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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 22 - Jahrgang 1937
Ein „kleiner“ ApostelEin „kleiner“ Apostel
Wer das Seelenleben der jungen Menschen kennt, weiß, wie sehr sie nach großen Dingen streben. Vor allem die Vertreter des männlichen Geschlechts rechnen in der Zeit ihres Heranwachsens zum jungen Manne damit, nicht nur einmal Großes zu leisten, sondern sogar berühmt zu werden. Es ist gut, daß die meisten dieser Pläne mehr oder weniger scheitern, sonst gäbe es auf der Welt so viele große Männer, daß die „kleinen“ berühmt werden müßten, weil dann sie allein noch auffielen. Als Gläubige erkennen wir gar bald, daß es nicht auf die großen, nach außen hin auffallenden Leistungen ankommt, sondern auf das, was der Herr in uns wirken kann und was sich dann freilich auch in unserem Wandel und Zeugendienst auswirken wird.
Oft trägt ein kleiner Dienst größere Früchte als wir ahnen. Das sehen wir bei dem Apostel Andreas, der, nach menschlichem Maßstab gemessen, nicht zu den „großen“ Aposteln gehört. Von einem Paulus, Petrus oder Johannes ist uns vieles bekannt, und jeder Gläubige könnte immerhin manches Wichtige aus ihrem Leben berichten. Viele gerieten aber gewiß in Verlegenheit, wenn man sie nach der Wirksamkeit des Andreas fragen wollte. Und in der Tat, es wird uns auch verhältnismäßig wenig von ihm im Worte Gottes gesagt. Außer dem, daß sein Name mehreremal bei Aufzählungen der Jünger vorkommt, wird uns nur dreimal etwas von seinem Wirken berichtet. Ferner hat Andreas in diesen drei Fällen, wie wir noch sehen werden, nichts „Besonderes geleistet“; und doch hatten sie große Bedeutung für das Werk des Herrn und waren von überaus segensreicher Folge. Andreas hat jedesmal jemanden - wenn auch auf verschiedene Weise - zum Herrn geführt; und er zeigt uns damit vorbildlich, wie jeder Gläubige solche Dienste tun kann.
Im ersten Falle legte Andreas Zeugnis ab von dem, was er erlebt hatte (Joh 1,35-42). Der Herr war ihm in den Lebensweg getreten. Von Johannes dem Täufer hatte er das Zeugnis „Siehe, das Lamm Gottes“ gehört; durch ein eintägiges Beisammensein mit Jesus hatte er Ihn als seinen Herrn erkannt, dem er fortan nachfolgen wollte; und jetzt findet er seinen eigenen Bruder Simon und verkündet ihm als erstem in schlichter Weise: „Wir haben den Messias gefunden!“ Nur wenige Worte waren es, die Andreas sprach, und doch waren sie der Anlaß dazu, daß auch sein Bruder in die Nachfolge des Herrn trat und später der „große“ Petrus, der gesegnete Menschenfischer wurde. Durch den Dienst des „kleinen“ Andreas ist so der „große“ Apostel für den Herrn und Sein Werk gewonnen worden.
Und was Andreas hier getan hat, erwartet der Herr auch von uns, die wir Sein Eigen sind. Nur wenige werden von Ihm beauftragt und durch Seine Gnade entsprechend begabt worden sein, Sein Evangelium in der Öffentlichkeit und in großen Versammlungen zu verkündigen. Aber wir können und sollen den einzelnen, mit denen wir zusammen leben, wohnen und arbeiten oder denen wir sonst irgendwie begegnen, den Herrn als unseren Heiland bezeugen. Dazu bedarf es nicht redegewandter Worte, sondern eines Herzens, das überfließt vor Freude über das Heil, das uns widerfahren ist. Einem kurzen, schlichten Zeugnis, das seine Bestätigung in dem Strahlen unserer Augen findet und in dem Frieden, der auf unserem Antlitz ruht, kann sich so schnell niemand verschließen. Es wird eher andere veranlassen, denselben Heiland zu suchen, als ein langer, stürmischer und unnatürlicher Redeschwall. Wir wollen den Herrn darum bitten, daß Er unser ganzes Herz erfülle und uns alles werde! Und dann wollen wir hingehen und anderen erzählen, was Er an unserer Seele getan hat (Ps 66,16). Vielleicht schenkt es der Herr, daß durch unseren einfachen Zeugendienst sogar ein „Großer“ für das Reich Gottes gewonnen wird, wie es durch das Zeugnis des Andreas der Fall war.
Der zweite im Worte Gottes berichtete Dienst des Andreas entbehrte, zunächst gesehen, so ganz jeder Besonderheit und war doch von so großer Auswirkung. In der Wüste war es, wohin die nach Tausenden zählende Volksmenge dem Herrn gefolgt war (Joh 6,1-15). Als beim Anbruch des Abends keine Speise für das Volk vorhanden war, führte Andreas einen kleinen Knaben, der nur fünf Brote und zwei Fische hatte, zum Herrn. Es ist gleichsam, als schäme er sich dessen, daß er auf einen so geringen Vorrat hinweist; zögernd sagt er: „Aber was ist das unter so viele?“ Vielleicht will er sich mit diesen Worten entschuldigen, daß er dem Herrn nicht mehr zum Verteilen anbieten kann und daß er überhaupt von so wenigem redet. Und doch traut er dem Herrn - wenn wohl auch mit bangem Kleinglauben - zu, daß Er etwas damit anzufangen wisse; sonst hätte Er ja nicht davon gesprochen. Und siehe, der Herr achtet des Geringen, das Ihm der kleine Knabe auf Veranlassung des Andreas bringt; und unter Seinen Segenshänden verwandelt sich das menschliche „Nur“ in göttliches Genüge, ja sogar in Überfluß. Alle werden gesättigt, und außerdem bleiben noch zwölf Handkörbe voll Brocken übrig.
