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Handreichungen - Jahrgang 1913-1938 - Themen Artikel
Handreichungen Band 7 -Jahrgang 1920
Joh 13; 19; 20; 21 - „Der Jünger, den Jesus liebte“Joh 13; 19; 20; 21 - „Der Jünger, den Jesus liebte“
Manche Kinder Gottes haben aus diesen Worten entnommen, daß der Herr Jesus den Johannes mehr als die anderen Jünger geliebt habe, so daß sie ihn den „Lieblingsjünger“ Jesu genannt haben; sie meinen, Johannes sei in einzigartiger Weise vom Herrn geliebt worden und habe somit eine bevorzugte Stellung, gleichsam eine gewisse Ausnahmestellung unter den Jüngern eingenommen. Und weiter hat man daraus gefolgert, daß der Herr auch heute noch einzelne vor anderen liebe und „Lieblingsjünger“ habe. Die Schrift aber sagt solches nicht, noch gibt sie uns Grund zu solcher Annahme. Nie spricht sie von Rangplätzen im Herzen Jesu, von Ausnahmestellungen oder Bevorzugungen in Seiner Liebe, noch von „Lieblingsjüngern“.
Johannes wußte sich nicht nur vom Herrn geliebt, er genoß auch Seine Liebe. Daß der Herr ihn liebte, diese Tatsache war ihm so groß, seinem Herzen so überwältigend teuer, daß er seinen Namen gänzlich zurückstellt und diese Tatsache gleichsam zu seinem Titel macht und sich selbst bezeichnet als den Jünger, den Jesus liebte. Er sagt nicht: „der Jünger, der Jesus liebte“ - nicht seine Liebe zum Herrn beschäftigte seine Seele, sondern: „der Jünger, den Jesus liebte“, Jesu Liebe zu ihm, das war sein höchster Rang und seine größte Ehre. Keineswegs aber verbindet er damit den Gedanken, als sei er der Jünger „den Jesus vor allen anderen Jüngern liebte“. Das ist ein Gedanke, den der Mensch da hinein gelegt hat. Er selbst nennt sich einfach: „der Jünger, den Jesus liebte“. Wenn solche Dinge gelehrt und behauptet werden, so wird der Schriftboden verlassen; es wird etwas gesagt, was die Schrift nicht sagt.
Johannes lebte so in dem Glücke der Liebe seines Herrn, daß er von sich spricht so, als ob er ganz allein von Ihm geliebt würde, so wie auch Paulus ausruft: „Der mich geliebt und Sich Selbst für mich dahingegen hat.“ (Gal 2,20). Auch von anderen Personen lesen wir, daß Jesus sie liebte, z. B. von Martha, Maria und Lazarus (Joh 11,5), und an vielen Stellen der Schrift wird von der Liebe Christi und Gottes zu den Seinigen geredet; aber nirgends in einer Weise, als ob es Abstufungen in Seiner Liebe gäbe, so als ob etliche mehr und andere weniger geliebt würden von Ihm. Solche Gedanken sind (für mich) den Herrn entehrend. Seine Liebe ist eine vollkommene Liebe. Er kann sie uns gegenüber nicht vermehren noch vermindern. Er liebt alle die Seinigen mit einer gleichen, unwandelbaren Liebe, mit ewiger Liebe. Unsere Liebe ist wechselnd und verschieden, ist klein und groß, aber nicht Seine Liebe. So wie Er Selbst vollkommen ist, so ist auch Seine Liebe vollkommen. Viel Liebe für das eine Kind und wenig Liebe für das andere Kind, das ist nicht vollkommene Liebe. Er Selbst ist „Licht“ und „Liebe“; so wenig wie eine Veränderung Seines Lichtes möglich ist, so wenig ist auch eine Veränderung Seiner Liebe möglich. Jede Rede von „Lieblingen“ in Verbindung mit der Liebe des Herrn ist eine Entstellung Seiner göttlichen Liebe, ein Herabziehen der vollkommenen Liebe zur Art der Liebe der Sünder. Er liebte Seine Jünger nach der Größe Seiner Liebe, aber nicht nach dem Maße ihrer persönlichen Liebenswürdigkeit. Solche Liebe bezeichnet der
