Ihr Sieg über die Sünde „Denn die Sünde wird nicht herrschen können über euch; weil ihr nicht unter dem Gesetz seid sondern unter der Gnade.“ (Röm 6,14)
Unter Gnade versteht die Heilige Schrift die unverdiente Liebe Gottes, wie sie durch das Werk des Sohnes und durch das Werk des Geistes in die Stellung und in das Leben des Sünders eingreift. Der Sohn Gottes hat uns damit, dass Er unsere Sünden trug, von der Strafe und der Macht von der Sünde befreit, mit unserem Gott versöhnt und wieder verbunden. Der Geist Gottes schließt uns im Worte das Werk des Sohnes auf und macht uns desselben teilhaftig.
Wenn der Stand unter der Gnade und der Stand unter dem Gesetz in der oben angeführten Stelle einander gegenüber stehen, so ist dabei unter Gnade nicht bloß die Vergebung der Sünden zu verstehen, die sie uns bringt, sondern es ist die Gnade als Macht ins Auge gefasst, die das Leben Christi in uns ausgestaltet.
Um im wahren und vollen Sinne des Wortes unter der Gnade zu stehen, genügt es nicht, das Versöhnungswerk Christi durch den Heiligen Geist erfasst zu haben, der Vergebung seiner Sünden und seiner Gotteskindschaft versichert zu sein. Es gehört dazu, dass wir uns der Unterweisung des Geistes nun auch in vollem Gehorsam ausliefern, Ihn unbeschränkt in uns regieren und die Fülle seiner Wirkungen in uns bestätigen lassen. Es gehört dazu, dass wir in Jesus bleiben.
Offenbar, wie der Apostel es ausspricht, kann die Sünde über Christen nicht mehr herrschen, die in dieser Stellung sind.
Die Sünde ist wohl noch in ihnen und bleibt in ihnen, aber sie selbst sind daraus entrückt. Der Heilige Geist hat den Mittelpunkt ihres Lebens und Seins, Ihres Denkens, Liebens und Wollens in Jesus Christus verpflanzt; Er hat sie mit Christus zusammen geschlossen, wie Reben an dem Weinstock. Sie leben wohl noch, ja mehr denn je, oder viel mehr sie leben jetzt erst, aber nicht mehr ihres eigenen Lebens. Alle ihre Erinnerungen und Hoffnungen, all ihr Leben in Freud und Leid, in Ruhe und Arbeit schöpfen sie nicht mehr aus ihrem eigenen, verdorbenen Grunde. Christi Liebesgedanken, seine Interessen und Leiden machen jetzt ihr Leben aus. Christus ist es, der in ihnen lebt und alles wirken will.
Unter der Gnade leben, im Gegensatz zum Leben unter dem Gesetz, heißt nicht mehr selber leben (Gal 2,19-20); nicht mehr für sich selbst leben (2Kor 5,15).
Christen, die im Laufe ihrer Pilgerschaft die Sünde unter stets erneuerten Formen in ihrem Herzen auftreten sehen, machen diese Erfahrung nur, solange sie nicht im vollem Sinne unter der Gnade stehen, nur da wo sie unter das Gesetz zurückfallen, indem sie in sich selbst leben. Nicht als ob der Geist Gottes nicht in ihnen wäre; Er ist es ja, der sie ihre Sünden erkennen lässt; aber dass diese überhaupt vorkommen, hat darin seinen Grund, dass sie sich noch in sich selbst bewegen, sich mit sich selbst abgeben. Sie bleiben nicht unverwandt unter dem Schatten der Gnade, ihrem eigenen Selbst entfremdet und von demselben geschieden. Sie bleiben nicht dabei, sich der Sünde für abgestorben zu halten und darum kann sie der Geist Gottes zu keinem steten Wohnen, zu keinem Bleiben in Jesus bringen.
