Schriften von Otto Stockmayer
7. Der Unglaube der Gemeinde; die Stellung und die Pflichten, die sich für den Kranken daraus ergeben7. Der Unglaube der Gemeinde; die Stellung und die Pflichten, die sich für den Kranken daraus ergeben
Erfüllt sich Gottes Wort nicht bei einem kranken Kinde Gottes, so ist es nicht immer nur dessen persönliche Schuld; der Kranke leidet unter dem Unglaube der Gemeinde, mit der er gliedlich verbunden ist.
Wenn der Kranke sich auf das Wort von Jes 53,4 und Mt 8,16-17 stützt, um von seiner Krankheit aufzustehen, so ist dies Sache seines persönlichen Glaubens und hat uns einmal der Heilige Geist ein Wort nahe gelegt, so sind wir verantwortlich darauf ein zu gehen, unabhängig von dem stand des Glaubens oder Unglaubens des Christen, unter denen wir leben. Wird aber der Kranke darauf geführt, sich auf Jak 5,1 zu berufen und die Ältesten kommen zu lassen, so ist dies nicht mehr nur seine persönliche Sache. Er hängt hierfür auch von dem Glauben der Gemeinde ab, deren Vertreter die Ältesten sind.
Wir haben von dem Unglauben gesprochen, der Jesus in Nazareth entgegentrat. Heutzutage ist es nicht mehr eine besondere Stadt, die mit ihren Vorurteilen und ihrem Unglauben den Herrn hindert, in ihrer, in ihrer Mitte zu tun, was er an anderen Orten getan hat (Lk 4,23). Die Gemeinde des Herrn im großen und ganzen hat sich im hohen Masse des Unglaubens schuldig gemacht und dabei scheint sie kaum zu ahnen, dass sie es ist, die den Arm des Herrn aufhält.
Angesichts des Unglaubens, in den die Gemeinde Christi verstrickt ist, vermag nur Gott das Maß der Verantwortung zu bestimmen, das den Einzelnen trifft; uns kommt es nicht zu, auf jemand eine Schuld zu werfen. Es sind gar enge Bande, die die Glieder eines Leibes miteinander verknüpfen (1Kor 12,4-27 / Eph 4,1-16). Siecht der Leib im großen und ganzen, so wird es einzelnen Gliedern schwer werden, dem Siechtum zu entgehen.. Am wenigsten wollen wir unsere kranken Brüder anklagen, wenn es ihnen nicht mehr gelingt, Gottes Verheißungen zu erfassen; sie sind an unmittelbarsten und schmerzlichsten betroffen, wenn die Gemeinde altert und nicht mehr die nötige Lebenskraft hat, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Ist der Leib nicht mehr fähig, mit seinen leidenden Gliedern zu leiden (1Kor 12,26 / Heb 13,3), so kann deren Lage über alle Masse peinlich werden, denn langjährige Leiden und peinigender Schmerz sind an sich schon geeignet, lähmend auf den Geist zu wirken. Da wäre es Sache der Gesunden, derer, die den freien Gebrauch ihrer Gebets- und Glaubenskräfte haben, für ihre gebundenen Brüder in den Riss zu treten. Sie sind ihnen den Liebesdienst schuldig, den die vier Männer im Evangelium dem Gichtbrüchigen geleistet haben; sie sollen ihre Kranken dem Heiland zu Füssen legen und dort lassen, bis er sich ihrer erbarmt.