HErr als heidnisch, als die Liebe der Sünder (Lk 6,32), aber Seine Liebe ist anderer Art. Er liebt die Seinigen alle mit einer Liebe, und diese Liebe ist: „Gleich wie der Vater Mich geliebt, habe auch Ich euch geliebt“ (Joh 15,9). Wie kann da von „Lieblingsjüngern“ geredet werden?! Hätte der Herr „Lieblinge“ und somit zweierlei Maß für Seine Liebe gehabt, so hätte Er uns nicht geliebt, gleichwie der Vater Ihn geliebt; und wir könnten nicht ermahnt werden, „die gleiche - dieselbe Liebe zu haben“ (Phil 2,2), noch zum „Gleichgesinntsein“ gegeneinander (Röm 12,16; 15,5). Seine Liebe aber ist das Vorbild für unsere Liebe zueinander: „Daß, wie Ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebet“ (Joh 13,34). „Bleibet in Meiner Liebe“, und Seine Liebe war nicht nach unserer Liebenswürdigkeit oder unserem Verdienst. Wie könnte aber Seine Liebe uns das Vorbild sein, wenn Er nicht uns alle mit einer gleichen Liebe geliebt hätte? Laßt uns deshalb aufhören, von „Lieblingen“ und „Lieblingsjüngern“ Jesu, von „Bevorzugungen“ und „Ausnahmestellungen“ in Verbindung mit der Liebe des Herrn zu reden.
Eine ganz andere Sache und Seite ist es, wenn es sich darum handelt, wie weit oder in welchem Maße der Herr diese Seine vollkommene Liebe dem einzelnen mitteilen und offenbar machen kann. Hier ist Verschiedenheit. Dieses hängt von unserem Eingehen in Seine Liebe und dem damit zusammengehenden Gehorsam ab. Hierauf laßt uns noch eingehen!
Es scheint, daß keiner der Jünger die Tatsache Seiner Liebe so im Herzen erfaßt hat wie Johannes. Und es sind wohl auch nur wenige Gläubige zu allen Zeiten gewesen, die wie er in die Liebe des Herrn eingingen und es für sich selbst verwirklichten, „geliebte Kinder“ zu sein. Solche Johannesseelen verstehen die Sprache der Braut im Hohenliede 2,4: „Sein Panier über mir ist die Liebe.“ Sie wissen, Seine Liebe weht und wallet über ihnen wie ein Banner. Seine Liebe macht sie glücklich und ist ihnen eine unversiegbare Quelle der Freude. O, wie wenig wird das Wort verstanden, als geliebte Kinder „Nachahmer Gottes“ zu sein (Eph 5,1). Wenn ich das Bewußtsein Seiner Liebe zu mir im Herzen trage und mich als Sein geliebtes Kind weiß, dann erst kann Gott mir recht Seine Liebe offenbar machen, und dann kann ich Sein Nachahmer sein.
Ich sah einmal ein Kind fröhlich mit seinem Spielzeug spielen. Plötzlich verließ es sein Spiel und schmiegte sich im Schoß an die Brust der Mutter. Es wußte sich geliebt. Es vergaß für einige Augenblicke sich selbst und sein Spiel und legte sich in den Arm der Mutter. Und was tat die Mutter? Sie zog es neu an ihr Herz und neue Offenbarungen ihrer Liebe wurden dem Kinde zuteil. - Ich gedachte an das Wort „als geliebte Kinder“ und „wer Mich liebt ... Ich werde ihn lieben und Mich Selbst ihm offenbar machen“ (Joh 14,21). Sobald unsere Liebe Seine Liebe berührt, berühren wir gleichsam, wie bei der elektrischen Glocke, den Kontakt des Stromes Seiner Liebe und setzen sie gegen uns in Bewegung. Welche Freude für die Mutter, als das Kind ihre Liebe suchte. Und welche Freude für Ihn, wenn unsere Liebe Seine Liebe berührt und erwidert. Er sagt: „... wer Mich liebt, wird von Meinem Vater geliebt werden, und Ich werde ihn lieben und Mich Selbst ihm offenbar machen“ (Joh 14,21).
