Denn so jemand ist ein Hörer des Worts und nicht ein Täter, der ist gleich einem Mann, der sein leiblich Angesicht im Spiegel beschaut. Denn nachdem er sich beschaut hat, geht er davon und vergisst von Stund an, wie er gestaltet war. Wer aber durchschaut in das vollkommene Gesetz der Freiheit und darinnen beharrt und ist nicht ein vergesslicher Hörer, sondern ein Täter, der wird selig sein in seiner Tat.
Woher kommt es, um auf das Bild in unserm Text zurückzukommen, im gewöhnlichen Leben, dass ein Mensch, wenn er einige Augenblicke vor dem Spiegel gestanden ist, wieder vergisst, wie er gestaltet war? Im 21. Vers desselben Kapitels werden wir aufgefordert, alle Unsauberkeit und Bosheit abzulegen. Wenn man vor den Spiegel tritt, sucht man nicht sich selber zu bespiegeln, sondern sich zu überzeugen, dass man keinen Schmutzfleck im Gesicht hat. Wenn nun ein anständiger Mensch vor dem Spiegel stehend einen Russflecken an sich entdeckt, so geht er nicht fort, sondern bleibt stehen, bis er rein ist. Er will nicht mit einem Russflecken auf der Wange in die Gesellschaft gehen, und wenn das Entfernen auch noch soviel Mühe kostet. Hat aber der Betreffende etwa ein Muttermal, ein Geschwür oder etwas dieser Art im Gesicht, so kann er es nicht beseitigen. Vielleicht versucht er es eine Zeit lang, er geht zum Arzt, braucht ätzende Mittel, findet aber dann, dass es nicht entfernt werden kann; und nun geht er fort und sucht es sich aus dem Kopf zu schlagen, indem er denkt: es steckt im Blut, es ist nichts dagegen zu machen.
Und so sind viele Gotteskinder. - Sie finden Dinge in sich, die den Muttermalen gleichen, Unsauberkeit, Bosheit, böse Regungen, Leidenschaften. Eine Zeit lang versuchen sie, ob sie dieselben nicht beseitigen können. Gelingt es ihnen nicht, sie zu beseitigen, so sind sie schliesslich froh, zu vergessen, wie sie gestaltet sind. Sie geben das heilige Geschäft auf und sind zufrieden, nicht mehr das Bild ihrer ungeheiligten Art vor sich zu sehen. Die andern aber, die um uns sind, müssen es sehen, ja sie müssen riechen den unangenehmen Geruch des eigenen Wesens, sie bekommen diese böse Art täglich zu erfahren. O wie steigt uns da die brennende Röte ins Gesicht, wenn wir an gewisse Dinge denken und daran denken, was wir alles mit unsrer Ungezogenheit angerichtet haben! Die Braut Jesu soll ohne Flecken und ohne Runzel vor Ihm erscheinen, und da müssen alle Charakterflecken, Temperamentflecken, alles, was nicht hineinpasst in die Herrlichkeit Jesu, durch das Blut Christi beseitigt werden
Aber dann sind andre, die, anstatt wegzugehen vom Spiegel, weil es ihnen nicht gelungen ist, rein zu werden, ausharren vor dem Spiegel, vor dem göttlichen Wort, bis ihnen durch den Geist ein Blick wird in das vollkommene Gesetz der Freiheit, in die göttliche, grenzenlos reinigende, lösende und heilende Kraft des Blutes Christi. Sie merken dann, sie haben sich vergeblich abmühen müssen, damit Raum würde für den Herrn und Sein Blut.
Wie können wir Gott für diesen Spiegel danken, in dem uns jeden Tag ein doppeltes Bild vor Augen tritt - unser Schandbild und das Herrlichkeitsbild des Lammes, so dass wir Tag für Tag imstande sind, die beiden zu vergleichen und uns auf diese Weise Rechenschaft zu geben, was in uns noch nicht mit dem Bild Jesu stimmt. Nur so gewinnt das reine Blut Christi seine volle Bedeutung für uns; denn das Blut des Lammes ist geflossen, damit wir für jede Differenz, die uns zwischen unserm Bild und Jesu Bild durch den Geist und die Schrift aufgedeckt wird, unsre Zuflucht zu dem Blut nehmen und mit aller Zuversicht uns sagen können: „Das Blut des Lammes ist geflossen, damit unser eigenes Blut nicht mehr ungehindert durch unsre Adern fliesse, damit nichts Zweifelhaftes in unserm Wesen zurückbleibe, das nicht durch das Blut Christi gerichtet würde und wofür nicht im Blut Erlösung zu schöpfen wäre.“ „Es ist ein Born, draus heil’ges Blut für arme Sünder quillt,“ zur Lösung von aller Eitelkeit und allem Selbstbewusstsein.