Wenn wir unter der Gnade bleiben und nach dem Geiste wandeln, ist es unmöglich, dass wir der Sünde erliegen; selbst die inneren Kundgebungen der Sünde hören dann schließlich auf. Wenn Schwierigkeiten, Versuchungen, Leiden an uns herantreten, so finden sie uns in Christus verschanzt, mit seiner Kraft angetan, in ein Leben eingehüllt, mit Ihm zu einem Geiste verbunden; sie können nicht die Oberhand gewinnen, weil sie in uns auf Christus stoßen. Eine Sünde in Wort oder Tat, oder geheimen Regung setzt immer eine Lockerung, eine, wenn auch nur augenblickliche Unterbrechung unserer Beziehungen zu Christus voraus.
Um uns eine Niederlage beibringen zu können, muss der Feind erst dazu gelangen, uns aus unserem Bergungsort, aus unseren festen Stellung in Christus herauslocken. Diese Stellung ist uneinnehmbar; wer noch einwilligt, sie zu verlassen, begeht eine unverantwortliche Torheit.
Wer sich unter das Gesetz stellt, stellt sich unter das erdrückende „du sollst, du musst“; er erschöpft sich in Anstrengungen, die nicht nur vergeblich sind, sondern die Sünde reizen und vermehren (Röm 5,20). Unter der Gnade ist das „du sollst“ unbekannt. Das Herz mit all seinen Trieben ruht in Gottes Willen, als dem guten, angenehmen und vollkommenen, ohne zu fragen, wie er ihm erscheint, angenehm oder unangenehm, leicht oder schwer, möglich oder unmöglich. Wer unter der Gnade steht, stützt sich auf dieselbe mit unbedingtem Vertrauen und spricht dem Willen Gottes gegenüber jederzeit und von ganzem Herzen: „Ich will, Herr und ich preise dich, dass ich kann. Ich kann, weil du Kraft gibst zu allem, was du verlangst, weil Du wollen und vollbringen selber in mir wirkst.“
Er stützt sich auf die Gnade und auf die Gnade allein für das scheinbar Leichteste und Einfachste so gut als für das scheinbar Unmöglichste. Wer unter der Gnade steht, geht vorwärts, in Christus geborgen und in Christus gehüllt; den Willen und die Kraft seines Gottes allem entgegen setzend, was ihm begegnet. Er hat Zuversicht und Freudigkeit, weil ein Hirte, der alle Hindernisse wegräumt (Micha 2,13), siegreich vor ihm hergeht oder gar ihn trägt.
Man sieht, wie weit die Gnade entfernt ist, die Sünde in uns zu begünstigen (Röm 6,15) und wie im Gegenteil unter der Gnade das Sündigen notwendig aufhört. Wer unter der Gnade lebt, der wohnt im Schatten des Allmächtigen und ist damit dem Bereich der Sünde entrückt.
Der Stand unter dem Gesetz und der Stand unter der Gnade stehen einander gegenüber, wie Fleisch und Geist (Joh 3,6). Sei es, dass wir das Leben unter der Gnade noch nie gekostet, sei es, dass wir wieder unter das Gesetz zurückgefallen seien: Niemals werden uns unsere Bemühungen und Anstrengungen aus dem Reiche des Gesetzes in das Reich der Gnade bringen. Es gibt keinen menschlichen Weg und keine menschliche Brücke, die von einem zum anderen führen würde. Die Gnade wäre nicht mehr Gnade, wenn man dazu anders gelangen könnte als durch das unmittelbare und unverdiente Eingreifen Gottes.
Hiermit treten wir den Schwerpunkt unseres Gegenstandes nahe und der Lösung, wie sie uns namentlich in Röm 8,1-4 gegeben ist. Die lutherische Übersetzung bedarf an dieser Stelle eine Berichtigung: Wir übersetzen: „Gott sandte seinen Sohn in Ähnlichkeit des Fleisches der Sünde und um der Sünde willen und verdammte die Sünde im Fleisch. Was der Mensch nicht vermochte, was dem Gesetz unserem sündlichen Fleisch gegenüber unmöglich war, das hat Gott auf sich genommen und zustande gebracht. Er hat seinem Sohn mit einem unserem sündlichem ähnlichen Fleische angetan und indem Er Ihn für unsere Sünde dahin gab, hat er dieselben im Fleische Christi gerichtet und abgetan. Der sterbende Christus hat das Gesetz der Sünde, das uns gefangen hielt, mit in sein Grab genommen; der Auferstandene hat ein Gesetz der Gnade und der Freiheit aufgerichtet für alle Gebundenen dieser Welt.
