Schriften von Otto Stockmayer
Mt 9,1-17 - „Jesus nimmt die Sünder an"Mt 9,1-17 - „Jesus nimmt die Sünder an"
Der Herr hatte zwei Besessene geheilt. Er hatte den Dämonen erlaubt, sich in eine Schweineherde einzunisten. Die Schweine waren unreine Tiere, deren Genuß in Israel verboten war. Die ganze Herde stürzte schließlich in den Abgrund, den Abhang hinunter und ging zu Grunde. Die ganze Stadt trauerte über den Verlust ihrer Schweine und bat den Herrn, sie wieder zu verlassen. Wie schon erwähnt: die Schweine waren ihnen lieber als der Herr. Daraufhin ist der Herr nach Kapernaum hinübergefahren; dort wartete neue Arbeit auf ihn, die der Vater ihm auf den Weg gelegt hatte. Die Leute brachten einen Gelähmten zu ihm — und wir finden hier das bedeutsame Wort: „Als Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gichtbrüchigen . . ." Unser Glaube erstreckt sich notwendigerweise nur auf die eigene Person. Wenn wir ein Herz haben für andere, kann uns der Herr auch Glauben schenken für andere, so daß wir ihnen damit zu Hilfe kommen. „Da er ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten . . ." und was steht dabei? Etwa: „Steh auf und wandle?" Nein, das ist nicht das erste. Er sagt: „Sei getrost mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben." Daraus kann man schließen, daß seine Lähmung mit besonderen Sünden in Zusammenhang stand, was ja nicht notwendig und nicht immer der Fall ist. „Sei getrost, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben", heißt es hier. Das mußte sich der Gelähmte sagen lasten, da, wo er öffentlich bekannt war. „Und siehe, etliche — nicht alle — etliche der Schriftgelehrten — sprachen bei sich selbst — sie wagten nicht, es offen auszusprechen — sie sagten aber bei sich selbst: „Dieser lästert Gott." Es war ein innerer Vorgang, über den der Herr sie bestraft. „Da Jesus ihre Gedanken sah, sprach er: „Warum denkt ihr so Arges in euren Herzen?" Wohl uns, wenn wir uns über alle Gedanken, die nicht aus Gott sind, strafen lassen, damit wir vor Schlimmerem bewahrt bleiben, und der Herr richtend, strafend, ausscheidend, lösend, wie mit einem zweischneidigen Schwert immer tiefer einschneidend, hineindringen kann in die Quellen unseres Lebens, unserer Gedanken- und Phantasiewelt, alles unter seine Zucht stellend, alles unter seiner Zucht bewahrend und unter der lösenden Macht seiner Gnade. „Und da Jesus ihre Gedanken sah, sprach er weiter: „Was ist leichter, zu sagen: — dir sind deine Sünden vergeben — oder zu sagen: stehe auf und wandle? Damit ihr aber sehet, daß des Menschen Sohn Macht hat auf Erden, Sünden zu vergeben, sprach er zu dem Gichtbrüchigen: Stehe auf und wandle!" Ein Gebot des Herrn hat lösende Macht. Wir dürfen nie sagen: wir können seine Gebote nicht erfüllen. Das ist Unglaube. Nein, in eigener Kraft können wir sie allerdings nicht erfüllen, aber auf neutestamentlichem Boden dürfen wir damit rechnen, daß der Herr nie etwas verlangt, was er nicht auch selbst durch seinen Geist schaffte, wenn wir bereit sind, seine Werkzeuge zu werden und nicht bei unseren Bedenken und Einwenden stehen bleiben. Wenn der Herr einmal geredet hat, dürfen wir niemand und nichts das Wort geben und nichts anderes mehr in die Waagschale werfen. Dann wendet er sich an den Gichtbrüchigen und sagt zu ihm: „Steh auf ..." — und er stand auf und ging heim. Als es aber die Leute sahen, verwunderten sie sich und priesen Gott . . ." Sie priesen nicht Jesum, sondern sie sahen die Hand ihres Gottes in dem, was Jesus tat. Der Herr Jesus war eine Offenbarung Gottes. Durch ihn hat Gott wieder geredet und