Otto Stockmayer
Schriften von Otto Stockmayer
Mt 18,19-35 - „Laß mich, Herr, an andern üben, was du Herr an mir getan."Mt 18,19-35 - „Laß mich, Herr, an andern üben, was du Herr an mir getan."
„Weiter sage ich euch: Wo zwei unter euch eins werden auf Erden, warum es ist, daß sie bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel. Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." Ich denke, es kann sich da kaum handeln um ein willkürliches Übereinkommen, sondern nur um eine Übereinkunft, die darauf beruht, daß sich beide in Christo gefunden haben in einer Angelegenheit, und daß sie diese Angelegenheit dann einmütig vor den Herrn bringen. Das kann nur geschehen durch den Geist Gottes, und dann soll ihnen widerfahren, worum sie bitten. Der Herr Jesus hat Petrus die Macht gegeben, zu binden und zu lösen — das sieht man aus Vers 20: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen." „Im Namen Jesu", heißt es. Der, den wir vertreten, muß uns also erst klare Auskunft geben, was er von uns will, und wie er die Sache ansieht; wir müssen daher erst in der Nachfolge Jesu lernen, wie er die Sache ansieht, wie er denkt über die Dinge, die andere bewegen — erst dann können wir in seinem Namen bitten. Er ist dann mitten unter uns und hört uns.
Vers 21: „Da trat Petrus zu ihm und sprach: Herr, wie oft muß ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben?" Vers 15 hatte der Herr zu Petrus gesagt: „Sündigt aber dein Bruder an dir, so gehe hin und strafe ihn zwischen dir und ihm allein . . ." und in unserem heutigen Abschnitt tritt nun Petrus herzu und fragt den Meister: „Ist's genug, wenn ich meinem Bruder siebenmal vergebe?" Damit meint er offenbar das äußerste getan zu haben, was man von ihm verlangen konnte. „Der Herr antwortete ihm: „Ich sage dir, nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal." Siebenmal siebzig macht 490 mal, also einfach unbegrenzt. Der Herr hat ein unbegrenztes Erbarmen mit uns. Er kann darum aber auch von uns verlangen, daß wir in der Kraft der Gnade, die er uns bewiesen hat, auch unserer Geduld dem Bruder und der Schwester gegenüber keine Grenzen stecken — unbegrenzt aus der Fülle seiner Geduld und Gnade und Tragkraft schöpfend — denn mit unserer Tragkraft und Vergebungsliebe wären wir bald am Ende angelangt. Und nun das Gleichnis: „Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig — oder Talente." Man hat verschiedene Berechnungen für die Talente. Etliche berechnen sie zu 5000, andere zu 10 000 Franken. Es war also eine Riesenschuld — zehntausend solcher Talente. Und der Knecht konnte diese Schuld nicht bezahlen. Er hatte sich eine Schuld anhäufen lassen, die weit über die Grenzen dessen ging, was er zurückzahlen konnte. Auch unsere Schuld Gott gegenüber ist grenzenlos — es übersteigt alle Begriffe, aus welcher Höhe und in welche Tiefe wir gefallen sind — und welche Gnade uns also unser Gott erwiesen hat damit, daß er alle unsere Schuld auf seinen Sohn gelegt und dieser sie mit hinaufgenommen aufs Fluchholz und den Schuldbrief zerrissen hat. Wer dahinein einen Blick bekommen hat, dem wird es nicht mehr schwer werden, seinen Bruder oder seine Schwester zu tragen, ihnen zu vergeben und auf sie zu warten. Vers 25: „Da er's nun nicht hatte, zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles, was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr, habe Geduld mit mir, ich will dir's alles bezahlen." Menschlich gesprochen war das ganz aussichts- und hoffnungslos, aber der Herr erbarmte sich über seinen Knecht. Darin liegt der Schwerpunkt. Er erbarmte sich über einen aussichtslos verschuldeten Knecht, gab ihn los und vergab ihm die Schuld. „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigern" — im Grundtext heißt es nach den am kräftigsten bezeugten Lesarten: „Wie wir vergeben haben unseren Schuldigern." Wenn wir mit der Bitte um Vergebung vor Gott treten, so müssen wir zuerst den Bruder losgelassen haben — nicht bittend vor Gott treten und fest-bindend vor dem Bruder stehen — den Bruder nicht loslassen