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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 22 - Jahrgang 1937
Der Sinn des Alten TestamentsDer Sinn des Alten Testaments
Christus ist durch das Alte Testament im Kommen begriffen. Das Evangelium ist im Alten Bunde am Werden. „Das Alte Testament ist Morgendämmerung und Morgenrot. Das Morgenrot gehört zur Sonne. So gehört das Alte Testament zu Jesus Christus“ (Professor Emil Brunner).
Deutlich zerfällt die alttestamentliche Vorgeschichte in zwei Hauptabschnitte:
Die Uroffenbarung von Adam bis Abraham, ungefähr 2400 Jahre, wo Sich Gott in der ganzen Menschheit, und zwar vornehmlich als Herrscher und Weltregierer, bezeugt (1Mo 1-11), und die vorbereitende Heilsoffenbarung von Abraham ab, ungefähr 1900 Jahre, wo Er Sich zunächst in einem kleineren Kreise und vor allem als zu erwartender Erlöser und Heiland bezeugt.
Unverkennbar zerlegt sich die vorbereitende Heilsoffenbarung wiederum in zwei Unterteile: den Abrahamsbund und den Bund des Gesetzes.
Der Abrahamsbund ist die Grundlage von allem Folgenden. Abraham ist der „Vater aller Gläubigen“ (Röm.
4,11.12). Der Segen, der hinfort allen Glaubenden zuteil werden soll, ist durchaus „Segen Abrahams“ (Gal 3,14; vgl. V.9), der in Christo Jesu zu allen Menschen gelangt.
Im Abrahamsbund sind schon alle Hauptgrundsätze der neutestamentlichen Gnadenoffenbarung dem Keime nach enthalten: die Bedingungslosigkeit der Erlösung in freier Rechtfertigung und Verherrlichung (1Mo 15,6; Röm 4,9-16), das Fundament der Erlösung als Auferweckungsmacht Gottes (Röm 4,17-25; Heb 11,19), der Mittler der Erlösung als erwarteter Same (Gal 3,16; Joh 8,56-58), das Ziel der Erlösung als ersehnte himmlische Stadt (Heb 11,9.10). So wird klar, daß das Evangelium des Gemeindezeitalters durchaus Fortsetzung und Verklärung des Abrahamsbundes ist, daß also der „Neue“ Bund seinem Wesen nach älter ist als der mit Mose (Heb 8,8.9) beginnende „Alte“ Bund.
Aber warum kam dann Christus nicht schon zur Abrahamszeit (um 1900)? Sagt uns das Neue Testament nicht klar, daß es bei der Erlösung, was die Menschenseite betrifft, allein auf den Glauben ankommt? (Röm 3,28) Und war nach der Schrift dieser Glaube nicht in Abraham schon da, und zwar sogar schon in sehr entwickeltem Maße? Ist da eine Gesetzesperiode von 1500 Jahren nicht überflüssig, ja unnötig aufhaltend und geradezu ein Rückschritt?
Und doch gab Gott das Gesetz so majestätisch mit Donnern und Blitzen, unter Bergbeben und Posaunenhall! (2Mo 19,16-18; Heb 12,18) Und dennoch ließ er die im Schatten des Todes dahinschmachtende Menschheit noch anderthalb Jahrtausende auf das Kommen des Erlösers warten! (Jes 9,1.2) Hierfür muß es gewichtige Gründe geben. Welche aber sind diese?
Die Antwort der Schrift ist, daß der Hauptsinn des Gesetzes in der Ausgestaltung der Erlösererwartung durch Offenbarmachung der menschlichen Sündhaftigkeit bestehe und daß dadurch das Gesetz ein „Zuchtmeister auf Christum“ sei, und zwar auf Ihn als den Heiland der Sünder (Röm 3,20; 7,7; Gal 3,19.24). Nicht etwa „beiseitegesetzt“, sondern ergänzt hat es ihn und ist neben ihn gestellt. Es wurde „hinzugefügt“. (Gal 3,19; Röm 5,20)
Dennoch war diese Hinzufügung nötig. Denn bei aller Erhabenheit und Tiefe des Abrahamsbundes fehlte ihm doch die genügende Betonung der Sünde. In dieser noch gar zu geringen Entfaltung der menschlichen Verlorenheit und Unfähigkeit zur Selbsterlösung lag seine Hauptunvollständigkeit; und doch war gerade ihre Erkenntnis die wichtigste Voraussetzung für das Erleben von Golgatha! Darum mußte er ergänzt werden, und das geschah durch das Gesetz. „Durch Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.“ (Röm 3,20) Darum ist Heiligkeit des Herrn sein eigentlicher Grundgedanke. Es ist die Heiligkeitsoffenbarung Gottes an den unheiligen Sünder. Es ist die auf der Schaubühne der Weltgeschichte als Musterbeispiel gegebene, für Israel eingesetzte Kundgebung des göttlichen Willens für das moralische Verhalten der Menschen12. Durch das Gesetz wird die Sünde als „Zielverfehlung“ und Übertretung (Röm 4,15), als Ungehorsam und Rebellion offenbar gemacht. Wohl gab es schon vor Mose immer wieder von Fall zu Fall „Gebot“ und „Übertretung“ (Röm 5,14.18; 1Tim 2,14); aber erst seit Mose gab es eine ununterbrochen fortlaufende, Jahrhunderte hindurch wirkende, systematische Erziehungsinstitution für Sündenerkenntnis in Wort und Symbol. (2Mo 20; Heb 10,3; 9,7)
Fortan zerfällt die ganze vorchristliche Heilsoffenbarung in zwei
Hauptabschnitte; den Verheißungsbund und den Bund des Gesetzes. In jenem
steht das Positive, in diesem das Negative im Vordergrund. Bei Abraham
ist es der Segen (Gal 3,9.14), bei Mose der Fluch (Gal 3,13), bei
Abraham das Leben (Röm 4,17-25; Heb 11,19), bei Mose der Tod (2Kor 3,6; Röm 7,9.10). Der Mosesbund gipfelt in der Kreuzigung (
Aber sie beide gehören zusammen. Denn der Sünder soll erlöst werden, und dazu ist Erneuerung und Wiedergeburt nötig.
