verschiedene Autoren
Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 23 - Jahrgang 1938
Die Gemeinde der HeiligenDie Gemeinde der Heiligen
Von Professor D. Dr. Karl Heim
Die Gemeinde ist die Art und Weise, wie der vollendete Christus kraft Seines Versöhnungswerkes in der unvollendeten Welt gegenwärtig ist. Was ergibt sich daraus? Wir wollen nur die wichtigsten Tatsachen herausheben.16
1. Es gibt nur eine Gemeinde Christi in der Welt. Denn Christus ist ja nur einer. „Hier ist weder Jude noch Grieche, weder Knecht noch Freier, sondern sie sind allzumal einer in Christus.“ „Ist Christus zerteilt?“ fragt Paulus die Korinther. Nein, eine Person kann nicht zerteilt werden. Das ist einfach unmöglich. Es gehört zum Wesen eines Leibes, daß er die Einheit ist, in der eine überwältigende Fülle von ganz verschiedenartigen Elementen zusammengefaßt ist. Wenn man in die Geschichte der Kirche hineintaucht, so staunt man immer aufs neue über die Mannigfaltigkeit der Glieder des Leibes Christi. Da sind Arbeiter der Stirn und der Faust, da sind rauhe Krieger, wie die „Eisenseiten“ Cromwells, die Psalmen singend in die Schlachten zogen, und friedsame Heilige wie Franz von Assisi. Da sind Künstler wie Michelangelo, Denker wie der Mathematiker Pascal und wieder Männer der politischen Tat wie Bismarck, der vor den schwersten Entscheidungen das Losungsbüchlein der Brüdergemeine las. Der Leib Christi besteht darin, daß diese ganze Fülle von mannigfaltigen Gliedern von einem einzigen Willen regiert wird. Dem entspricht die Einheit der Empfindung. „Wo ein Glied leidet, da leiden alle Glieder mit. Wo ein Glied herrlich gemacht wird, da freuen sich alle Glieder mit.“ Der Leib hat auch eine einheitliche Kraft und Nahrungsquelle, alle Glieder des Leibes Christi leben täglich von Christus Selbst. Also kann es nur eine Kirche Christi auf Erden geben. Es kann nur einen Leib Christi geben, weil es nur einen Christus gibt. Wir erleben auch diese Bruderschaft ganz überwältigend, wenn wir irgendwo in der Welt mit einem Menschen aus irgendeinem anderen Volk zusammenkommen, der Frieden in Christus gefunden hat, welcher Landeskirche oder Freikirche er auch angehören mag. In den Mordkellern in Riga, in denen Christen während der Bolschewistenverfolgungen auf ihre Erschießung durch die Maschinengewehre ihrer Feinde warteten, waren gläubige Menschen der verschiedensten Kirchengemeinschaften vereinigt. Neben Protestanten verschiedener Denominationen gab es auch griechisch-kathotische Christen. Aber schon vom ersten Tage an waren alle diese Schranken gefallen. In den Gefängniszellen wurde gemeinsam gebetet und gesungen. Nie gab es eine so lebendige Gemeinde wie in diesen Gefängnissen bei eisiger Kälte und Ungeziefer. Das ist die wunderbare Allianz der Gemeinde Christi in aller Welt, die einfach da ist, wo der lebendige Christus erfahren wird, die man also nicht erst durch irgendeine Organisation herbeiführen muß.