wollen. Vers 27: „Da jammerte den Herrn desselbigen Knechtes, und dir Schuld erließ er ihm auch. Da ging derselbe Knecht hinaus, und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: Bezahle mir, was du mir schuldig bist." Der Mitknecht war ihm nur eine Bagatelle schuldig im Vergleich zu der grenzenlosen Schuld, die ihm sein Herr vergeben hatte — er war ihm nur etwa hundert Frank schuldig. Dieser Mitknecht weigerte sich durchaus nicht, die Schuld anzuerkennen, sondern fällt ihm zu Füßen und sagt: „Habe Geduld mit mir: ich will dir's alles bezahlen." Das war offenbar aus aufrichtigem Herzen gesprochen. Er will seine Schuld nicht leugnen, die Last nicht abschütteln, aber er kann jetzt nicht bezahlen. Der andere wollte ihm nicht vergeben, wollte nicht warten, sondern er wirft ihn ins Gefängnis. Das war nicht der Weg, um die Schuld bezahlt zu bekommen. Wenn er im Gefängnis liegt, kann er nicht bezahlen, und dadurch, daß man auf andere drückt, kommt man nicht zum Ziel. „Wartet auf einander." Der Herr hat lange auf uns gewartet. Wenn man das erkannt hat, wartet man gern auf andere, steht ihnen nicht mehr fordernd gegenüber, sondern in tragender Fürbitte und Liebe, und was der andere jetzt nicht zahlen kann, das wird ihm gutgeschrieben; er reift dadurch, kommt tiefer hinein in das Meer göttlicher Gnade, um daraus zu schöpfen Geduld, Langmut, zuwartende Liebe. „Ich will dir alles bezahlen", sagt der Mitknecht, aber der andere will nicht, wirst ihn ins Gefängnis. Das hat nun mit Recht eine tiefe Betrübnis im Kreise der Mitknechte hcrvorgerufen. Sie wurden nicht erbittert, sondern betrübt. Wohl uns, wenn uns die Handlungsweise anderer nicht mehr erbittert, sondern betrübt, zu Herzen geht! Sie kamen zu ihrem Herrn und berichteten ihm die ganze Geschichte. Da sprach sein Herr zu ihm: „Du böser Knecht . . ." Ja, das war böse. Nicht, daß er ihm gegenüber so verschuldet war, wirft er ihm vor, sondern daß er seinem Mitknecht nicht vergeben und ihm die Schuld nicht erlassen hat. Vers 34 nimmt nun der Herr die Gnadenstellung, die er dem Verschuldeten gegenüber eingenommen hatte, zurück und geht in heiligem Zorn den Rechtsweg. Er überliefert ihn den Peinigern. Gott kann sich genötigt sehen, uns einem Peiniger zu überlassen — ob auch nur für eine Zeit, — wenn wir unseren Geschwistern gegenüber hart sind und nicht aufeinander warten können. Das hätte der Mann einsehen können. Ja, wieviel mögen wir noch nicht eingesehen haben dem Herrn gegenüber! Durch Warten erstarken wir und reifen für die Herrlichkeit. Durch Warten bildet sich unser Charakter und kommen wir dem Herrn näher, denn nur aus ihm, dem Wartenden, können wir die Gnade des Wartens schöpfen und bleiben wir frei von Ungeduld und vom Grenzenstecken. „Das Meer seiner Gnade." Unerschöpflich ist feine Gnade — unbegrenzt wird auch, wenn wir aus diesem Meer der Gnade schöpfen, die Kraft, diejenigen zu lieben, die uns ungerecht begegnen. „Sein Herr überlieferte ihn den Peinigern", bis er alles bezahlt hätte. Den Peinigern aber verfallen alle, die nicht vergeben können. Dann fällt die Pein auf sie zurück in irgend welcher Form und zu irgend welcher Zeit, aber der Herr weiß uns zu finden. „Also wird euch mein himmlischer Vater auch tun . . ." Da wird dann der Vater zum Richter, wie er es in der Tat ist. Für Jesum war der Vater kein Richter, denn er war dem Vater in allen Dingen ein wohlgefälliger Sohn. Das hat der Vater ihm selbst bezeugt auf dem Verklärungsberge: „Das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe." Etwas Höheres, Herrlicheres kann ein Menschenkind nicht wünschen und nicht erwarten, als daß der Vater ihm sein Wohlgefallen kundtut, indem er ihm zu verstehen gibt: „Mein Sohn, mein Kind, ich bin zufrieden." Da wird man reichlich belohnt aus dem Herzen des Vaters für jede tragende Liebe, die man anderen gegenüber hat, die einem etwas schuldig geblieben sind. Es fällt uns da vom Vater reiche Gnade zu, die weit hinausgeht über das, was wir je dem Bruder oder der Schwester an tragender Liebe beweisen können.