötter sitzen.“ (Ps 1,1) Und ebenso warnt uns Gott in Esau vor dem Weg und dem Selbstbetrug dieses Gottlosen, dem für eine Speise der himmlische Segen feil war - der beides haben wollte, den Genuß der Gegenwart und den Segen der Zukunft. Wir können nicht beides haben, wie Esau glaubte. Fangen wir an, den Weg der Gottlosen zu betreten, so werden wir den Verlust himmlischer Segnungen erleiden.
Doch laßt uns noch etwas näher auf Esaus Geschichte eingehen! Sie ist eine besondere Warnung für alle, die nur den irdischen und fleischlichen Genüssen der Gegenwart leben, denen aber die göttlichen und ewigen Dinge wertlos sind. Esau war der Erstgeborene, und damit war ihm eine besondere Gnade zuteil geworden. Die Dahingabe dieses hohen Segens für den Genuß eines Linsengerichten ist sprichwörtlich geworden bis auf den heutigen Tag. Wie leicht er diesen Segen aufgab, das sehen wir aus seinen Worten: „Ich gehe hin zu sterben, und wozu mir da das Erstgeburtsrecht.“ (1Mo 25,32) Leichthin, ohne Bedenken, nur für eine flüchtige Stunde, gab er den besten Segen: von Gott mit dem Tau des Himmels gesegnet zu werden, hin. Obwohl Esau so leichtfertig, ja, verächtlich, über den Erstgeburtssegen redete, dachte er doch in Wirklichkeit nicht daran, ihn zu verlieren, denn als die Stunde kam, den Segen zu empfangen, wollte er ihn erben, mußte dann aber die furchtbare Erfahrung machen, daß er ihn verloren hatte.
Diese Warnung gilt allen, die das Beste der gegenwärtigen und der zukünftigen Welt begehren - die den Segen der Gnade Gottes und auch die Freundschaft und den Genuß dieser Welt haben möchten. Solche haben sich dem Irrtum Bileams überliefert, der den Lohn und das Gold Balaks haben wollte, zugleich aber auch wünschte, daß seine Seele den Tod der Rechtschaffenen sterbe und sein Ende gleich dem ihrigen sei (4Mo 23,10). Und wie starb Bileam? Er kam um mit den Feinden des Volkes Gottes (Jos 13,22), und sein Ende war gleich denen, die in die Grube hinabfahren (Ps 28,1). Allen diesen, die nicht kalt und nicht warm sind, die denen gleichen, die in den Tagen Elias auf beiden Seiten hinkten, soll Esau eine Warnung sein, ganz gleich, ob sie Gläubige oder Ungläubige sind. Jeder soll lernen, daß der Genuß dieser Welt ihn himmlischen Segen kostet. Es gibt kaum eine Geschichte, die so furchtbar die Verantwortung zeigt, die alle diejenigen trifft, welche geringschätzend und leichtfertig den „Tau des Himmels - die himmlischen Segnungen Gottes - für nichtige Dinge dieser Welt hingeben. Wenn Kinder Gottes auf den Weg der Gottlosen treten und für die Gegenwart leben, so beweist dieses, daß sie den himmlischen Segen geringschätzen, und ihr Verlust ist schon hienieden groß. Wie ungleich größer ist aber der Verlust derer, die an der Gnade Gottes vorübergehen und so ihr Gnadenanrecht an dem Evangelium Gottes verwirken!
Isaak hatte für den Erstgeborenen einen Segen, in welchem nicht nur irdische Segnungen, sondern auch der „Tau des Himmels“ eingeschlossen war (1Mo 27,28). Und Gott hat für die aus Ihm Geborenen einen Segen, in welchem ein unverwelkliches Erbteil in den Himmeln eingeschlossen ist (1Pet 1,4). Für Esau hatte dieser Erstgeburtssegen keinen Wert, Jakob aber schätzte ihn so, daß er von Esau forderte, ihm die Sicherheit seines Erwerbes durch einen Schwur zu bestätigen. Diese Wertschätzung Jakobs des von Esau verachteten Erbes hätte Esau schon zum Nachdenken bringen sollen. Aber er beschwor Jakob den Verkauf seines Erstgeburtsrechtes. Was Gott in diesem Schwur sah, das sehen wir aus den Worten: „So verachtete Esau das Erstgeburtsrecht.“ Diese Tat seiner Verachtung kennzeichnete ihn als einen Verworfenen. Wie manche gute Eigenschaft wir auch in Esaus Leben finden mögen, während Jakobs Verhalten hier nicht gerade göttlich war, für Gott war jener ein Verächter Seiner Gnade - ein Ungöttlicher - ein Gottloser!
Und wie viele Verächter der Gnade Gottes gibt es heute! O möchte kein Leser dieser Zeilen den himmlischen Segen der
Gnade Gottes, der mit dem Aus-Gott-Geborensein verbunden ist, geringachten und für den flüchtigen Genuß der Gegenwart hingeben! Gott warnt jeden, in Esaus Fußtapfen zu treten. Wie furchtbar war sein Schrei an dem Tage, da er den Segen erben wollte und dann die schreckliche Entdeckung machte, daß derselbe für ihn verloren sei! Vergeblich rief er wiederum und mit Tränen: „Segne mich, auch mich, mein Vater!“ So schrecklich wird auch einst der Ruf der törichten Jungfrauen sein: „Herr, Herr, tue uns auf!“ Ja, wir wissen aus der Schrift, daß selbst in der Hölle noch Rufe nach Erbarmen werden gehört werden (Lk 16,24). Der reiche Mann bat darum, aber er fand keinerlei Erhörung. Und so vergeblich wie der Ruf Esaus um den himmlischen Segen an dem Sterbebett seines Vaters war, ebenso vergeblich wird der Ruf jener Törichten sein, wenn die Tür verschlossen sein und der Herr antworten wird: „Ich kenne euch nicht.“
Esau weinte nicht über seine Sünde, sein Erstgeburtsrecht verachtet und verkauft zu haben, sondern darüber, daß er es verloren hatte. Nicht die Buße suchte er mit Tränen, sondern den Segen. Aber seine Tränen konnten den Segensausspruch seines Vaters nicht ändern, der Segen blieb auf Jakob. Esau mußte sehen, daß sein Bruder den Segen erlangte, den er so leichtfertig verachtet hatte. Und so werden einst alle die Verächter die Gesegneten des Herrn schauen, und dann wird das Wort über sie wahr werden: „Sehet, ihr Verächter, und verwundert euch und verschwindet.“ (Apg 13,41) Esaus Herz hatte sich verhärtet, er fand keinen Raum für die Buße. Und es kommt ein Tag, wo das Gericht der Verhärtung über alle Verächter des Evangeliums hereinbrechen wird und sie ebenso wie Esau nicht mehr Raum für die Buße finden werden. Sie gehen verloren, „darum (sagt Gott), daß sie die Liebe zur Wahrheit nicht annahmen, damit sie errettet würden“. Und deshalb sendet ihnen Gott eine wirksame Kraft des Irrtums, daß sie der Lüge glauben, auf daß alle gerichtet werden, die der Wahrheit nicht geglaubt, sondern Wohlgefallen gefunden haben an der Ungerechtigkeit (2Thes 2,10-12). Dies ist das Gericht der Verstockung.
Alles dieses sind ernste Warnungen, an Gottes Gnade vorbeizugehen. Ja, Gott warnt, ehe Er richtet! Der Herr gebe, daß wir den Segen schätzen, den Gottes Gnade uns geben will!
A. v. d. K.