Otto Stockmayer
Schriften von Otto Stockmayer
Mt 18,5; 21-35 - Vergeben und tragen!Mt 18,5; 21-35 - Vergeben und tragen!
Wir kommen heute in der Betrachtung des Vaterunsers an die Bitte: „Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldiger«", oder wie es im Grundtext heißt: „wie wir vergeben haben unsern Schuldigern." Es ist nicht nur eine Bitte um Vergebung mit dem Vorsatz, dem Versprechen oder der Inaussichtnahme, andern auch unserseits zu vergeben, sondern etwas bereits Abgeschlossenes: „Wir haben unsern Schuldigern vergeben, vergib nun auch uns, Vater in den Himmeln." In Matthäus 18 steht das Zeitwort in der Vergangenheit, in Lukas i i dagegen in der Gegenwart. Wie viel das Vaterunser voraussetzt, wenn in der Nähe betrachtet, das sehen wir aus den ersten Bitten desselben. Soll es dem Herrn gelingen, uns aus dem Schlamm unsrer Eigenart herauszuheben, so kann er nicht anders, als uns die ganze Herrlichkeit unsrer Stellung ihm gegenüber vor Augen zu malen. Mit diesem wunderbaren Gebet, das wir von Kindheit auf kennen, dessen Tiefen wir aber nie zu erschöpfen vermögen, kleidet er uns in Prieftergewand. Das Wunderbare, das mir vor Augen schwebt, sind die drei ersten Bitten, die wir in den letzten Tagen betrachtet haben. Im Rückblick auf diese Bitten kommt uns so recht zum Bewußtsein, welchen Adel er uns damit anverlraut, daß er uns diese Bitten in den Mund legt, welche Herrlichkeitsftellung er uns damit gibt, daß er uns erlaubt, priesterlich für ihn einzutreten; Sklaven, die auf der Erde kriechen, die noch an ihren Egoismus, an ihren eignen Namen und an ihren Willen gebunden sind, denen ihr Wille noch ihr Himmelreich ist, können das nicht. Dazu kommt noch: Wenn Gott uns solche Bitten in den Mund legt, uns eine solche priesterliche Stellung anvertraut, ja, sie sogar von uns fordert, so sind für uns Kinder des neuen Bundes alle Forderungen, die uns vorher erschreckt hatten, ein Angeld für die herrliche adelige Stellung, die der Herr Jesus denen geschaffen hat, die durch die Gnade auf Bergeshöhe gestellt, in Priestergewand gekleidet sind, und deren Herzen sich öffnen für die Interessen des Vaters. Wie der Soldat Blut und Leben für den König hingibt, um wieviel mehr das Kind Gottes, wenn ihm Gott die Ehre erweist, es für sich zu wecken — das ist Bergesluft für von Gott Gezeugte. Solche können dann bitten: Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigem. Wie können wir freimütig zum Vater kommen, wenn wir etwas gegen den Bruder auf dem Herzen haben? „Und wenn du deine Gabe auf den Altar opferst und du fühlst, daß dein Bruder etwas wider dich habe, so gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder und alsdann komm und opfere deine Gabe." Gehe hin zu ihm — vielleicht hast du selbst unrecht getan und gar keinen Blick dafür gehabt, daß du ihm weh getan hast. Wir dürfen nicht riskieren müssen, daß, wenn wir unser Vaterunser beten, in irgend einem Winkel des Herzens Erinnerungen an irgend eine noch ungetilgte Schuld in uns aufwachen, oder an Dinge, die wohl vergessen, aber nicht vergeben sind. Im Matth.-Evangelium ist von Schuld die Rede, wo im Evangelium Lukas Sünde steht, aber auch im Letzteren ist nachher auch das Gebiet der Schuld noch besonders hervorgehoben. Wenn ich das sage, so ist es, damit jeder verstehe, daß man sich keiner besonderen Sünde bewußt zu sein braucht, um aus Herzensgrund die fünfte Bitte des Vaterunsers beten zu können. Im Gegenteil heißt es ausdrücklich, daß wir zuerst hingehen und uns versöhnen sollen, wenn wir etwas Besonderes auf dem Herzen haben. Dem ganzen Zusammenhänge nach ist es also das Gebet eines Kindes zum Vater — und zwar eines Kindes, das im Blute des Sohnes freien Zutritt zum Gnadenthron hat und sich sagt, wie sich der Apostel Paulus gesagt hat: „Ich bin mir zwar nichts bewußt, aber damit bin ich noch nicht gerechtfertigt." Unsere Schuld Gott gegenüber ist tiefer, als wir uns auf irgend einer Stufe unsrer Entwicklung bewußt werden. Die Augen gehen uns erst allmählich für die Größe der Sünde und die Ansprüche unsres Gottes auf und damit, daß uns unser Gewissen zur Stunde nichts vorwirft, sind wir noch nicht rein. Das Blut Jesu Christi ist nicht nur zur Vergebung unsrer Sünden geflossen, sondern damit wir durch dasselbe tiefer gereinigt werden, als wir uns felbst zur Stunde bewußt sind.
