Otto Stockmayer
Schriften von Otto Stockmayer
Mt 6,24-34 Röm 8,28-38 - Das MustergebetMt 6,24-34 Röm 8,28-38 - Das Mustergebet
Ach möchte mit euch beim Gebete unsers Herrn stehen bleiben — bei dem Gebete, das er uns gelehrt hat als Antwort auf die Bitte seiner Jünger, er möge sie beten lehren. Dieses Gebet war ja sicherlich nicht nur für die Jünger der damaligen Zeit, sondern es ist ein Gebet für die Gemeinde des Herrn, an dem alle unsere Gebet sich messen und nach dem sie sich richten sollen, ein Mustergebet, der Grundriß für alle unsere Gebete. Da ist gleich der Anfang, bei dem wir heute stehen bleiben wollen, von unerschöpflichem Reichtum. „Unser Vater, der du bist in den Himmeln." Unser Vater. Ich weiß nicht, ob wir alle unsern irdischen Vater gekannt haben. Manche Kinder werden ja frühzeitig Waisen, aber ein Kind, das seinen Vater gekannt hat, vergißt ihn wohl nie. Im allgemeinen wissen wir, was wir an unserm Vater gehabt haben und wissen, daß er für uns gesorgt hat, so gut er konnte. Es haben nicht alle Väter die Macht, ihren Kindern die Erziehung zu geben, die ihnen nötig ist, und ihnen zu gewähren, was ihnen für ihre Ausbildung gut wäre. Ihre Mittel sind beschränkt, aber was sie für das leibliche und geistige Wohl ihrer Kinder tun können, tun sie. Kein irdischer Vater aber hat je getan, was der himmlische Vater getan hat, der seines eignen Sohnes nicht verschont, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat. Alles, was er getan hatte für Israel, als er ihm die Propheten sandte und sie in die Gefangenschaft führte, um sie dadurch von der Abgötterei zu heilen — das alles hat nicht zum Ziele geführt, bis die Stunde kam, wo der Vater seinem Eingebornen winkte — er hat ihn nicht gezwungen — er hat ihn gesandt, aber er kam freiwillig. „Also hat Gott die Welt geliebet, daß er seinen eingebornen Sohn gab ...." Der seines eingebornen Sohnes nicht verschont hat, sollte er uns mit ihm nicht alles schenken — alles, was uns gut und heilsam ist für die heutige Stunde? Und wenn wir das mit Dank annehmen und recht verwerten, so kann er uns morgen mehr geben. Alles, was er heute gibt, ist ein Unterpfand von dem, was er morgen geben will. Der morgende Tag wird für das seine sorgen. Die Tage werden immer herrlicher auch bei denen, die durch Armut hindurchgehen, für alle, die dem Vater vertrauen und wissen, auch wenn er ihnen nicht alle ihre Bitten gewährt — auch wenn er manchmal sogar hart scheinen muß, so iss es dennoch Liebe und Fürsorge, und sie vertrauen ihm darum nur um so mehr. Es heißt: „Unser Vater" — nicht „mein Vater". Ja, natürlich, auch mein Vater. Er muß auch mein Vater sein, und er ist es — aber ich und wir sollen ihn nicht anrufen als „mein Vater", sondern als „unsern Vater". Das heißt, wir sollen, wenn wir vor Gott treten, der ein Herz hat für alle, nicht stehen bleiben bei unfern armseligen Nöten und Schwierigkeiten, Übungen, Druck, Bedürfnissen. Wenn wir vor Gott treten, sollen wir uns daran erinnern, daß wir nicht allein sind auf der Welt, sondern wir sollen auch die Nöte unserer Mitmenschen aufs Herz nehmen. Zunächst sollen wir an unsere eigene Familie denken. Unser Vater — das gilt im Vollsinn des Wortes nur für die Kinder der Gemeinde Jesu Christi; denn nur dadurch, daß der Herr Jesus sich geopfert hat am Kreuz, ist der Gott, von dem uns unsere Sünde geschieden hat, wieder so mit uns versöhnt und verbunden worden, daß er mehr denn je unser Vater geworden ist. Der Herr Jesus hat nicht nur den Fall wieder gut gemacht — er bringt die Abgefallnen näher zu Gott, als sie je gewesen waren. Er hat durch seine Versöhnung nicht nur das Verhältnis wiederhergestellt, in dem Israel zu ihm stand, sondern uns in ein viel engeres Verhältnis zu ihm gesetzt. Die durch das Blut Jesu Christi aus Schande und Schmutz und Gebundenheit erkaufte Gemeinde ist Christi Leib geworden, unauflöslich mit Christo, dem Haupte, verbunden, und tritt dadurch in die gleiche Stellung zu Gott wie der Sohn. Er schämt sich nicht, uns Brüder zu heißen, Kinder Gottes, Söhne Gottes, durch das Blut des neuen Bundes in Kindesftellung erhoben, in eine Stellung, in der kein Israelit war. Wenn wir uns mit den ersten Worten des Vaterunsers in die Herrlichkeit und das unerschöpfliche Vorrecht versetzen, einen Vater zu haben, dem wir alles sagen dürfen, so stellen uns diese Worte auch hinein in unsern gegliederten Zusammenhang mit der ganzen Gemeinde, daß wir die Nöte aller derer vor Gott bringen, die