Es kann sein, daß ein Kind in Gehorsam unter den Blicken der Mutter spielt und ihr Wohlgefallen hat und das andere Kind zur selbigen Stunde sie durch Ungehorsam betrübt. Die Mutter liebt vielleicht beide gleich. Ihre Zärtlichkeit gegen das eine und ihre züchtigende Hand gegen das andere kommen aus einer Quelle, aus der der Liebe.
Die Verschiedenheit ihres Verhaltens zu beiden Kindern darf nicht als eine Verschiedenheit ihrer Liebe angesehen werden. Und so ist auch das Verhalten des Herrn uns gegenüber. Seine Liebe zu uns ist vollkommen. Sie ist gleich dem Ringe an der Hand des verlorenen Sohnes; sie hat weder Anfang noch Ende; sie kann sich nie verändern, denn sie hat ihre Quelle nicht in dem, was wir sind und tun, sondern in Ihm Selbst; Er ist Liebe. Aber wir können durch unser Verhalten Seine Liebe in ganz verschiedener Weise in Tätigkeit setzen, sich gegen uns in Liebessegnungen wie auch in Zucht zu offenbaren (vergl. Joh 14,21 mit Heb 12,6 und Off 3,19).
In Johannes haben wir so recht das Bild eines „geliebten Kindes“. In den fünf Stellen, in denen wir den Ausdruck finden, „der Jünger, den Jesus liebte“, können wir gewisse Dinge, die mit einem „geliebten Kinde“ verbunden sind, erblicken. Laßt uns sie recht beachten!
Gleich in der ersten Stelle (Joh 13,23-26) finden wir das „geliebte Kind“, „den Jünger, den Jesus liebt“, sich an die Brust Jesu schmiegen. Der Herr hatte Seinen Jüngern gesagt: „Einer von euch wird Mich überliefern. „ Johannes wußte: die Stunde der Versuchung naht, die Macht der Finsternis kommt, und einer von uns wird Ihn überliefern. Keiner traute es sich zu. Einer sieht den anderen an. Wen wird die Macht der Finsternis überwältigen? Vor dieser Stunde, vor dem nahenden Sturm birgt er sich in Seinem Schoß und nimmt seine Zuflucht zu Seiner Liebe, die allein ihn zu bewahren vermag. Köstliches Vorbild für uns, wenn Stunden der Prüfung kommen. Und noch mehr! Dort im Schoße der Liebe empfängt er Licht, Unterweisung und Antwort auf die bange Frage: „HErr, wer ist es?“ (Joh 13,23-25).
Joh 19,25-27 zeigt uns das Bild eines „geliebten
Kindes“ in der Stunde der Versuchung. Inmitten des Sturmes findet „der Jünger, den Jesus liebte“, sich unter dem Kreuze Christi wieder zurecht. Die Schafe der Herde sind zerstreut. Allein kehrt er zurück und mit ein paar niedergeschlagenen Weibern harrt er nun bei seinem verworfenen und gekreuzigten Herrn aus. Der Herr sah vom Kreuz auf sie herab. Was mußte diese kleine Schar in dieser Stunde für Sein Herz sein! „Jesus sah den Jünger, welchen Er liebte, dabeistehen“, und hier unter dem Kreuze empfing er den letzten Blick aus den Augen seines Herrn, ehe Er starb, den letzten Blick Seiner Liebe. Petrus empfing den letzten Blick (vor Seinem Tode) im Kreise Seiner Feinde. Auch das war ein Blick Seiner Liebe, aber er redete eine andere Sprache als der, den Johannes empfing. Was war des Herrn Jesu letzter Blick für Petrus und was für Johannes? Ja, so ist es heute noch, der geliebte Jünger harrt bei seinem verworfenen Herrn aus und empfängt den Blick Seiner Liebe. Und dann empfängt Johannes die letzten Worte seines Herrn. Er gibt ihm zu verstehen, daß das letzte Band des irdischen Verwandtschaftsverhältnisses jetzt gelöst ist, und vertraut ihm unter Seinem Kreuze das Teuerste an, was Er in diesem Bande hatte. Er übergibt Seine Mutter seiner Sorge. Welch Vertrauen! Und sofort, „von jener Stunde an“, nimmt er sie zu sich. Welche Sprache reden diese Worte zu uns!