2. Worauf beruht die Einheit des Leibes Christi? Um die Antwort auf diese Frage zu finden, müssen wir von der Grundtatsache ausgehen: Die Gemeinde ist die Art, wie der vollendete Herr auf Grund Seines Versöhnungswerkes in dieser unvollendeten Welt gegenwärtig ist. Die Machttat der Weltverwandlung ist noch nicht geschehen. Die Machtfrage ist noch nicht gelöst. Aber das Versöhnungsopfer auf Golgatha ist gebracht. Wenn unter diesen Umständen zwei Menschen, du und ich, uns als Glieder der Gemeinde Christi zusammenfinden, so beruht das zunächst einzig und allein darauf, daß wir beide durch das vollbrachte Versöhnungswerk Christi Frieden gefunden haben. Jeder von uns beiden weiß: Ich wäre ewig verlorengegangen, das Gewicht meiner Schuld, meiner Lügen, meiner Versäumnisse an Liebe zu anderen, meiner Fleischessünden hätten mich unweigerlich in die Tiefe gerissen und in den Abgrund der ewigen Verdammnis hinuntergezogen. Aber mir ist Erbarmung widerfahren. Ich kann mir also nie mehr in meinem Leben irgend etwas auf meine eigene Leistung einbilden. Ich lebe nur von Erbarmen. Ein Mensch, der am Ertrinken war, aber im letzten Augenblick von einem anderen gerettet worden ist, der weiß für sein ganzes Leben, daß er sein Dasein nur diesem anderen verdankt. In dieser Lage sind wir alle, die zur Blutgemeinde Jesu gehören. Wenn zwei Menschen das erfahren haben, dann sind sie Brüder. Das versöhnte Gewissen, das ihnen durch Christi Tod geschenkt ist, ist das einzige Band, das Menschen wirklich im Innersten miteinander verbindet. Es ist das einzige in dieser Welt, was schon vollendet ist und der neuen Schöpfung angehört. Alles andere ist noch unvollendet und ungelöst. Ungelöst ist die Frage der Macht und des Einflusses auf diese Welt. Ungelöst sind die Fragen der Erkenntnis. Ungelöst sind auch viele Fragen unseres praktischen Handelns innerhalb der jetzigen Welt. Wir dürfen nie vergessen: Wir leben nach Gottes Plan in der Zeit der Ohnmacht der Gemeinde, die notwendig ist, daß Seelen gerettet werden können. Diese Ohnmacht muß sich auch darin auswirken, daß von unserer Erkenntnis gilt: „Unser Wissen ist Stückwerk. Wir sehen nur durch einen Spiegel in einem Rätselwort.“
Wenn Menschen sich nicht einigen können, so gehen sie in Gruppen auseinander. Und so ist eine Fülle von verschiedenen Kirchen, Staatskirchen, Freikirchen und Gemeinschaften entstanden. Diese bunte Fülle von Kirchengemeinschaften ist ein einziger demütigender Ausdruck für die Ohnmacht der Gemeinde Jesu Christi in der Zeit zwischen der Kreuzestatsache und der Weltvollendung. Wir stehen infolge dieser Uneinigkeit vor der Welt erbärmlich da. Und doch ist jeder Versuch, diese Spaltungen zu überwinden, um einen stärkeren Eindruck auf die Welt zu machen, eine Vergewaltigung der Gewissen. Man denke an den imposanten Einigungsversuch der katholischen Weltkirche. Die Spaltungen sind schmerzlich und niederschlagend. Aber sie dürfen uns nicht einen Augenblick irremachen an der Gewißheit, daß der Leib Christi eine Einheit ist. Die Bruderschaft aller Menschen, die den Frieden gefunden haben durch das Blut Christi, wird nicht dadurch erschüttert, daß diese Menschen in schwerwiegenden Fragen der Erkenntnis, des praktischen Lebens und der Kirchen-Verfassung auseinandergehen. Paulus steht Römer 14-15 einer tiefgehenden Meinungsverschiedenheit in der Gemeinde gegenüber. Diese ist in der Gemeinde über die Frage entstanden, ob man den Sabbat und die jüdischen Fasttage noch halten, oder ob man sich in christlicher Freiheit über diese alten Sitten hinwegsetzen soll. Es gab eine enge und eine freie Richtung. Paulus selber geht persönlich mit der freigerichteten Gruppe. Wir würden nun erwarten, der Apostel würde seine ganze Autorität in die Waagschale werfen, um die engherzige gesetzliche Richtung auszurotten, weil die Leute dieser Gruppe die Gemeinschaft stören und unkameradschaftlich handeln. Denn man stelle sich vor, wie stark das brüderliche Zusammenleben durch solche Leute gestört werden mußte bei den gemeinsamen Mahlzeiten, zu denen die Urgemeinde regelmäßig zusammenkam. Wir würden es verstehen, wenn Paulus dafür eingetreten wäre, diese engherzigen Brüder auszuschließen. Aber Paulus tut etwas ganz anderes. Er sagt: „Einer hält einen Tag vor dem anderen; der andere aber hält alle Tage gleich ... Welcher auf die Tage hält, der tut es dem HErrn; und welcher nichts darauf hält, der tut es auch dem Herrn. Welcher isset, der isset dem Herrn, denn er dankt Gott. Welcher nicht isset, der isset dem Herrn nicht und dankt Gott ... Denn dazu ist Christus gestorben und auferstanden und wieder lebendig geworden, daß er über Tote und Lebendige Herr sei.“ Wir sehen an diesen einfachen Beispielen: Die Einheit des Leibes Christi ruht nicht darauf, daß wir über alle Fragen der Erkenntnis und des Zusammenlebens wirklich einer Meinung sind. Die Einheit besteht einzig und allein darin, daß wir das Eigentum Dessen sind, der für uns gestorben und auferstanden ist, daß Er über Tote und Lebendige der Herr sei.