Wer uns in dieses neue Gesetz einführt, das ist der Heilige Geist in eigener Person. Seit Pfingsten begleitet sein Walten unzertrennlich jede Botschaft der Versöhnung, die im Namen Christi und im Glauben an Ihn verkündet wird. Dieser Geist zeigt uns unser Verdammungsurteil, dass dort über das Fleisch, über alles menschliche Leben Tun oder Bemühen ausgesprochen und vollzogen wurde. Aber in gleichen Urteil, so wir es nur im Glauben unterzeichnen, verkündigt uns der Heilige Geist unsere Lossprechung und unsere Loslösung; unsere Lossprechung von aller Schuld, unsere Vergebung, unsere Erlösung von aller Macht der Sünde, sofern wir nicht mehr gehalten und verurteilt sein können, in Sünde zu leben oder Sünde zu tun, nachdem die Sünde in Christi Fleisch abgeurteilt, verdammt worden ist. Aber unterschreiben müssen wir das Urteil; wir müssen uns selbst verurteilen, Gott beipflichten, Ihm Recht geben. Indem wir dies tun, öffnen wir dem Heiligen Geist den Weg, dass er Besitz von uns ergreifen, uns mit Jesus Christus verbinden und seines Lebens teilhaftig machen kann. Gott Recht geben, ist aber nichts anderes als „glauben“.
Dies führt uns auf den Glauben und zeigt uns zu gleicher Zeit, was der Glaube ist. Ist unsere Erlösung ganz und gar das Werk Gottes, so kann der Glaube nur darin bestehen, dass wir dies Werk anerkennen, d.h. das von Gott an uns in der Person Jesu Christi vollzogene Todesurteil sowohl als den in Christus uns gebotenen Gnadenbund unterzeichnen. Der Glaube ist die Hand, mit der wir Gottes Gabe, alles, was Er im Werke und in der Person Jesu Christi uns bietet, ergreifen.
Fassen wir den Glauben in seiner ersten Bestätigung, d.h. dem Opfer gegenüber, das Christus für uns gebracht und durch das Gott uns von aller Strafe und Macht der Sünde befreit, uns gerechtfertigt und geheiligt hat (Jes 53,5; Heb 10,10), so finden wir in der Heiligen Schrift den Glauben entgegen gesetzt den Werken (Röm 4,5). In der Rechtfertigung und Heiligung durch den Glauben bietet uns die Schrift ein vollendetes Heil, vollkommen unverdient und an keinerlei Bedingung von unserer Seite geknüpft, so dass wir nichts mehr zu tun haben, als dasselbe anzunehmen, so wie wir sind. Darin liegt, das wir, um zu unserer Begnadigung und Erlösung zu gelangen, nicht erst einen kürzeren oder längeren Weg zurück zu legen haben, dass wir uns hierfür in keiner Weise erst abarbeiten und vorzubereiten, in Herz und Wandel und nicht erst etwas zurecht zu bringen haben.
Wir leugnen nur, dass der Sünder von sich aus irgend etwas zu tun habe, um sich auf das ihm von Christus erworbene Heil vorzubereiten. Etwas anderes ist die Art und Weise, wie Gott in unserem Herzen und Leben den Augenblick anbahnt, wo es Ihm gefällt, uns sein Heil zu offenbaren. Das ganze Leben des Sünders ist von der Wiege an darauf angelegt, seine Begegnung mit Christus vorzubereiten.
Lehrt uns die Schrift, dass wir selig werden durch den Glauben, so will das nichts anderes sagen, als das wir den Heiland einlassen sollen im Augenblick, wo er anklopft (Lk 19,5-6 / Off 3,20) und Ihn nicht vor der Türe warten lassen unter dem vermessenen Vorgeben, Ihm erst die Stätte bereiten zu wollen. Ist er erst ins Haus eingetreten, so wird er dafür sorgen, dass hinauskommt, was sich mit Seiner Gegenwart nicht verträgt. Er allein hat Macht, Tempel, Herzen und Häuser zu reinigen (Lk 19,8-9).