Joh 20,1-9 zeigt uns ein „geliebtes Kind“ nach dem Sturm, als jede Hoffnung zu Grabe getragen war. Er hatte mit den Weibern unter dem Kreuze gestanden. Wie hatten ihre Augen an dem geliebten Herrn gehangen. Da plötzlich bemerken sie: Er neigt das Haupt. Ob noch immer eine schwache Hoffnung ihr Herz belebt hatte, daß Er im letzten Moment doch noch von Seiner göttlichen Kraft Gebrauch machen und vom Kreuze herabsteigen werde? Wie mochten ihre Herzen, ihr Atem stocken, als sie sahen: „Er neigt das Haupt“ - und - stirbt? nein „und übergibt den Geist“. „Niemand nimmt das Leben von Mir, sondern Ich lasse es von Mir Selbst. Ich habe Gewalt es zu lassen, und habe Gewalt es wiederzunehmen“ (Joh 10,18), so hatte der Herr zuvor gesagt. Auch in dieser dunkelsten Stunde ist Er für Johannes der Sohn Gottes, der Sich freiwillig hingibt. Er kann - er darf nicht schreiben „Er stirbt“, sondern „Er übergab den Geist“. Jetzt war alles dahin, alles ihm genommen - aber das Bewußtsein Seiner Liebe konnte ihm nicht genommen werden. Auch in dieser Stunde der tiefsten Hoffnungslosigkeit nennt er sich „den Jünger, den Jesus lieb hatte“. Die Erinnerung Seiner Liebe hielt sein Herz warm für seinen Herrn. Und als der erste Vorbote des Auferstehungsereignisses sich zeigt, da sind die Füße des „geliebten“ Jüngers schneller als die des sonst so schnellen Petrus. Warum blieb Petrus, der sonst immer voran und in allem der erste war, nun zurück? Warum waren seine Füße jetzt so langsam im Lauf? Ach, er war nicht glücklich in Jesu Liebe. Ihm lag eine Last auf dem Gewissen, und diese Last hemmte den Lauf seiner Füße. Und wenn unsere Herzen in den dunklen Stunden der Hoffnungslosigkeit nicht das Bewußtsein Seiner Liebe haben, so sind auch unsere Füße im Lauf gehemmt.
In Joh 21,1-7 und 18-23 wird uns zweimal der Jünger, den Jesus liebte, gezeigt. Die kleine Jüngerschar ist von dem Auferstandenen wieder gesammelt worden, aber sie verstehen den Auferstandenen noch nicht in dem neuen Verhältnis, welches der Herr ihnen kundtat, als Er sagte: „Mein Vater - euer Vater“ (Joh 20,17). Simon Petrus ist der erste, der zum Alten, wovon der Herr ihn einst wegrief, zurückkehren will: „Ich gehe hin fischen.“ Sofort sind auch sechs andere zum „Zurückgehen“ bereit. Worte zum „Zurückgehen“ finden leicht Anklang! Der Herr aber steht schon „frühe“ am Ufer bereit, ihnen auf ihrem Wege zu begegnen. Wer aber erkennt den Herrn in Seinem neuen Auferstehungsstande? Es ist „der Jünger, welchen Jesus liebte“! Zwei Jünger, jeder spricht nur vier Worte: „Ich gehe hin fischen“ und „Es ist der HErr“. Aber jedes Wort hatte eine Wirkung. Jedes unserer Worte hat eine Wirkung auf andere. Möchten unsere Worte die eines „geliebten“ Kindes sein, die nicht zum alten Wesen, sondern zum neuen, zu unserem auferstandenen und verherrlichten Herrn hinweisen.
Mit dem Jünger, den Jesus liebte, verbindet der Herr bei dem dann folgenden Mahle die Worte: „Wenn Ich will, daß er bleibe, bis Ich komme usw.“ Er zeigt damit an, daß dieser dem Willen und Walten seines Herrn stille ist. Geduldig wartet er, „bis Er kommt“. Hierüber habe ich an früherer Stelle schon geschrieben.3 „Lasset uns wachsen in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus“ (2. Petrus 3,18), dann wird es auch von uns wahr sein: „Die Liebe Christi drängt uns ..., daß die, welche leben, nicht mehr sich selbst leben, sondern Dem, der für sie gestorben ist und ist auferweckt worden“ (2Kor 5,15). v. d. K.