gewirkt, und durch ihn ist er den Menschen wieder nahegetreten. „Ich kann nichts aus mir selbst tun", sagt unser Heiland. „Was ich sehe den Vater tun, das tut gleich also der Sohn . . ." So gaben die Gottesfürchtigen dann auch Gott die Ehre. „Sie priesen ihren Gott . . ." Von da weg hat der Herr Jesus eine ganz neue fruchtbare Bewegung, die für den Schreiber des Evangeliums eine besonders durchgreifende Bedeutung hatte und ihn in die Nachfolge Jesu stellte. Er war ein Zöllner, und der Herr, der ihn da am Zolle sitzen sah, hat offenbar vom Vater den Wink bekommen, daß er ihm diesen Zöllner zum Jünger geben wollte,, da sagte er zu ihm: „Folge mir nach!" „Und er stand auf und folgte ihm nach", ließ alles liegen und stehen. Und es begab sich, als er dann bei Matthäus einkehrte, da kamen viele Zöllner und Sünder, die von den Pharisäern verworfenen Leute, und saßen mit Jesu und seinen Jüngern zu Tische. Wo Jesus zu Tische sitzt, da kann niemand wehren, ihm zu nahen. Wir können Jesum nie für uns allein in Beschlag nehmen. Er hat Raum für alle — und das jetzt noch ganz anders als damals — jetzt, nachdem er sagen kann: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden —" und: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende." Aber den Pharisäern ging das zu weit, darum erhoben sie ihre Anklage. „Warum iffet euer Meister mit den Zöllnern und Sündern", fragen sie die Jünger. Der Herr läßt die Jünger nicht antworten. Er hat die Frage gehört und antwortet nun selbst mit dem einfachen Worte: „Die Gesunden, die Starken, bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken." Mit anderen Worten sagt er: Wenn ihr Pharisäer euch für stark haltet, so laßt mir doch freie Hand, den armen Kranken und Gebundenen zu Hilfe zu kommen. „Lernet, was in dem Worte liegt: Ich will Barmherzigkeit und nicht Opfer . . ." Sie waren ja sehr gewissenhaft im äußeren Opferdienst, aber der Herr verlangt Barmherzigkeit, Barmherzigkeit mit den Verlorenen, mit den Sündern; denn er ist gekommen, nicht Pharisäer zur Buße zu rufen, sondern Sünder — und je tiefer wir uns unserer Schlechtigkeit, unseres natürlichen Verderbens bewußt sind, je tiefer wir fühlen, daß nichts Gutes in uns ist, desto freiere Hand hat der Herr, uns zu segnen und seine Gnade an uns zu offenbaren. Wir müssen zu Sündern werden, ehe wir Heilige und Begnadigte werden können. Und nun — nach den Pharisäern, denen der Herr den Mund gestopft hat, kommen die Jünger des Johannes. Da kann man sich ja wohl fragen: Warum sind sie nicht mitsamt Johannes zuerst in Jesu Nachfolge getreten, wenn Johannes das heilige Vorrecht hatte, Jesu Bahn zu brechen? Johannes sollte Platz machen einem Apostel Johannes. O, wie wichtig ist es, daß man hier unten seine Aufgabe erfüllt, und wie wichtig, daß man zurücktreten und anderen Raum machen kann! Wir sind nie unentbehrlich. Der Herr kann auch andere brauchen. Wohl uns, wenn wir treu sind in dem, was er uns anvertraut! denn es kommt die Nacht, wo niemand wirken kann. „Können die Hochzeitsleute fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist? Niemand aber fasset Most in alte Schläuche . . Der Herr hat mit seinem Erscheinen eine neue Welt und eine neue Zeit eingeführt, die ihre eigenen Gesetze hat, wo manches Alte dann nicht mehr gilt. Es hat seine endgültige Erfüllung in der Menschwerdung des Sohnes Gottes erhalten, in seinem Gehorsamsdienft, in seinem Leben, Leiden und Sterben, seinem Auferstehen und seiner Himmelfahrt. Er hat dem Geiste Raum gemacht, der ihn nun verklärt und die Welt, so weit sie sich von ihm erreichen läßt, ihm entgegenführt.