Und die Reue oder Busse? Was Luther mit Reue (2Kor 7,9-10) oder mit Busse übersetzt, bedeutet im Grundtext Sinnesänderung. Die Sinnesänderung, die Johannes der Täufer, die Christus und Seine Apostel (Mk 1,4+15) / Apg 2,38) und die heute noch die Boten des Herrn predigen, ist im Grunde nichts anderes als die negative Seite des Glaubens, seine Grundlage und notwendige Voraussetzung; sie hat überall stattgefunden, wo Glauben ist. Sie besteht nicht in irgend welchen inneren Erfahrungen, die man erst durchmachen müsste, ehe man Christus im Glauben erfasst, sondern im Heraustreten aus der Stellung der Entfremdung, der Gleichgültigkeit oder Feindschaft, in der der natürliche Mensch seinem Gott und dem Werke göttlicher Gnade gegenüber sich befindet; im Anerkennen seiner Erlösungsbedürftigkeit, sowie seiner Unfähigkeit, sich selbst zu erlösen. Beruht der Glaube in einem Wieder-in-Verbindung-treten mit Gott durch Christus in einem sich wenden zu Gott mit dem Verlangen nach Hilfe, nach Vergebung und Erlösung, so besteht die Sinnesänderung in einem sich-abwenden von allem, worin man bis dahin Hilfe und Erlösung, worin man sein Leben gesucht hat. Sie ist ein im Herzen sich vollziehender Bruch mit der Vergangenheit, mit der Sünde und Welt, mit dem eigenen Willen und dem eigenen Leben.
Ein Bruch vollzieht sich nicht ohne Schmerz, aber von Schmerz über Sünde oder Sünden ist Sinnesänderung nicht notwendig begleitet; sie besteht nicht in dem, was man im deutschen unter „Busse“ versteht. Der Schmerz über die Sünde kann dem Glauben nachfolgen. Manches Kind Gottes hat denselben erst jahrelang nach seiner Bekehrung erfahren. Eines wirklich göttlichen Schmerzens über die Sünde, einer wirklich lauteren und reinen Busse sind überhaupt nur Kinder Gottes fähig, im Maß als sie ihrem Vater näher kommen und Ihn in seiner Heiligkeit und Liebe kennen zu lernen.
Zweitens finden wir in der Schrift den Glauben entgegen gesetzt dem Schauen und zwar ohne Unterschied, ob vom Glauben, durch den wir Kinder Gottes werden, die Rede sei (Röm 4,17 - 5,1) oder vom Glauben als dem Sieg, durch den das Kind Gottes die Welt überwunden hat (1Joh 5,4) und der sich in Werken der Liebe betätigt (Gal 5,6).
Wer glaubt sieht nicht auf das, was vor Augen ist, auf die Heimat, und Vergangenheit, von der er sich trennen muss: Er baut auf seinen Gott der ihm ein besseres Land und eine bessere Zukunft verheißen hat und macht sich auf den Weg ohne zu wissen wohin. Er spürt in sich keinerlei Kraft, um sich unter das im Fleische Christi über ihn ausgesprochene Todesurteil zu stellen, keinerlei Kraft, um mit seinem früheren Leben zu brechen und seine Götzen zu opfern, um sich loszureißen von allem, was ihm hier unten lieb und teuer war. Er fühlt sich gebunden und ohnmächtig. Alles, was er an sich und um sich her wahrnimmt, steht der Verwirklichung der ihm von Gott gegebenen Verheißungen entgegen, ja macht dieselben für menschliches Ermessen unmöglich (Röm 4,17-24). Trotzdem traut er seinem Gott, dem starken und wahrhaftigen Gott, der sein Wort nicht brechen kann, der die Toten lebendig macht und den was nicht ist, ruft, dass es sei.
