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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 13 - Jahrgang 1928
Mt 5,23.24 - „Laß deine Gabe vor dem Altar ...“Mt 5,23.24 - „Laß deine Gabe vor dem Altar ...“
„Wenn du nun deine Gabe darbringst zu dem Altar und dich daselbst erinnerst, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß daselbst deine Gabe vor dem Altar und gehe zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder; und dann komm und bringe deine Gabe dar.“ (Mt 5,23.24).
Dies Wort des Herrn Jesus ist zuweilen so aufgefaßt worden, als ob damit gesagt sei, daß, ehe ich mit einem Opfer vor den Herrn treten kann, ich mich zuvor mit meinem Bruder versöhnt haben müsse, ganz gleich, ob mich Schuld treffe oder nicht.
Ich will einige Beispiele anführen: Ein Bruder ist ein auffahrender Mann, ein Hitzkopf. Ich spreche mit ihm in Liebe darüber, und seitdem ist er mir böse und „hat etwas wider mich“. Oder aus Reden, die ein Bruder über mich führte, fühle ich, daß er „etwas wider mich hat“, er würde sonst in seinem Verhalten gegen mich anders sein. Oder ein anderer Fall: Das Haus eines Bruders ist ein Haus der Unordnung. Ich suche beide, sowohl den Bruder als auch die Schwester darauf aufmerksam zu machen, damit der Herr in ihrem Hause verherrlicht werden möchte. Seitdem aber haben sie „etwas wider mich“. Will der Herr mit diesen Worten nun sagen, daß ich in solchen Fällen nicht fähig bin, mit einem Opfer des Lobes vor Sein Angesicht zu kommen, sondern mich zuvor mit meinem Bruder versöhnen soll? Kann ich mich überhaupt versöhnen, wenn ich nicht gegen meinen Bruder gefehlt habe, sondern vielmehr in Liebe um der Ehre des Herrn willen ihm zu helfen suchte? Wir fühlen, daß des Herrn Wort eine solche Bedeutung nicht haben kann.
Wem gilt dann aber das Wort des Herrn : „Gehe zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder“?
Zuerst laßt uns sehen, was das Wort „versöhnen“ heißt, und auch beachten, daß es nicht heißt: „versöhnt euch miteinander“, sondern „versöhne dich“. Der für dieses Wort des Herrn in Frage kommende Bruder soll sich mit dem anderen versöhnen. Die Meinung, daß Versöhnung immer gegenseitig sei, ist durchaus falsch. Gewiß, Versöhnung kann gegenseitig sein, darauf kommen wir noch zurück. Ich möchte nur fragen: „Ist unsere Versöhnung mit Gott eine gegenseitige? Finden wir irgendwo in der ganzen Bibel etwas davon, daß Gott mit uns versöhnt werden müßte oder versöhnt ist?“ Solcher Irrtum mag zwar hier und da gelehrt werden, und der eine oder andere mag auch gedankenlos nachgesprochen haben, daß Gott mit uns versöhnt ist. Gott aber bedurfte niemals, mit uns versöhnt zu werden, weil Er nie gegen uns etwas verbrochen hat. Wir aber, wir haben uns gegen Ihn versündigt, und wir müssen deshalb mit Gott versöhnt werden, wenn die durch die Sünde entstandene Entfremdung zwischen Ihm und uns entfernt werden soll. Den Weg zu unserer Versöhnung mit Gott hat Er Selbst für uns gebahnt, indem Er Seinen eingeborenen Sohn für uns dahingegeben hat und uns ermahnte: „Laßt euch versöhnen mit Gott!“ (2Kor 5,20).
Wir sehen hieraus deutlich, daß es der schuldige Teil ist, der versöhnt werden muß, aber nicht umgekehrt. Dies zu beachten ist höchst wichtig, und von diesem Gesichtspunkt aus sind auch die obigen Worte des Herrn (Mt 5,23.24) zu verstehen. Tragen wir aber in diese Stelle gegenseitige Schuld herein (die weder in der Stelle noch aus dem Zusammenhang gefunden wird), so verdunkeln wir diese Worte des Herrn . Bei gegenseitiger Schuld muß auch die Versöhnung gegenseitig sein.
