„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, denn mit
welcherlei Gericht ihr richtet, werdet ihr gerichtet werden." Ich denke,
um diesem Gebot, so wie es in den sechs Versen dieses Kapitels enthalten
ist, nachkommen zu können, müssen wir innerlich in einer Stellung der
Liebe zum Bruder und zur Schwester stehen, nicht aber in einer Stellung
des Richtens. Es muß uns darum zu tun sein, dem Bruder und der
Schwester, wenn wir ein allgemeines Sprichwort gebrauchen wollen, „nicht
den Kopf, sondern die Füße zu waschen." Um jemand die Füße zu waschen,
muß man sich bücken, den Kopf kann man einem andern von oben herab
waschen; mit einem Worte also: es muß jemand demütige Liebe haben, die
sich herunterläßt. Wenn wir beim Bruder oder der Schwester etwas sehen,
was nicht in Ordnung ist, so gehen wir nicht sofort auf den andern los,
sondern wir besprechen es mit Gott, damit er uns die rechte Art und
Weise schenke, wie wir uns dem Bruder oder der Schwester nahen sollen —
wie wir ihnen nahekommen können, ohne sie zurückzustoßen. In
Vers 7—11 handeln nun vom Gebet. „Bittet, so wird euch gegeben...." Wir werden schon im gewöhnlichen Leben andere, die bei uns anklopfen, nicht ohne weiteres abweisen, wenn wir hierzu nicht einen bestimmten Grund haben, sondern wir werden, wenn möglich, einem Bittenden mit irgendeiner Handreichung entsprechen. Wieviel mehr wird unser Vater im Himmel dem Bittenden geben — vielleicht nicht gerade das, worum er bittet, aber doch jedenfalls sein tägliches Brot; denn das liegt schon im Vaterunser. Zuweilen wird er ihm gerade dadurch zu Hilfe kommen, daß er ihn etwas warten läßt, oder er gibt ihm Wichtigeres als das, worum er gebeten hat. Gott kennt uns ja und tut über Bitten und Verstehen. Soviel ist aber gewiß, daß er niemand ohne weiteres abweist. Jeder Bittende empfängt, jeder Suchende findet. Er muß nur hie und da zuerst auf die Probe gestellt werden, ob ihm daran liegt, um jeden Preis erhört zu werden, oder ob die Bitten nur flüchtiger Art sind, so daß man bald nachläßt. Jedem Anklopfenden wird aufgetan. Schriebe man das über ein reiches Haus, einen Palast oder dergleichen, so kämen da wohl beständig Anklopfende, Bittende, Suchende an die Türe; aber wie bald wären die Vorräte auch des reichsten Herrn der Welt erschöpft, wenn er jedermann geben wollte! Gottes Schätze sind unerschöpflich, und wenn er mir noch so viel gibt, ist sein Vermögen, allen zu helfen, in keiner Weise angetastet. Da ist unergründlicher Reichtum von Gnade, Heil, Hilfe und Rettung. Es ist daher wohl der Mühe wert, daß wir vor solchen Worten stehen bleiben und uns freuen, einen so großen Gott und Vater zu haben. Schon ein irdischer Vater gibt seinem Sohne Brot, solange er Brot hat, und gibt ihm nicht etwa eine Schlange. Er gibt ihm, was er nötig hat, und würde eher selber Hunger leiden, als daß er seinen Sohn hungern ließe, ohne ihm Handreichung zu tun. „Wenn nun ihr, die ihr arg seid von Natur, versteht, euren Kindern gute Gaben zu geben, wieviel mehr wird euer Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten." Und was ist das höchste Gut? In einer andern Stelle heißt es: „Wieviel mehr wird er heiligen Geist geben denen, die ihn bitten?" Er gibt das höchste Gut, das dann der Schlüffe! für alles andere wird. „Er, der seines eingebornen Sohnes nicht verschont hat, wird er uns mit ihm nicht alles schenken?" Wird er uns mit ihm nicht alles geben, was uns not tut? Und da ist das erste: die Gabe des heiligen Geistes, und damit alles, was notwendig ist für unser inneres und äußeres Leben und für alle unsere Lebensbeziehungen. Und nun der Schluß der Bergpredigt, Vers 12—23. „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen gleich also, denn das ist das Gesetz und die Propheten." Der natürliche Mensch macht Ansprüche an die andern. Inwieweit sie gerecht sind, ist eine andere Frage. Er beschäftigt sich damit, was andere ihm schuldig sind. Der Geistesmensch fragt sich, was er andern schuldig ist, wie e r Gesetz und Evangelium erfüllen kann im Geiste Christi, der sich selbst erniedrigt hat bis zum Tode am Kreuze, um uns den Himmel zu öffnen, um uns den heiligen Geist geben zu können, wie er Pfingsten ausgegsfsen worden ist. „Gehet ein durch die enge Pforte; denn die Pforte ist eng, und der Weg ist schmal, der zum Leben führt...Die Pforte ist so eng, daß man nichts mit hineinnehmen kann — und der Weg ist so schmal, daß man alles draußen lassen muß. Man muß sein Leben hergeben, um ein anderes Leben zu gewinnen. „Wenige sind, die ihn finden." Warum wenige? Weil wenige sich entschließen können, allem zu entsagen, ihr eigenes Leben zu lassen, um sich in die Nachfolge des Lammes Gottes, ihres Herrn und Heilandes, zu stellen. „Hütet euch vor den falschen Propheten, welche zu euch kommen in Schafskleidern — inwendig aber sind sie reißende Wölfe." Gerade dadurch, daß solche Leute einem den Weg leicht machen, verkehren wollen, werden sie reißende Wölfe. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen." „Sammelt man auch also bringt ein jeder guter Baum gute Früchte... Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen", — es ist gegen seine Natur — „und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen" — es ist gegen seine Natur. Aus dem Faulen wächst nichts Gutes heraus. „Ein jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen...." Darum sollt ihr euch nicht irreführen lassen. „Es wird nicht jeder, der da sagt: Herr, Herr, ins Himmelreich kommen, sondern der da tut den Willen meines Vaters im Himmel." Das ist nicht entscheidend, daß man Herr sagt, — wie manches Kind Gottes sagt sogar noch: „Ach Gott", ohne an Gott zu denken. Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich nennen — damit verschließest du dir die Türe des Himmelreichs. Um sie zu öffnen, ü tu Buße und tue den Willen deines Vaters im Himmel. Viele werden sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen ...Es kommt also nicht auf das äußere Tun oder gar auf das Weissagen und Teufelaustreiben an, sondern auf das Tun des Willens Gottes, ihm zu dienen nach seinem Willen in aller Verborgenheit.