Wer glaubt sieht ab von seinen Stimmungen und Erfahrungen, er kümmert weder um seinen Gemütszustand noch um die Schwierigkeiten des Weges; mit einem Gotteswort in der Hand geht er vorwärts, ohne etwas zu fühlen oder zu sehen, ohne Vertrauen oder Glauben in sich zu suchen. Der Glaube ist nicht etwas Greifbares, ein Grund und Boden, auf dem wir fußen könnten. Er ist vielmehr eine Stellung vertrauenden Harrens und Hingebens an Gott, der gesagt hat: „Ich will ihr abtreten heilen.“ (Hos 14,5) und: „Ich bin der Herr, der euch heiligt“ 2Mo 31,13). Der einzige Grund und Boden, auf dem wir festen Fuß fassen könnten, ist das Werk Christi, die Treue eines lebendigen, mächtigen Hirten, die Verheißung unseres Vaters, der uns zugesicherte Beistand des Vaters des Heiligen Geistes. Aber dieser Grund und Boden ist dem Auge verborgen und wer ihn betritt, dem ist es oft, als ob er seinen Fuß in den leeren Raum setzte. Dies ist Glauben. Der Glaube gibt sich nicht Rechenschaft von sich selbst, er gibt sich nicht mit sich selbst ab, er hat es lediglich mit der Natur und den Wesen des Gegenstandes zu tun, auf den er gerichtet ist. Vom Augenblick an, wo der Gläubige sich selbst und seinen Glauben anschaut, lässt er eben damit nach, zu glauben.
Wir verkennen nicht, dass die Laufbahn des Christen eine Laufbahn des Leidens, der Arbeit und des Kampfes ist. Wenn man, wie es beim Christen der Fall ist, in Feindesland sich bewegt und auf seinem Weg nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit unsichtbaren und gewaltigen Mächten zu kämpfen hat, wenn man widrigen Winden ausgesetzt ist und Einflüsse, die alle darauf hinzielen, unseren Blick von Christus abzuziehen, so muss man stumm, blind und taub bleiben gegenüber von allem, was unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen will. Dies geschieht aber in gewissen Augenblicken nur mit Zusammenraffung aller geistlicher Kraft. Es braucht unerschütterliche Festigkeit, Kampfesstellungen volle Waffenrüstung, um den geraden Weg weiter zu gehen, wenn man nichts mehr sieht und nichts mehr fühlt, nichts mehr unterscheiden und nichts mehr verstehen kann; wenn der Herr, wie er es früher oder später mit allen seinen Kindern tut, uns auf nackten Glauben verweist.. Ist aber unser Kampf ein Glaubenskampf, d.h. kämpfen wir nicht in eigener Kraft und Anstrengung, sondern in der Kraft, die wir vom Herrn uns schenken lassen, so haben wir dabei ungestörten Frieden und volle Ruhe.
Sind wir einmal des Herrn, (abhängig von Ihm, wie Schafe vom Hirten), so sind wir versichert, dass durch Seine Gnade uns keine Versuchung mehr betreten kann, die über unsere Kräfte ginge; wir wissen, dass der Herr seine Hilfe je nach der Versuchung und nach unserem geistlichen Alter bemessen und die Versuchung einen solchen Verlauf nehmen wird, dass wir sie ertragen und überwinden können (1Kor 10,13). Mögen wir es mit inneren oder äußeren Versuchungen, mit Leiden, Schwierigkeiten oder Pflichten zu tun haben, wir wissen, dass jederzeit auf einen treuen und barmherzigen Hohenpriester rechnen können, der daran gedenkt, was wir für ein Gebilde sind und der mit unseren Schwächen Geduld und Mitleid hat. Wenn die Wogen der Versuchung auf uns eindringen, so lassen wir uns nicht erschrecken, sondern halten uns nur umso fester an die Verheißungen des Herrn uns an den Herrn selbst, gewiss, dass uns keine Versuchung etwas anhaben kann, solange wir unseren Blick nicht vom Herrn abziehen lassen. Jede Glaubensprobe bringt uns dann eine Erfahrung mehr und von der Treue und Macht unseres Gottes, macht uns fester in unserer Ruhe und unserem Frieden.