Es ist eine schwere Gefahr, wenn heute Menschen Trennungsstriche ziehen wollen, wo die Apostel sie nicht gezogen haben. Die Gemeinde Christi hat eine sehr klar bestimmte Grenze. Es ist ein unendlicher Unterschied zwischen Menschen, die Frieden gefunden haben durch das Blut des Lammes und Eigentum des Gekreuzigten geworden sind, und den anderen, die noch friedlos, ungeborgen und heimatlos durch die Welt gehen und sich selbst erlösen wollen. Aber nun ist es gefährlich, wenn man diese Grenze, die die Gemeinde Christi von der Welt scheidet, an eine ganz andere Stelle verlegt, wenn man bestimmte Lehrmeinungen und Lebensregeln zur trennenden Schranke macht und das Tafeltuch Brüdern gegenüber zerschneidet, die eine andere Lehrform oder eine andere Anschauung über die Kirchenverfassung haben. Diese unbiblischen Trennungsstriche werden meistens von Menschen gezogen, die noch nicht den Grund gefunden haben, der unsern Anker ewig hält. Sie wollen gewaltsam und schwärmerisch das vorausnehmen, was nach Gottes Plan erst am Ende kommen soll, die Geschlossenheit und Macht der Gemeinde über die Welt und das Schauen dessen, was wir jetzt nur stückweise erkennen können. Wir müssen ein volles Ja sagen zur Ohnmacht der Gemeinde im jetzigen Zwischenzustand. Sonst wird uns alles, was wir heute erleben, zur schweren Glaubensanfechtung.
3. Wir haben von der Schwachheit der Gemeinde in der jetzigen Weltzeit gesprochen. Aber mitten in dieser Ohnmacht hat die Gemeinde Christi eine göttliche Vollmacht durch ihren vollendeten Herrn. Das ist nicht eine Vollmacht im Sinne der Weltmacht, nichts, was der Welt Eindruck machen könnte. Die Vollmacht der Gemeinde bezieht sich nur auf Dinge, die die Welt nicht versteht und die der Welt auch nicht Achtung abnötigen können. Sie liegt darin, daß der unsichtbare vollendete Herr kraft Seiner Versöhnungstat in der Gemeinde handelt. Wir sollen nur die wichtigsten Dinge in der Gemeinde herausheben, die zu dieser Vollmacht der Gemeinde gehören. a) Die Gemeinde Christi hat die Kraft, im Namen ihres Herrn Sünden zu vergeben. Matthäus 18 gibt Jesus nicht bloß, wie es Matthäus 16 verstanden werden kann, Petrus und seinen Nachfolgern, sondern der ganzen Gemeinde die Vollmacht, zu binden und zu lösen. „Wahrlich, Ich sage euch, was ihr auf Erden bindet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel los sein.“ Binden heißt hier: das Gewissen an eine Schuld binden, lösen heißt: das Gewissen entlasten und von der Schuld befreien. Kein Mensch kann das von sich aus bei einem anderen Menschen tun. Denn kein Mensch hat sein eigenes Gewissen in seiner Gewalt und kann über das Gewissen anderer Menschen verfügen. „Kann doch einen Bruder niemand erlösen noch ihn Gott versöhnen. Denn es kostet zuviel, ihre Seele zu erlösen, man muß es anstehen lassen ewiglich.“ (Ps 49,8f). Aber das ist das Größte, was in der Gemeinde aus der Vollmacht Christi heraus immer wieder geschieht, daß ein belasteter Mensch unter den Worten eines Bruders nach einer gründlichen Aussprache tatsächlich Frieden findet, und zwar so, daß es ihm gewiß wird: Die Schuld ist nicht bloß auf Erden gelöst, sie ist auch im Himmel los. Sie wird ihm auch in der Todesstunde keine Not mehr bereiten. b) Die zweite Vollmacht, die die Gemeinde hat, weil der vollendete Herr in ihr gegenwärtig ist, ist die Geistesleitung, die der Herr in den Abschiedsreden Seiner Jüngergemeinde ganz bestimmt verheißen hat, wenn Er sagt: „Der Geist wird euch in alle Wahrheit leiten.