Es war in der Zeit des Weltkrieges. An einem stillen Ort waren Vertreter der Gemeinde des Herrn in Deutschland zusammengekommen zur Beratung über ernste Fragen des Reiches Gottes, ein kleiner Kreis kampferprobter Männer, unter ihnen Pfarrer Otto Stockmayer aus Hauptwil, der die weite Reise aus der Schweiz unter den schwierigen Verhältnissen der Kriegszeit nicht gescheut hatte, seinen Brüdern in Deutschland einen Dienst zu tun. Er sass in grosser Hinfälligkeit des Leibes in seinem Lehnstuhl am Fenster, und manchmal schien es, als mache die körperliche Schwachheit es ihm unmöglich, den Verhandlungen zu folgen.
Die Stunde war ernst. Der Krieg hatte bereits lange genug gedauert, um den Männern, die zusammengekommen waren, klar zu zeigen, dass es sich nicht nur um ein vorübergehendes Unwetter, sondern um die Einleitung einer neuen Weltepoche handelte, in der der Fürst der Welt, ehe er hinausgeworfen wird, den Ring um die Erde fester schloss (Off 12,12). Man sah den Dingen offen ins Auge und suchte die Zeichen der Zeit zu verstehen. Es kam zu einer Aussprache über erschütternde Erfahrungen satanischer Wirksamkeiten, die einzelne der Anwesenden im Dienst gemacht hatten. Jede neue Situation hat zuerst immer etwas Bedrückendes und Verwirrendes, auch für Leute, die den Kampf gewöhnt sind. Es war etwas zu spüren von jener Atmosphäre, die sich seitdem öfter in bangen Augenblicken auf treue Diener Gottes gelegt hat, als wollte sie ihre geistlichen Lungen lähmen. Es war, als ob der Satan jedem ins Ohr raunte: Lasst ab vom Werke, ihr kommt doch gegen mich nicht auf! Ich habe zu viel Bollwerke auf der Stätte, die euer Kampfplatz ist. Seht, wie ich diesem, der jetzt unter euch sitzt, die Körperkraft, die Nervenkraft zerbrochen und ihn lahmgelegt habe zum Dienst! Seht, wie ich diesem dort in der Familie, bei Weib und Kind, Hindernisse in den Weg hineingestellt habe, an denen er seine Kraft nutzlos verbraucht! Seht, wie ich die Herzen derer, an denen ihr arbeitet, mit anderen Dingen ausfülle, dass sie unempfänglich werden für die Botschaft, die ihr ihnen bringt. Ich bin es, der sich euch in den Weg stellt, aber ihr sollt es beileibe nicht merken, dass ich es bin; ihr sollt es mit tausend drückenden, quälenden, zermürbenden Einflüssen zu tun haben, die ihr nicht auf klare Ursachen zurückführen könnt; die Sache soll euch über den Kopf wachsen; ihr sollt zuletzt innerlich ungewiss und wankend werden, dann habe ich gewonnenes Spiel.
Es wurde still in dem Bruderkreis. Der Atem der Männer ging schwer. Die Gesichter drückten Todesernst aus. - Da erhob sich aus seiner Fensterecke im Sessel die zusammengesunkene Gestalt Stockmayers. Unter seinen verwitterten Augenbrauen zuckte es wie ein Blitz hervor. Knapp, klar, scharf fielen wenige Worte aus seinem Munde in die beängstigende Stille hinein - wie die Instruktion eines schlachtgewohnten Feldherrn an seine Truppenführer: „Brüder, je tiefer eine Not, desto tiefer greift man hinein in den Reichtum des Evangeliums: Fürchte dich nicht, Ich habe dich erlöst! Der uns erlöst hat und der deshalb in Wasser und Feuer bei uns ist, hält in Seiner Hand den Schlüssel für jede Situation, auch die erschütterndste.“ - Da war es, wie wenn die Nebelwand vor uns zerrisse. Wir sahen wieder den Grund, auf den unser Leben und unsre Lebensarbeit gestellt war - „den Grund, der diamanten ist.“ Wir gingen auf die Knie, und es blieb uns nur eins: anbetend zu rühmen: „O Du Lamm Gottes, Du hast auf Golgatha herrlich gesieget. Amen, Halleluja!“.
Warum stehen obige Sätze als Vorwort über dem Andachtsbuch „Die Gnade ist erschienen?“ Wir danken es dem teuren Gottesmann, dessen Leben nun abgeschlossen vor uns liegt, dass er bis in den Tod hinein seiner Sache so gewiss gewesen ist. Er wusste, an wen er glaubte. Er nahm das Wort von dem absoluten Siege Jesu, von der allgenügsamen Gnade so, wie es gegeben war. In dieser Ganzheit liegt das Geheimnis der tief gehenden Wirksamkeit der Worte, die er je und je geredet und die über sein Grab hinaus in den Herzen von Tausenden seligen Widerhall finden und neuen Mut und neue Zuversicht wecken. Er hat ein scharf geschliffenes Schwert in der Hand gehabt, und dieses Schwert hat er sich nicht nehmen, auch nicht ihm die Spitze abbrechen lassen.
Die Stunde scheint gekommen zu sein, dieses Schwert - in der Form neu geschmiedet - wiederum in den Kampf hineinzuwerfen. Der Kampf ist heisser entbrannt denn je. Der konzentrierte Eingriff der Finsternismacht richtet sich auf die Gemeinde Christi. Das soll der Zweck des vorliegenden Andachtsbuches sein: aufweckend, die innere Stellung des Lesers klärend, mit den Müden redend zur rechten Zeit, mitzuhelfen, die Gemeinde auszurüsten, den Kampf zu bestehen, der nur bestanden werden kann, indem man sein Vertrauen allein setzt auf die Gnade, die erschienen ist (Titus 2,11-14) und seine Hoffnung allein auf die Gnade, die neu angeboten wird mit der Offenbarung Jesu Christi (1Pet 1,13).
Hersfeld, im Juli 1923
Der Herausgeber
Anmerkung des Herausgebers: Das Andachtsbuch ist zusammengestellt - ausser aus zahlreichen noch unveröffentlichten persönlichen Aufzeichnungen nach Andachten im Schlosse Hauptwil und Konferenzvorträgen Pfarrer Otto Stockmayers - meistens aus seinen älteren, in den Verlag der Evang. Buchhandlung P. Ott, Gotha, übergegangenen Schriften, deren Neuherausgabe aus inneren und äusseren Gründen nicht mehr erfolgen kann. - Zur Ergänzung einzelner Andachten ist mit gütigster Erlaubnis der Verlagsbuchhandlung von „Kober, Spittlers Nachfolger, Basel“, und des „Verlagshauses der Deutschen Zeltmission, Geisweid i. W.“, auf die Schriften „Der Unglaube Israels“ und „Mit dem Geist erfüllt“ zurückgegriffen worden.