In dieser Schriftstelle sagt der Herr uns gleichsam: „Du kommst vor Gottes Angesicht mit einem Opfer, Ihn anzubeten; ist dein Herzenszustand aber so, daß Er dein Opfer annehmen kann?“ Vielleicht hast du deine Verfehlung gegen deinen Bruder vergessen; aber jetzt, wo du mit deinem Opfer in das alles durchdringende Licht Gottes trittst, erinnerst du dich, daß du deinen Bruder vielleicht geschmäht, beleidigt, benachteiligt, belogen (oder dergleichen mehr) hast, und er deshalb etwas wider dich hat. Willst du nun so, ohne dieses mit ihm in Ordnung gebracht und dich versöhnt zu haben, vor des Herrn Angesicht kommen? Nein, laß dein Opfer zurück, gehe hin! Denke nicht: „O, das kann ich nachher tun, ich will nur erst meine Opfergabe darbringen.“ „Nein“, sagt der Herr , „gehe zuvor hin.“ O, das ist nicht leicht, das ist ein schwerer Weg. Es läßt sich nicht ändern. Gewiß ist es bequemer und leichter, fröhlich deine Opfergabe darzubringen und über den Fehltritt hinwegzugehen. Der Herr aber sagt: „Gehe zuvor hin!“
Bemerkenswert ist auch, was im Alten Testament darüber gesagt ist, wenn jemand gesündigt und Untreue begangen hat wider Jehova und seinen Nächsten (3. Mose 5,20-26). Wir finden dort, daß der, der gesündigt hat, nicht nur das Schuldige erstatten, sondern noch ein Fünftel hinzufügen mußte. Erst wenn dies geschehen, wurde das Schuldopfer angenommen und fand die Sühnung und Vergebung statt. In dieser Linie ist auch die Vorschrift des Herrn in Mt 5,23.24; wie sollte es auch anders sein können?
Vergleichen wir nun noch Mk 11,25 mit Mt 5,23.24, dann muß jeder Zweifel schwinden, daß dies wirklich die Meinung des Herrn ist. Der Herr sagt in dieser Stelle: „Wenn ihr im Gebet dastehet, so vergebet, wenn ihr etwas wider jemanden habt.“ Merkwürdig, nicht wahr? Es handelt sich in dieser Stelle um dieselbe Sache, nur daß der Herr sich hier nicht an den wendet, der gesündigt hat, sondern an den, gegen den gesündigt worden ist.
Warum? Wenn du etwas gegen jemanden hast, so ist es doch, weil dieser gegen dich gefehlt hat. Der Herr ermahnt dich hier, diesem zu vergeben. Will der Herr das nicht mit diesen Worten sagen? Ohne Zweifel! Lies nur, was Er weiter sagt: „Auf daß auch euer Vater, der in den Himmeln ist, euch eure Übertretungen (oder Fehltritte) vergebe.“ Der Vater in dem Himmel ist unser Vorbild. So wie Er gegen die, welche wider Ihn gesündigt haben, gesonnen ist, so sollen auch wir gegen den gesinnt sein, der gegen uns gesündigt hat.
Mit dem Worte Mt 5,23.24 wendet sich also der Herr Jesus an den, der gegen seinen Bruder gefehlt hat. Mit dem Worte in Mk 11,25 wendet Er Sich dagegen an den anderen, an den, gegen den gesündigt worden ist. Der erste muß kommen, die Sache in Ordnung bringen und sich mit seinem Bruder versöhnen. Der andere muß in seinem Herzen so zu ihm stehen, daß er ihm mit Freuden vergibt.