“ Die Gemeinde soll nicht genötigt sein, sich bei der Auseinandersetzung mit der Welt selbst zu führen und selbst zu verteidigen. Der Geist Christi wird sie in allen Jahrhunderten und in allen Lagen, in die sie hineinkommt, führen. Das bedeutet nicht, daß wir, wenn wir das Eigentum des Gekreuzigten geworden sind, eine unbedingte Sicherheit für unsere ganze Lebensführung erhalten hätten, daß also keine Entgleisung mehr vorkommen könnte. Es gehört zur Ohnmacht der Gemeinde, daß auch Gläubige fehlgehen können in ihren Entscheidungen, weil ihr Wissen noch Stückwerk ist. Dennoch ist der Herr als unsichtbarer Führer Seiner Gemeinde immer gegenwärtig. Es ist gleichsam eine Sendestation da, die ununterbrochen Wellen aussendet. Aber der Empfangsapparat, der die Wellen aufnimmt, ist noch unvollkommen, und es können Störungen in der Luft liegen, die es erschweren, die Nachrichten richtig zu hören und aufzunehmen. Aber wir können alle täglich darin weiterkommen, zu hören, was uns der Geist sagt, und die Wahrheit des Prophetenwortes zu erfahren: „Er weckt mich alle Morgen; Er weckt mir das Ohr, daß ich höre wie ein Jünger.“ (Jes 50). c) Die dritte Vollmacht der Gemeinde ist die Gebetsvollmacht. „Was ihr bitten werdet in Meinem Namen“, sagt Jesus, „das wird Er euch geben.“ Das bedeutet nicht, daß es z. B. keine Krankheiten mehr in der Gemeinde geben könnte, die nicht durch Gebet geheilt würden. Es gehört zur Ohnmacht der Gemeinde, daß wir in allen Nöten dieser Erde bleiben müssen. Die Gebetsheilungen sind nicht die Regel, aber sie sind da als eine Gabe, die Gott Seiner Gemeinde gegeben hat. Sie sind eine Erstlingsgabe der neuen Welt, in der alles Leid dieser Erde überwunden sein wird.
Wir haben einen Blick getan in die Ohnmacht des Leibes Christ und in ihre herrliche Vollmacht, die sie durch ihren vollendeten Herrn hat, der in dieser Todeswelt gegenwärtig ist und uns sündige Menschen gebraucht, um Seine Ziele durchzuführen. Wir leben in der Spannung zwischen Ohnmacht und Vollmacht der Gemeinde. Aber wir tragen die Gewißheit in uns, daß diese Spannung gelöst werden wird, wenn auf die Versöhnungstat am Kreuz die Machttat der Weltvollendung folgt. Je tiefer wir jetzt leiden unter der Schwäche und Zersplitterung der Gottesgemeinde, um so großer wird die Herrlichkeit sein, wenn die Verheißung sich erfüllt: „Und Er wird bei ihnen wohnen, und sie werden Sein Volk sein, und Er Selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen; und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Off 21,3f). Im Blick auf diese Vollendung der Gemeinde können wir die Zeit der Ohnmacht freudig ertragen. „Du gingst, o Jesu, unser Haupt,
Durch Leiden himmelan
Und führest jeden, der da glaubt,
Mit Dir die gleiche Bahn.
Wohlan, so führ uns allzugleich
Zum Teil am Leiden und am Reich!
Führ uns durch Deines Todes Tor
Samt Deiner Sach' zum Licht empor -
Durch Deines Todes Tor!“
16 Aus einem Vortrag von Prof. Heim, im Jahre 1936 auf der Blankenburger Jubiläumskonferenz gehalten. Der Vortrag ist seinerzeit im „Evangelischen Allianzblatt“ unverkürzt veröffentlicht worden.↩︎