Das Vaterunser beginnt mit den Worten: „Vater unser, der du bist in den Himmeln." Wenn wir mit dem Vater in den Himmeln durchs Gebet in Berührung treten wollen, so müssen wir alles Scheinwesen ausscheiden, so daß wir nichts tun, um von den Leuten gesehen zu werden. Unser Vater in den Himmeln schaut auf die innere Gesinnung. „Wenn du Almosen gibst, sollst nicht lasten vor dir posaunen, wie die Heuchler tun in den Schulen und auf den Gassen . . Das Bedürfnis, für wohltätig zu gelten, und Anerkennung seitens der Menschen suchen, steckt lies im natürlichen Menschenherzen. „Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf daß dein Almosen verborgen sei: und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich." Kein Selbstbewußtsein! Vers Z „Und wenn du betest, sollst du nicht sein wie die Heuchler, die da gerne stehen und beten in den Schulen . . . Wahrlich, ich sage euch, sie haben ihren Lohn dahin." Auch in dieser Beziehung ist der Charakter unserer Zeit ein anderer. Man schämt sich heutzutage eher seines Gebetslebens und des Evangeliums. Wer von Menschen Lohn haben will, hat keinen Lohn von Gott zu erwarten. Vers 15: „Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben," Da ist kein Raum mehr für das Vaterunser.
Es ist uns Kindern Gottes — Gott sei Lob und Dank! — zur zweiten Natur geworden, unsern Gott als Vater anzurufen, aber wir dürfen nie vergessen, daß er unser Vater geworden ist durch die Hingabe seines Sohnes, durch die Menschwerdung Jesu Christi zu unserer Versöhnung mit dem Vater, daß er unser Vater würde. Nicht nur die alten Beziehungen sollten hergestellt werden, sondern durch die Erlösung sollte der Mensch in engere Beziehungen denn je zu Gott gebracht werden. Der Herr hebt nicht nur aus dem Fall heraus, sondern er hebt den aus dem Fall Herausgehobenen näher an sein Herz, als er je gewesen ist.
„Der du bist in den Himmeln", heißt es wörtlich. Die Himmel überragen uns von allen Seiten, überall breitet sich der gleiche Himmel aus und die gleiche Gnade und die gleiche Güte und Herrlichkeit. „Geheiligt werde dein Name." Das bedeutet nicht nur, daß wir den Namen Gottes nicht mißbrauchen sollen; und leider gibt es ja auch Kinder Gottes, die man sehr leicht sagen hört „mein Gott", ohne daß sie dabei an Gott denken; es ist nur so eine Redensart bei ihnen, das ist auch kein Heilighalten des Namens Gottes. Aber es liegt doch noch mehr darin. Um den Namen Gottes heiligen (und heilig halten) zu können, muß uns unser eigener Name nicht mehr so teuer, heilig und unantastbar sein. Es soll uns leichter werden, zu ertragen, daß andere uns etwas antun, als daß sie den Namen Gottes nicht ehren. Unsere eigene Person soll in den Hintergrund treten und der Eifer um Gott und seinen Namen in den Vordergrund. Es heißt von unserem Heiland: „Der Eifer um dein Haus hat mich gefressen", Joh 2,17, während wir von Natur mehr Eifer Haden für unseren Familiennamen, unser Haus, unser Wohlergehen, und die Gemeinde des Herrn erst in zweiter Linie kommt. Das ist kein königlicher Boden und keine königliche Stellung, das ist nicht des Evangeliums würdig. „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes...." Trachtet darnach, daß der Herr bei euch zur Herrschaft komme, daß man es ihm recht macht, anstatt darnach zu trachten, daß man uns Ehre erweise, es uns recht und bequem mache. „Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden." Da muß man aber zuerst gelernt haben, keinen eigenen Willen mehr zu haben, seine eigenen Interessen hinter die Interessen Gottes zurückzustellen. Von Natur sind wir eben eigenwillige Leute, die das, was sie wollen, durchsetzen, und die ihre Ehre dareinsetzen, ihren Willen durchzusetzen. Wir muffen unseren Willen darangeben lernen. Das lernt man nur, wenn man einen Blick bekommt in das Kreuz Christi und wenn man erkennt, daß wir Mitgekreuzigte sind. „Wenn ich erhöht sein werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen", hat der Herr Jesus gesagt, — und zwar sagte er das von seiner Erhöhung ans Kreuz. Dort gehören wir alle hin, und Rettung haben wir nur als Mitgekreuzigte. Zuerst schenkt uns der Herr Vergebung der Sünden, aber wir werden dann auch mitgekreuzigt, werden der Welt und uns selbst Gekreuzigte. „Es komme dein Reich." „Es geschehe dein Wille", und dann kommen wir mit der Bitte um unser tägliches Brot, um alles, was wir brauchen vom Morgen bis zum Abend: Obdach, Schutz, Nahrung, Kleidung, Erquickung. Er muß uns durch die Schwierigkeiten hindurch einen Weg bahnen. Es gibt ja Tage, wo wir nicht wissen, wie durchkommen, und da ist man froh, sich auf den Herrn verlassen zu können, daß er uns nicht nur Speise im gewöhnlichen Sinne des Wortes gibt, sondern daß er uns überhaupt alles Nötige darreicht, um ungeschlagen durchzukommen, um fertig zu werden mit der Aufgabe, die heute unser