Dies wird auch so köstlich in den Briefen ausgedrückt, zum Beispiel in Eph 4,32: „Seid aber gegeneinander gütig, mitleidig, einander vergebend, gleichwie auch Gott in Christo euch vergeben hat.“ Oder in Kol 3,13: „Einander ertragend und euch gegenseitig vergebend, wenn einer Klage hat wider den anderen, wie auch der Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“
Man mag gegen diese Erklärung von Mt 5,23.24 einwenden, daß wir in dieser Stelle noch gar nicht die Gemeinde haben, sondern dieses Wort auf alttestamentlichem Boden stehe. Wir können solche Erklärung ruhig dem überlassen, der Sie macht. Wir fragen aber, ob damit gesagt sein soll, daß die hier gegebenen Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit aufgehoben sind. Jeder kann sich die Antwort selbst geben. Sollte es dem, der Seinem irdischen Volke für den Verkehr miteinander Bestimmungen gab, gleichgültig sein, wie Sein himmlisches Volk sich verhält? Was sollen wir denken von einem Bruder, der, wenn er auf diese Worte des Herrn hingewiesen wird, sich der Kraft derselben zu entziehen sucht, indem er behauptet, das sei für Israel, aber nicht für ihn?
Jemand möchte fragen, was geschehen soll, wenn, wie es oft der Fall ist, die Schuld auf beiden Seiten liegt. Beachten wir, daß dieser Fall weder in Mt 5 noch in Mk 11 von dem Herrn behandelt wird! Nun, wenn auf beiden Seiten Schuld liegt, dann ist die Sache durchaus nicht schwieriger, sondern im Gegenteil nur einfacher. Dann liegt es auf beiden Seiten, miteinander in Ordnung zu kommen. Dann braucht der eine nicht auf den anderen zu warten. Jeder von den beiden sollte von Herzen danach trachten, der erste zu sein in dem Aufsuchen des anderen. Die Versöhnung ist dann eine gegenseitige. Wenn du aber dann bloß am Abwägen und Abmessen bist, die Schwere und das Maß der Fehltritte bei jedem festzustellen, dann ist dein Herz nicht in der rechten Stellung, in der rechten Verfassung, dich zu versöhnen, und du bist weit entfernt davon, deiner Schuld noch ein Fünftel hinzuzufügen, um dem Herrn das Opfer des Lobes und des Dankes darbringen zu können.
Lieber Bruder, wenn du weißt, daß irgend etwas von deiner Seite vorliegt, gehe hin und versöhne dich! Warte nicht damit! Denke nicht, die Sache wird sich so verlaufen. Sicher, sie wird sich verlaufen, aber so, daß sich auch die Zartheit und Empfindlichkeit deines Gewissens verläuft; und das je länger desto mehr. Und was denkst du, meinst du, daß, wenn der Herr dich heute mit deiner Opfergabe zurückweist, Er dich nach einem Jahre - unversöhnt mit deinem Bruder - willkommen heißen wird?
Fassen wir das Gesagte kurz zusammen, so sehen wir
1. wenn jemand dem Herrn ein Opfer bringen will und derselbe sich bewußt wird, gegen seinen Bruder gefehlt zu haben, daß dann der Herr zu ihm sagt: „Laß deine Gabe und gehe zuvor hin, versöhne dich mit deinem Bruder“ (Mt 5,23.24),
2. daß der Herr den Bruder, gegen den gesündigt worden ist, nur mit einem Herzen voll vergehender Liebe in Seiner Gegenwart sehen will (Mk 11,25),
3. daß ein Bruder, der gegen einen anderen Bruder gesündigt und im Gewissen von seiner Sünde nicht überführt und berührt ist, nicht sich selbst überlassen bleiben soll, sondern die Liebe soll sich um ihn bekümmern, und dieses gesegnete Vorrecht, ihm den Liebesdienst zu tun, soll dem zufallen, gegen den der Bruder gesündigt hat. Dieser soll zu ihm gehen und ihn zu überführen und wiederzugewinnen suchen (Mt 18,15-17).
Der Herr gebe uns Gnade, diese uns vom Herrn gezeichneten Wege, die reich an Segen für uns sind, zu gehen.
(Nach d. holl. „Gem.“ A. v. d. K).