Wiedergeburt aber hat menschliche Bekehrung zur Voraussetzung, und Bekehrung ist zweierlei: Abkehr und Hinkehr, ein „Nein“ zu sich selbst und ein „Ja“ zu Gott, oder, neutestamentlich ausgedrückt, Buße und Glauben. Erst hier aber offenbart sich uns der eigentliche Sinn der alttestamentlichen Vorgeschichte:
Jahrhunderte hindurch spricht Gott das Wort „Glaube“ in die Heilsgeschichte hinein - das ist der Sinn des Abrahamsbundes. Er ist eine zwei Jahrhunderte lang währende Erziehung zum Glauben.
Und
Jahrhunderte hindurch spricht Gott das Wort „Buße“ in die Heilsgeschichte hinein - das ist der Sinn des mosaischen Gesetzes. Es ist eine anderthalb Jahrtausende lang währende Erziehung zur Buße. „Tut Buße“ und „Glaubet an das Evangelium“, sagt Christus (Mk 1,15) und umschließt somit alle beide zu erlösender Einheit. Das ist der neutestamentliche Sinn des Alten Testaments.
Zu diesen beiden Hauptsäulen der alttestamentlichen Gottesoffenbarung - dem Abrahamsbund und dem Gesetz - tritt aber als drittes noch die Messiasprophetie hinzu. Zielbewußt voranschreitend im Lauf der Jahrhunderte, schildert sie in immer enger werdenden, konzentrischen Lichtkreisen, einer sich nach oben hin verjüngenden Pyramide gleich, das Kommen des Welterlösers. Der Heiland der Welt stammt: aus der Menschheit, ist „Weibessame“ (1Mo 3,15), so heißt es zur Zeit Adams und Evas (um 4300); aus Sems Geschlecht (1Mo 9,20), so prophezeit Noah (um 2300); aus Abrahams Samen (1Mo 12,1-3), so sagt ihm Gott Selbst (um 1900); von allen Nationen, die von Abraham stammen, aus Israel - so beweisen es die Bundesübertragungen an Isaak und Jakob (um 1850), vgl. 1Mo 26,3.4; 28,13.14; von allen Israeliten aus dem Königsstamm Juda (1Mo 49,10), so heißt es um 1800; von allen Vaterhäusern Judas aus Isais Geschlecht und insonderheit aus Davids Nachkommenschaft (1Chr 17,3-14; 2Sam 7,4-16), so besagt es die Sendung des Propheten Nathan an David (um das Jahr 1000).
So ist die Prophetie in stufenweisem Aufgang des Lichts vom Allgemeinen zum Besonderen vorangeschritten, vom Amt zum Amtsträger, vom Sachlichen zum Persönlichen, gleichsam von „Christus“ zu „Jesus“. Das Alte Testament ist ein „Ziehen des Vaters zum Sohne“ gewesen (vgl. Joh 6,44), gleichwie das Neue Testament ein „Ziehen des Sohnes zum Vater hin“ ist (1Kor 15,28). Das Alte Testament gleicht einem gestirnten Nachthimmel, das Neue einem sonnenhellen Tage. „Die Propheten sind die Sterne und der Mond; aber Christus ist die Sonne.“ (Luther). Von Ihm „zeugen alle Propheten, daß durch Seinen Namen alle, die an Ihn glauben, Vergebung der Sünden empfangen sollen“ (Apg 10,43). Christus ist das Thema des Alten Testaments. So hat Er es Selber gesagt (Joh 5,39; Lk 24,25-27.46). So bezeugt es Sein größter Apostel (1Kor 15,3.4; Apg 26,22.23). Erst von dem König der Schrift aus kann das Zeugnis Seiner vorausgesandten Herolde verstanden werden. Erst von dem Neuen Testament aus löst sich die Frage nach dem Alten Testament.
Erich Sauer.
12 Abgesehen von gewissen Zugeständnissen Gottes „um der Herzenshärtigkeit der Menschen willen“. (Mt 19,8)↩︎