wartet, um nicht irgendwo oder irgendwie hängen zu bleiben. Und zwar beten wir da nicht weit hinaus, sondern wir bitten, daß der Herr uns heute unser tägliches Brot gebe, uns beute Handreichung tue für alle unsere Bedürfnisse, wie der Tag sie bringen möge. „Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe." Bei Vers 12 ist zu bemerken, daß nach den ältesten Handschriften gelesen wird: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben haben unseren Schuldiger»." Das stimmt mit jenem Worte des Herrn Jesu: „So du deine Gabe auf dem Altar opferst und wirft allda eingedenk, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so laß allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder, — alsdann komm und opfere deine Gabe." Es muß also zwischen uns und dem Bruder oder der Schwester alles in Ordnung sein, soweit es an uns liegt. Wir müssen vergeben haben, sonst können wir nicht verlangen, daß Gott uns vergibt. „Mit dem gleichen Maße, mit dem ihr messet, soll euch gemessen werden", und in der Versöhnung, die unser Heiland geschaffen hat, gibt er uns seinen Geist. Die Versöhnung wird versiegelt mit der Gabe des Heiligen Geistes, und wenn wir von Natur ein trotziges Herz haben, so wird uns bei einer gründlichen Bekehrung ein neuer Geist geschenkt, ein Geist der Sanftmut, der Liebe und Geduld, auch denen gegenüber, denen man früher nicht verzeihen zu können meinte. Der Herr löst uns von unserer Selbstgerechtigkeit und von unserem Trotz. Da rechnet man dann anders als vorher. „Führe uns nicht in Versuchung." Auch da muß man wohl unterscheiden. Versuchungen im allgemeinen kann uns der Herr nicht ersparen. „Er ist versucht worden allenthalben, gleichwie wir, doch ohne Sünde." Er hat besondere Versuchungen durchgemacht in der Wüste, und so gibt es auch bei uns Zeiten, wo wir in besonderer Weise versucht sind zu Hochmut oder Schwermut, zu Übermut oder zu Kleinmut. Da verlassen wir uns dann nicht auf unseren Charakter, auf unsere christlichen Erfahrungen, sondern darauf, daß der Herr die Versuchung so bemißt, daß wir sie ertragen können. Er schafft mit der Versuchung zugleich einen Ausweg,so daß wir weit überwinden können mit ihm. Der Herr sorgt dafür, daß wir von unseren Höhen herunterkommen und uns nicht einbilden, wir seien über alles hinweg. Ein wahrer Fortschritt im inneren Leben beweist sich namentlich auch darin, daß man in den eigenen Augen schwächer wird, sich nichts mehr selber zutraut. „Der Gerechte lebt seines Glaubens" — nicht seiner Erfahrungen. Er schlägt die Wurzeln seines Lebens immer tiefer ein in den heimatlichen Boden der Erlösung und der Gnade Gottes. „Erlöse uns vom Bösen", vom Teufel und von allem Bösen — auch von meiner bösen Natur — „denn dein ist das Reich". Du bist der Herrscher. Du hast Kraft; du hast Herrlichkeit, und du hast sie in alle Ewigkeit. Du reichst mit deiner Kraft in unsere Schwachheit hinein, und da, wo wir die Zügel abgeben, wo wir nicht mehr herrschen wollen, kann der Herr sein Recht aufrichten auf den Trümmern unserer Einbildung, unseres Hochmuts, unseres Selbstbewußtseins. Das Selbstbewußtsein macht Platz dem Gottesbewußtsein. Wir wissen, der Herr wird auch mit dem fertig, was uns jetzt bedrängt, bedroht, versucht. — Nach dem Amen steht noch ein Nachsatz, was den in Vers 12 erwähnten besonderen Punkt der Vergebung betrifft. Vers 15 kommt noch ein weiterer Wink, eine ernste Warnung, was es bedeutet, wenn wir anderen nicht vergeben. Unsere Stellung zu Gott hängt davon ab, daß wir uns richtig zum Bruder und zu der Schwester stellen, wo wir ihnen etwas zu vergeben haben. „So ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebt, wird euch der Vater im Himmel eure Fehler auch nicht vergeben." Nun das Nichtvergebenkönnen ist ein Durchgangspunkt, und gerade dadurch, daß man uns etwas zuleide tut, werden wir — wo wir meinten, nicht vergeben zu können, tiefer hineingeführt in die Erkenntnis unseres harten Herzens, das nicht vergeben will und nicht vergeben kann in eigener Kraft. „Die Sachen kommen immer wieder, er hat es zu arg gemacht", sagt man da. Wenn du daran denkst, was dein Heiland für dich getan hat, dann sagst du nicht mehr: „Ich kann nicht vergeben." Die Erkenntnis deines harten Herzens führt dich unter das Kreuz und hilft dir erkennen, was es heißt, mitgekreuzigt, mitbegraben, mit auferweckt und mit in die himmlischen Örter versetzt sein. Da kann man uns nicht in Lieblosigkeit hineinreißen. Wenn wir in himmlischen Örtern niedergelassen sind, haben wir Kraft von oben zum Leiden und zum Tragen. Schließlich kommt noch eine Ermahnung bezüglich des Fastens, daß man nicht Anerkennung bei den Menschen sucht. Und dann noch das Schätzesammeln. Das schließt nicht aus, daß man im Sommer sorgt für den Winter und sein Vermögen verwaltet nach Gottes Sinn, aber unser wahrer Schatz ist im Himmel.