Wir haben von unsrer Berufung gesprochen, Gottes Mitarbeiter zu sein und wir haben bemerkt, wie der Apostel Jakobus bei der Frage der Heilung der Kranken auf Elia zurück greift, um seinen Brüdern an diesem Beispiel die Macht eines gläubigen Gebets vorzuhalten. Aber im Grunde ist dieses Wort des Apostels nicht an die Kranken, sondern an die Ältesten gerichtet. Der Kranke ist aufgefordert, die Ältesten kommen zu lassen aber die Ältesten haben über ihm zu beten und ihn zu salben. Von ihnen erwartet die Schrift das Gebet des Glaubens, das dem Kranken helfen soll. Sie müssen Busse tun, wenn ihr Gebet kein ernstliches, viel vermögendes, wenn es nicht das Gebet eines Gerechten ist. Das Haupt gebeugt, wie Elia, haben sie zu stehen vor Gott, bis er ihnen aufgedeckt hat, was ihr Gebet unwirksam macht; worin es mit ihnen selbst oder worin es mit der Gemeinde, deren verantwortliche Vertreter sie sind (Heb 13,17), nicht recht steht. Liegt dem Kranken ein Bann oder eine Gebundenheit, Finsternis oder Verhärtung zu Grunde, hat er Sünden getan, die bekannt oder wieder gut gemacht werden müssen (Jak 5,15-16), so wird der Herr Ältesten, die sich persönlich oder mit der ganzen Gemeinde demütigen, einen prüfenden Prophetenblick für den Kranken geben. „Der Herr wird ihn aufrichten.“
Gebe der Herr seiner Gemeinde bald wieder Älteste, fähig und willig in der Aufrichtung ihrer Kranken, Gottes Mitarbeiter zu werden, ausdauernd in allem überwindendem, heiligem Mitragen! Möge er bald einen neuen Lebenshauch durch seine Gemeinde gehen lassen, damit er sich aufraffe und ihre Verpflichtungen zu ihren gebundenen Glieder eingedenk werde! In Erwartung dieser Zeiten möchten wir unseren teuren Kranken ein Wort innerer und herzlicher Teilnahme zurufen, Vergesst nicht, möchten wir ihnen sagen, dass das Wort Jes 53,4 in einem tiefen bedeutungsvollem Sinne jetzt schon seine Anwendung für euch findet, auch wo ihr auf seine völlige Erfüllung noch zu warten habt! Jetzt schon dürft und sollt ihr die Last eurer Krankheit, so gut wie jede andere, auf den Herrn werfen und ihr werdet bei ihm ein offenes, teilnehmendes Herz finden. Er hat ausgestreckt zwischen Himmel und Erde, die Bitterkeit und das Weh leiblicher Schmerzen an sich selbst erfahren. Mit Freudigkeit dürfen wir nun seinem Throne nahen, gewiss Gnade und Barmherzigkeit, Trost und Hilfe bei ihm finden, wie uns Not ist (Heb 4,16).
Wo ein Kind Gottes noch nicht so steht, dass der Vater die Krankheit von ihm nehmen kann, überlässt er es deshalb keineswegs der Willkür der Krankheit; im Gegenteil, er umgibt es mit der zartesten Pflege; er stärkt es auf seinem Siechbette; all sein Lager wandelt er in seiner Krankheit (Ps 41,4). Hier gilt das Wort: „Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Dort wird er nicht auslöschen“ (Jes 42,3). - „Er weiß, was für ein Gemächte wir sind; er gedenk daran, dass wir Staub sind.“ (Ps 103,14). Ob es sich um körperliche Schmerzen, innere Leiden oder Trübungen, wie Krankheit sie mit sich bringt; jederzeit und unter allen Umständen darf sich der Kranke trösten, dass Gott ihn nicht über seine Kräfte wird versuchen lassen. (1Kor 10,13)
Wo dann der Herr erbarmend eingreift und die Schmerzen lindert, wo er einen Kranken, der nur noch flüchtig auf ihn geschaut, wieder Freiheit und Raum gibt, da eröffnet sich diesem eine hoher und heilige Berufung.
In erster und strenger Schule, hast du, mein treuer Bruder, Selbstentsagung und Unterwerfung gelernt; du hat gelernt dich mit rückhaltlosem Vertrauen, der Liebe deinem Gott zu überlassen; nun bist du deinerseits fähig geworden, eine segenreiche Berufung der Liebe auszuüben und das mitten in der Krankheit. Du hast in Christus einen Hohenpriester gefunden, der deine Last auf sich genommen hat; tritt im später näher, lerne zu sein Füssen, wie man anderer Lasten trägt; lass dich von ihm zum Priester salben (Off 1,6).
Zur Ausübung dieses königlichen Priestertums (1Pet 2,5+9) soll uns heranbilden, was wir in Krankheit, oder in sonst einer Schule gelernt haben. Es ist die Berufung für die wir erschaffen worden sind, zu dem unsere Erlösung uns zurück führt und er somit jedem Christen obliegt. Priester aber ist, wer Gottes Sache zur eigenen macht, wer für Gottes Ehre und Interessen, für Einzelne, für Gemeinden und Länder in den Riss steht, wer anderer Lasten trägt (Gal 6,2), liebend, fürbittend, mitleidend. Wo ein Kranker diese Berufung erfasst und erkennt, da wird sein Krankenbett ein Lebens- und Wärmeherd, dessen Wirkung unberechenbar ist, dessen Strahlen weit über die Grenzen seiner unmittelbaren Lebensbeziehungen hinausreichen.