So unscheinbar der Dienst des Andreas hier war, so hat er doch die Veranlassung dazu gegeben, daß der Herr dies große Wunder getan hat. Wohl hätte Er noch nicht einmal dieser geringen Speisemenge bedurft, um den Hunger des Volkes zu stillen; aber in Seiner Huld knüpft Er an das Wenige an, das Menschenhände Ihm bieten, und benutzt es, um Sich dadurch mächtig zu erweisen. Auch heute noch möchte Er auf solche Weise segnen. Er wartet auf die Andreas-Seelen, die Ihm die Kleinen und Schwachen, die Armen und Bekümmerten, die Verachteten und Verstoßenen bringen, damit Er Sich an ihnen verherrliche und ihre Not in Segen verwandle. Wo sind die Seinen, die auf das achten und eingehen, was Er uns hier durch Andreas zeigen will? Ob Er dich, du junges Kind Gottes, das du diese Zeilen liest, nicht dazu willig und fähig machen kann? Dann wäre dein Leben wahrlich gesegnet!
Er wartet aber auch darauf, daß wir Ihm unsere eigenen schwachen Kräfte, unsere kleinen Gaben und geringen Fähigkeiten bringen, auf daß Er uns irgendwie, vielleicht nur im stillen und verborgenen, für Sein Werk gebrauche. Ein Gotteskind, das nur weniges kann und hat, sich aber restlos dem Herrn zur Verfügung stellt, dient mehr zu Seiner Verherrlichung als der Gläubige, der große Begabung und viele Kenntnisse besitzt, Ihm aber nicht mit ungeteiltem Herzen gehört.
Kommen wir nun noch zum dritten Dienst des Andreas, dann sehen wir, daß er noch unauffälliger als die beiden ersten war. Griechen, die zum Passahfeste nach Jerusalem gekommen waren, hatten sich mit der Bitte an Philippus gewandt: „Herr, wir möchten Jesum sehen!“ (Joh 12,20-33) Aber offenbar hat Philippus nicht den Mut, dem Herrn dies Anliegen zu sagen. Vielleicht befürchtet er, der Herr könnte die Griechen abweisen, wie Er es bei jener Griechin, die mit der Bitte um Heilung ihrer Tochter zu Ihm gekommen war, zunächst getan hatte (Mk 7,24-30); oder er hat Bedenken, der Haß der Juden würde noch größer werden, wenn sie Ihn im Gespräch mit den Griechen sähen. So wendet er sich in seiner Verlegenheit und Not an Andreas, um dessen Rat zu hören. Und dieser - wie wir aus dem Bericht des Wortes Gottes erkennen können - läßt alle Bedenken fahren und ermuntert seinen Mitjünger dazu, daß sie gemeinsam zum Herrn gehen und Ihm den Wunsch der Griechen mitteilen. Auf diese Weise vermittelt Andreas gleichsam die Gelegenheit, daß der Herr den Zweck und die Bedeutung Seines bevorstehenden Todes klarmacht, indem Er von Sich als dem Weizenkorn spricht, das erst in der Erde sterben muß, ehe es Frucht zu bringen vermag.
Was Philippus sich nicht allein getraute, wagte er mit Hilfe und Unterstützung des Andreas zu tun. Andreas hat ihm und damit auch den Griechen einen Dienst erwiesen, wie es deren auch so viele für uns zu tun gibt. Wie mancher Gläubige wagt nicht mehr, für einen Angehörigen zu beten, weil dieser trotz jahrelanger Fürbitte immer noch voller Feindschaft gegen das Evangelium ist! Oder ein anderer will es verzweifelt aufgeben, einem Nahestehenden vom Herrn und Seiner Erlösung zu zeugen, weil ihm immer wieder schroffe Ablehnung von seiten des Betreffenden zuteil wird. Oder aber, ein Gotteskind ist so tief gefallen und so sehr in die Sünde verstrickt, daß man alle Hoffnung auf seine Wiederherstellung verlieren möchte. Und wir könnten so noch viele Beispiele dieser Art nennen. Wollen wir in solchen Fällen nicht unseren Bruder oder unsere Schwester ermunternd an die Hand nehmen und es mit ihnen gemeinsam dem Herrn hinlegen? Gerade dann, wenn wir so für die Zurechtbringung eines Menschen beten, haben wir die Verheißung für uns: „Wenn zwei von euch auf der Erde übereinkommen werden über irgendeine Sache, um welche sie auch bitten mögen, so wird sie ihnen werden von Meinem Vater, der in den Himmeln ist. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in Meinem Namen, da bin Ich in ihrer Mitte.“ (Mt 18,19.20) Laßt uns auch in diesem Sinne einem Andreas gleichen, und wir dürfen, gemeinsam mit anderen, noch viele Seelen durch unsere Gebete zum Herrn führen!
Wenn uns Gottes Wort durch diese drei angeführten und betrachteten Schriftstellen die einfältige und liebliche Art des Andreasdienstes zeigt, dann will es damit gewiß nicht sagen, Andreas hätte nicht noch mehr für den Herrn und Sein Werk getan. Wir dürfen sogar annehmen, daß er noch viel mehr gewirkt und später auch recht oft vor vielen Menschen das Evangelium verkündigt hat. Wenn uns nur diese drei Fälle berichtet werden, dann sollen wir gewiß daraus erkennen, wie jedes Gotteskind auf schlichte Weise zu dienen imstande ist. Unser geliebter Herr wird auch durch den einfachsten Dienst verherrlicht und geehrt, wenn er in der Gesinnung eines Andreas getan wird.
H. Metzger