Glieder am gleichen Leibe sind. Wir beten: „Unser Vater in den Himmeln." So liest Elberfeld. Die Himmel der Himmel können ihn nicht fasten. Es ist nicht nur der Himmel, der sich vor unsern Augen ausbreitet, sondern es ist ein viel weiterer Horizont, als unser enger menschlicher Horizont ihn zu begreifen vermag. Der große Gott hat ein Herz für uns Erdenwürmer, und sein Himmel umspannt alles Erdenleid, alle Aufgaben und Verhältnisse eines Erdenlebens. Sie sind alle überragt von den Himmeln der Himmel, die Gott regiert, die er durchdringt und in denen ihm nichts verborgen ist. Der Wolken, Luft und Winden, der der Sternenwelt gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, du bedrücktes Gotteskind, da dein Fuß gehen kann. Mag es dir hie und da zu Mute sein, als hättest du keinen Fuß breit Landes, keinen Raum, wo du dich bergen kannst, so kann dir doch niemand den Raum streitig machen, den Gott dir gibt. Es mag dir angst und bange — ja zuweilen recht enge werden —, der in den Himmeln ist, ist dennoch dein Vater, und er beherrscht alles Gewölk, das über die Erde zieht, und alle Bedrängnisse, durch die ein Kind Gottes gehen kann, wo sie auch liegen mögen. Vielleicht liegen die Schwierigkeiten in deinem eignen Charakter. Gott hat seinen Sohn gesandt, dessen Blut die Lösemacht hat von den Schwierigkeiten, dem Hochdruck deines Charakters. Damit, daß er dir seinen Sohn gegeben hat, hat er dir Macht und Zuflucht gegeben für alle persönlichen Schwierigkeiten und Mängel deines Lebens. Es handelt sich nur darum, daß du dir klar machst, wer dein Vater ist, sonst kannst du seinen Namen nicht heiligen. Der Name ist der Inbegriff der göttlichen Vollkommenheit. Unser Vater, der du bist in den Himmeln, im Heiligtum. Ist der Vater in den Himmeln, so gehörst du in den Himmel. Die Kinder gehören ins Vaterhaus, und du heiligst deinen Vater in den Himmeln, wenn der Himmel, die Welt des Wortes Gottes, deine Heimat ist und bleibt, anstatt daß du hängen bleibst bei den Lüften der Welt, von denen sein Sohn dich losgekauft hat. Du verleugnest deinen himmlischen Vater, wenn du meinst, du müßtest durch dein Schaffen und Jagen deine Familie ernähren, deinen Aufgaben nachkommen. Du bringst es nicht fertig. Der im Himmel spottet der Spötter, und der Vater im Himmel widersteht und hält zurück seine liebende, fürsorgende Hand bei den Kindern, die meinen, sie müßten es fertig bringen dadurch, daß sie frühe aufstehen und essen ihr Brot mit Sorgen wie Leute, die keinen Vater im Himmel haben. Was ist das Vermögen des Kindes Gottes? Die Erbschaft, die wir angetreten haben, ist die, daß wir einen Vater haben, an dessen Weisheit und Durchhilfe wir appellieren dürfen. „Dein Name werde geheiligt." Und wenn man dich fragt: Wer ist denn dein Vater? so sagst du: Ich habe keinen Vater. Ist denn der Himmel, in dem unser himmlischer Vater ist, so weit weg von uns? Ja, in gewisser Beziehung wohl. Er ist weiter weg als die nächsten Sterne, die wir sehen, aber zugleich unendlich nahe denen, die den Vater anrufen in der Not, sich nicht müde arbeiten, um herauszukommen, sondern die stille harren, bis der Herr die Maschen wieder auswirrt, in die wir uns verstrickt haben — vielleicht in Schulden und Abhängigkeit — was es nun auch sei. Wir haben einen Vater im Himmel und dürfen Buße tun, wenn wir Ungeschicktes, Verkehrtes unternommen haben, anstatt daß wir meinen, nun werde er uns stecken lassen. Ja, er kann nicht immer eilen, uns Herauszuhelfen — er hat uns gewarnt, und wir sagen ja schon zu unsern Kindern: „Wer nicht hören will, der muß fühlen." Aber er gibt uns nicht mit Härte zu fühlen, sondern mit weiser, erziehender Hand, daß wir uns nicht an die Kreatur verkaufen müssen und uns durch momentane Hilfe nur neue Schwierigkeiten bereitet werden. Harre des Herrn! Er ist ein weiser Vater, zu dem wir kommen dürfen, der auch unsern Charakter und unser Temperament mit in Rechnung zieht und alles so einrichtet, daß uns gründlich geholfen wird, daß wir dabei erzogen werden und es lernen, unsere Kindesstellung nicht mehr preiszugeben, sondern alles mit unserm himmlischen Vater durchzumachen, nachdem wir durch das Blut des Sohnes in lebendige Kindesstellung zum Vater gekommen sind. Dann lernen wir heute das Vaterunser beten, wie wir es gestern nicht gekonnt haben, und die Worte gewinnen neuen Klang. Es schließen sich uns dann neue Tiefen im Vaterunser auf, und wir merken allmählich, was uns Gott mit diesem Gebet gegeben hat.