1Joh 1,7 heißt es: „So wir aber im Lichte wandeln, sowie er im Lichte ist — mehr kann man nicht sagen — so haben wir Gemeinschaft untereinander", dann trennt nichts »lehr den Bruder vom Bruder und die Schwester von der Schwester, und nur wenn das der Fall ist, wandeln wir im vollen Licht. Licht und Liebe, Finsternis und Haß sind parallele Begriffe. „So wir im Lichte wandeln, wie er im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu Christi reinigt uns von aller Sünde", also auch wenn wir im Lichte wandeln, bedürfen wir der fortwährenden Reinigung des Blutes, auch wo unser Gewissen uns nichts Besonderes vorwirft — da ist dann im Blute Raum für eine kindliche Anbetung dem Vater gegenüber. Nur dort ist Möglichkeit, mit dem Vater, bei dem keine Finsternis ist, in wirkliche, reale Verbindung zu treten. Der Herr geht in dem, was er den damaligen Juden und Jüngern sagt, über den augenblicklichen Nahmen hinaus. Er fordert Dinge von ihnen, zu denen sie gar nicht fähig sind, ehe der Heilige Geist auf sie herabgeksmmen ist. Das Evangelium enthält aber Weissagungen, sonst wäre cs nicht Evangelium, sondern Gesetz. Der Herr Jesus geht immer weiter, als der alte Bund und das wäre zermalmend, wenn es nicht von ihm ausginge, der da ist die Erfüllung des alten und des neuen Bundes, in dem auch das Unmögliche mög» lich ist und das gerade in Bezug auf diejenigen Dinge, in denen wir, trotz redlichsten Sichabmühens, zu Schanden geworden sind. Dazu hast du ja gerade einen Heiland, daß du als ein Wurm zu feinen Füßen abdankst und alles von ihm erwartest, der die Macht und Ausrüstung gibt zu überwinden, wo du, vom menschlichen Standpunkte aus betrachtet, zu kurz kommen müßtest. Dazu haft du ja gerade einen Heiland, daß er dir durch seinen Geist Wollen und Vollbringen schenke zu seiner Verherrlichung, damit du endlich das Vaterunser beten und nicht immer nur mein, sondern auch dein sagen lernst. Das bringt das Gesetz nicht fertig, dazu mußte Christus kommen, damit nun durch seinen Geist, nachdem er Bahn gebrochen hat, das Gesetz auch in uns und durch uns erfüllt werde. O der Herrlichkeit des Evangeliums, tief wie Meerestiefen, Welt ohne Ende, heimatliche Luft für einen gefallenen Sünder, der fast erstickt ist in der schwülen Atmosphäre seines eignen Jagens nach Gerechtigkeit und Heiligkeit — Horizont, der sich weiter und immer weiter ausdehnt, je tiefer der Mensch den Blick hinein taucht. Daß wir das Ziel erreichen, dafür haben wir die Garantie im Blute Christi, das die Sünde ganz und vollkommen tilgt, damit der Geist Gottes ganz und vollkommen Raum bekomme. Warum kommt es viele so schwer an, andern zu vergeben? Warum stecken sie immer wieder armselige Grenzen? Erstens ahnen sie gar nicht, wie groß ihre Schuld Gott gegenüber ist und fallen dann über ihren Bruder her und würgen ihn. Erkennt