Um in unserem Glaubensgang fest und gewiss zu werden, ist wesentlich, dass wir treu zeugen. Der Glaube hat das Bedürfnis sich auszusprechen; er treibt zu einem Zeugnis in der einen oder anderen Form. „Ich glaube, darum rede ich“, sagt der Psalmist (Ps 116,10). „so man mit dem Herzen glaubt, so wird man gerecht und so man mit dem Munde bekennt, so wird man selig“, sagt der Apostel (Röm 10,10); siehe auch Vers 9 und Off 12,11). Wo man im Glauben etwas erfasst, da handelt es sich darum, sofort eine Stellung einzunehmen, durch die man sich jeden Rückweg abschneidet und jede Hintertür verschließt. Wer vor dem Zeugnis zurückschreckt, beweist eben dadurch, dass er noch nicht alles Misstrauen gegen Gott abgelegt hat. Der Gerechte lebt des Glaubens, solange er in dieser Welt ist. Der Glaube wird jetzt schon zum Schauen, sofern wir stets die Erfahrung machen dürfen, von dem, was wir geglaubt haben. Aber jede Erfahrung ist wieder eine Ausrüstung für neue und höhere Glaubensproben und wir wandeln so von Glauben zu Glauben.
Je mehr wir auf diesem wunderbaren Pfade vorwärts gehen, desto gewisser werden unsere Tritte. Die Gnade Gottes wird eine Macht, die uns trägt und uns umhüllt. Der Geist Gottes treibt die, die sich ihrem Gott völlig überlassen; sie brauchen sich nicht mehr selbst zu treiben und abzuquälen. Fortwährend auf Christus zu blicken, kostet sie keine Anstrengung mehr; sie können und wissen es nicht mehr anders; sie möchten keinen Schritt mehr tun ohne Ihn.
In dem Kindesverhältnis, in dem sie mit Ihrem Gott jetzt leben, wird ihnen Vertrauen, ein unbedingtes und unbegrenztes Vertrauen, zur zweiten Natur und zu einer bleibenden Herzensstellung. Die Liebe hat Furcht und Zwang ausgetrieben.
Wer den Glaubensweg nicht aus Erfahrung kennt, dem mag es scheinen, als verzeichneten wir mit der gänzlichen Übergabe unseres Herzens und Willens an den Herrn auf unsere Eigentümlichkeit, auf die Würde und Stellung, die uns als einer verantwortlichen, sittlichen Persönlichkeit vor Gott und Menschen zukommt. Es mag scheinen, als erniedrigten wir uns dadurch zu einer Maschine, In Wahrheit verhält es sich aber genau umgekehrt. Dadurch, dass wir uns unserem Gott mit unbedingtem Vertrauen überlassen, wird unser sittliches Wesen, werden alle Kräfte unserer Erkenntnis, Liebens und Wollens erst von dem beengenden und knechtenden Druck erlöst, unter dem die Sünde sie gehalten hatte. Mit dem Eintritt in ein Leben des Glaubens bekommen wir wieder die frische Himmelsluft zu atmen, für die wir geschaffen sind und ohne die keine gesunde, unserer Bestimmung entsprechende Entwicklung möglich ist. Die Gnade, unter deren heilsame, sicheren Unterweisung wir mit dem glauben uns stellen, ist der heimatliche Boden, auf dem unsere, durch die Sünde unterdrückte und entstellte Eigentümlichkeit neu aufblühen und im Rahmen der ihr entsprechenden Lebensaufgabe frei sich entfalten kann.
Der Glaube ist eine Gabe Gottes (Phil 1,29), so gut wie die Bekehrung (2Tim 2,25). Wer sie besitzt - diese Gabe - besitzt sie als eine freie unverdiente Gnade, die Gott ihm geschenkt hat. Der Heilige Geist wirkt den Glauben, indem er das Herz für die Predigt des Evangeliums aufschließt (Apg 16,14 / Röm 10,14-17). Er wirkt ihn aber da, wo Aufrichtigkeit und Liebe zur Wahrheit ist (Joh 12,32 / 8,46-47 / 18.37 / 2Thes 2,10).
Der Glaube ist uns darum auch in der Heiligen Schrift in den bestimmten Worten geboten (Mk 1,15 /11,22 / Joh 12,36 / Apg 16,31 / 1Joh 3,23). Wer diesem Gebot Gehorsam verweigert, der misstraut Gott und seinem Zeugnis, der macht Ihn zum Lügner und begeht ein Verbrechen (1Joh 5,10).