Solange die Gemeinde Jesu Christi das Leben ihres erhöhten Bräutigams nicht wahrhaft teilt, solange sie in Glaube, Liebe und Hoffnung nicht wirklich Stellung nimmt zu seiner Rechten, nicht mit ihm und in ihm niedergelassen ist in der himmlischen Welt (Eph 2,6), so lange darf es uns auch nicht wundern, wenn wir die zum Priesterdienst nötige Ausrüstung auf dem Leidensbette einiger wenigen auserwählten Seelen suchen müssen. Himmelslust und Kräfte der unsichtbaren Welt sind dort zusammen gedrängt, bis von diesem Mittelpunkt aus wieder neue Lebenskräfte in den erstorbenen Leib dringen und die Berufung zum Priestertum in ihm wieder erwacht. Ist einmal die Gemeinde wieder wach und lebendig, so kann sie ihrerseits den Dienst der Liebe an ihren kranken Gliedern in kräftiger und wirksamer Weise wieder aufnehmen. Sie wird dann nicht länger gegen ihr eigen Fleisch sündigen, indem sie manche ihrer Glieder einem wahren Märtyrerbett liegen lässt; sie wird ihrer Gebundenen wieder gedenken (Heb 13,3). Sie wird nicht länger gegen Gott sündigen, von dem sie doch weiß, dass es nicht sein endgültiger Wille ist, etliche seiner Kinder in den Banden der Krankheit zu lassen (Jak 5,14-16).
Verdankt der Kranke seine Freiheit einer neuen Entfaltung des Lebens Christi in der Gemeinde, so ist er auch bei seinem Rücktritt ins tätige Leben gewiss, in einer derartigen Gemeinde einen solchen Herd von Geistes- und Lebenskräften zu finden, dass er bei ihm nicht mehr den Schmelztiegel der Krankheit bedarf, um ihn zur Ausübung eines Priesterberufes anzutreiben. Ohne Zwang von außen dient er nun seinem Gott im Geist und in der Wahrheit; er bringt Frucht gepflanzt im Hause des Herrn und grünend in den Vorhöfen seines Gottes (Ps 92,14). Enger als früher mit seinem Gott verbunden, weiß er nun Priester zu bleiben; tiefer im Herrn gegründet, bedarf er nicht mehr der Zurückgezogenheit eines Krankenzimmers. Wo ihm aber der Herr eine Stunde der Zurückgezogenheit gibt, sei es zur eigenen Stärkung und Sammlung, sei es um vor Gottes Angesicht Priesterdienst zu tun, da lässt er sich solche Stunden nicht mehr verkürzen, selbst wenn ihn die scheinbar dringendsten Anforderungen davon abhalten drohen.
Mögen unsere teuren Kranken in Erwartung der Zeit, wo die Gemeinde wieder eingedenk sein wird des Priesterdienstes, den sie ihnen schuldig ist, nur umso mehr ausharren in ihrem Priesteramt, soweit sie irgend Freiheit und Raum dafür findet; mögen sie ausharren um Christi willen und auf ihn gestützt.
Und sollte es für manches unter euch noch keine andere Erlösung geben, als der Tod; solltet ihr vom Schauplatz abtreten müssen, ehe der neue Tag angebrochen ist, den ihr erwartet und ersehnt; solltest ihr das Erwachen von Glaubens- und Liebeskräften in der Gemeinde, stark genug, um eure Gefängnistüren zu sprengen, nicht mehr erleben dürfen: - „Haltet nur fest an dem Bekenntnis eurer Hoffnung ohne Wanken“ (Heb 10,23); dann könnt ihr heimgehen im Glauben wie die Erzväter, gewiss dass die Seelenarbeit, in die ihr durch eure Leiden getrieben wurdet, eure Arbeit in Beten, Sehnen und Harren nicht umsonst gewesen ist. Ihr habt dadurch für andere den Tag der Erlösung näher gerückt. Ihr habt durch euren Priesterdienst an der Neubelebung der Gemeinde Christi gearbeitet.