man einmal die eigene Schuld und die Tiefe des eignen Falles Gott gegenüber, so hat man nicht solche Mühe, dem Bruder zu vergeben. Zweitens verstehen sie noch nicht die tiefe Bedeutung jenes Wortes: „Denen, die Gott lieben, arbeiten alle Dinge zusammen zum Guten" — zur Ausreifung in die Herrlichkeit, zur Umgestaltung in Christi Bild. Zuweilen benutzt da gerade Gott die Unart des Bruders oder der Schwester, um uns die eigene Unart aufzudecken. Wodurch hat uns Christus erlöst? Dadurch, daß er alle Ungerechtigkeit der Menschen auf sich nahm und sich niemals beklagte. Wir brauchen keine Sünde zu büßen, das hat unser Heiland getan — aber Gott braucht das Zukurzkommen unsres Bruders, um uns unsere eigenen Rückstände unsrem Gott gegenüber zum Bewußtsein zu bringen. Sieh, wie weh es dir tut, wenn der Bruder dich zurücksetzt und wie bist du mit deinem Gott umgegangen? Vielleicht weiß der Bruder gar nicht, daß er dir weh getan hat? Merke doch endlich, daß du in Gottes Hand bist und daß niemand dir einen Nadelstich zufügen kann ohne Gottes Willen. Es fallt kein Tropfen Wermut oder bittere Arznei in unsern Becher ohne Gottes Willen, d. h. der nicht ein Heilmittel sein könnte gegen unsre Unart, der nicht zugelassen wäre, uns zu wecken, zu reinigen oder in die Tiefe zu führen, damit wir durch das, was uns seitens unsres Bruders so weh tut, unsrer an Gott und den Brüdern begangenen Unart auf die Spur kommen. Das Vergeben und Tragen wird leicht, ja, kann sogar süß und selig werden, wenn wir in denen, die uns unrecht tun, Mitarbeiter an unsrer Seligkeit sehen, Mitarbeiter an der Ausgestaltung des vollen Heils. Nicht nur muß alles zum Besten dienen, sondern es dient alles buchstäblich zum Besten. Es ist eine ganze Werkstatt, wo alles unter einer Leitung steht zur Erreichung dessen, was Gott sich vorgenommen hat, nämlich die Umgestaltung des adamitischen Wesens in die Gestalt Christi von Herrlichkeit zu Herrlichkeit — aus Gnade in Gnade — nicht mit einem Schlage, aber auch nicht ziellos in's Blaue hinein. Zielbewußt arbeitet der Herr an der Umgestaltung unsres Wesens, der Ausbildung und Zubereitung zur Wohnungnahme im Vaterhause. Wenn wir das einmal erkennen, sehen wir hinter der Hand des Bruders die Hand des Vaters. Dann ist das Ertragen nicht mehr so schwer; dann gibt man dem Bruder zurück, aber nicht Schlag für Schlag — man häuft feurige Kohlen auf sein Haupt. Diese brennen, aber das können wir ihm nicht ersparen. Diese Art Rache ist erlaubt, aber man kann die Gelegenheit hierzu nicht, wie man sagt, vom Zaun brechen, sondern muß warten, bis uns Gott den Bruder in die Hand liefert, wo er es sich gefallen lassen muß, sich einen Dienst von uns erweisen zu lassen, und wir tun es ganz einfältig, ohne ihm irgend etwas aufzurücken. Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern!