„Wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon in seinem Herzen die Ehe mit ihr gebrochen." Der alte Bund hatte es mehr mit der äußeren Tat zu tun, ohne jedoch dabei die innerste Herzensstellung aus dem Auge zu verlieren. Ist uns doch schon im alten Bunde ausdrücklich gesagt: „Du sollst lieben den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und aus allen deinen Kräften und deinen Nächsten wie dich selbst." Da ist alle Unreinheit und Unlauterkeit von vornherein ausgeschlossen — alles Befriedigungsuchen in der Kreatur; denn jede derartige vollständige Abweichung, wie sie im Ehebruch gipfelt, hat ihren tiefsten Grund darin, daß jemand Befriedigung sucht außerhalb der Linien, in die Gott ihn gestellt hat, — daß er seine Blicke nach rechts und nach links schweifen läßt, um zu sehen, wie Gott mit den einen und anderen handelt, und um den Nächsten dann zu beneiden. Wir haben es mit Gott zu tun und er mit uns, und wir können nur wirklich erzogen werden, solange wir es direkt mit ihm zu tun haben. Alle Übungen haben den Zweck, uns tüchtig zu machen für unseren Beruf, für unsere Aufgabe in dieser Welt, — für unseren Zeugenberuf. Und da verlangt der Herr von uns, daß wir rücksichtslos mit uns selbst umgehen. Wollen wir freilich ein Wort wie Vers 29 buchstäblich nehmen — ohne Einschränkung —, so können wir uns täuschen. Damit, daß ein Auge ausgerissen ist, ist die Unkeuschheit noch nicht getilgt, noch nicht aus den Nerven ausgerissen, und selbst wenn beide Augen ausgerissen würden, könnte durch ein Ohr oder durch die Seele immer noch Zündstoff in ein Menschenherz kommen. Es gibt nur ein Rettungsmittel: — die Gnade Gottes, die allgenugsame Gnade Gottes. Da ist kein Schaden zu tief eingetroffen, keine innere Versuchung zu groß und mächtig, daß die Gnade nicht darüber stünde, und daß der Mensch nicht in der Gnade Bergung fände gegen derartige Versuchungen.
Vers 30: „Es ist dir besser, daß eins deiner Glieder verderbe, denn daß der ganze Leib in die Hölle geworfen werde." Wie mit dem rechten Auge, so ist es mit der rechten Hand. Wie ist uns doch die rechte Hand so unentbehrlich, wie viel unentbehrlicher als die linke. Lieber soll alles geopfert werden, als daß wir der Versuchung nachgeben. Sollen wir sicher sein, so müssen wir alle Glieder — nicht abhauen, sondern in den Dienst der Gnade stellen. Gott hat uns geschaffen für sich selbst, für sein Reich, für heilige Zwecke und Ziele, und er hat uns erlöst, damit das an die Sünde verkaufte Glied wieder in den Dienst des Herrn gestellt werden könne, wieder verfügbar werde für Gottes Leitung und Walten.
Und dann noch Vers 31 und 32. Der alte Bund konnte nicht die gleichen Ansprüche an ein Menschenherz, an das harte Männerherz machen, wie die Gnade Gottes sie machen kann. WaS der alte Bund fordert, das wirkt die Gnade aus, und der ganze alte Bund enthält die Grundlinien, in denen die Gnade sich offenbart, nachdem Gott uns durch das „du sollst" die Tiefe unseres Falles zum Bewußtsein gebracht hat. Vers zi: „Es ist euch gesagt: Wer sich von seinem Weibe scheidet — es sei denn um Ehebruchs willen —, der macht, daß sie die Ehe bricht, und wer eine Abgeschiedene freiet, der bricht die Ehe." Wo also eine Frau von ihrem Manne geschieden ist, da ist sie für immer eine Witwe, es sei denn, daß sie zu ihrem Manne zurückkehrt, wenn sie beide frei geblieben sind. Eine Geschiedene heiraten, ist Ehebruch.
Nun folgt ein Abschnitt über das Schwören. Vers 33: „Ihr habt weiter gehört, daß zu den Alten gesagt ist: „Du sollst keinen falschen Eid tun und sollst Gott deinen Eid halten." Ich aber sage euch, daß ihr überhaupt nicht schwören sollt, weder bei dem Himmel, denn er ist Gottes Stuhl, noch bei der Erde; denn sie ist seiner Füße Schemel; noch bei Jerusalem; denn sie ist des großen Königs Stadt. Auch sollst du nicht bei deinem Haupte schwören...." Der Schwörende nimmt, wenn er schwört und damit, daß er schwört, eine Herrscherstellung ein. Er verbürgt sich dafür, daß er auch wirklich das tun will, um dessentwillen er schwört. Wenn aber jemand kein Haar seines Hauptes weiß oder schwarz machen kann, wenn jemand keine Stunde seines Lebens in der Hand hat, wenn er über nichts verfügt,sondern in allen Dingen nur Verwalter ist, so kann er auch nicht schwören. Das ist die Stellung eines Machthabers, der seinen Schwur erfüllen kann. Diese Stellung hat Gott. Etwas anderes ist es, wenn das Gericht einen Eid fordert; denn da steht es als Gottes Vertreter, und es steht ihm das Recht zu, schwören zu lasten, einen Eid zu fordern. Das ist etwas ganz anderes, als wenn sich jemand persönlich das Recht anmaßt, zu schwören, und damit eine autoritative Stellung einnimmt, während er doch weder über die Erde noch über sein eigenes Leben verfügen kann. „Ja, du sollst auch nicht bei deinem Haupte schwören; denn du kannst nicht ein einziges Haar weiß oder schwarz machen." Du verfügst nicht einmal über dein eigenes Haupt, und dasselbe kann dir seine Dienste versagen. Wenn du nicht in der Demut beharrst, kann es dir gehen wie dem Nebukadnezar. Einen Menschen, der sich selbst erhebt, kann Gott in tiefe Beugung stürzen, damit er von dem Höhenwahn gerettet wird, als ob er Macht hätte und über irgendein Glied oder Tagewerk frei verfügen könnte. „Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Auge um Auge, Zahn um Zahn." Hinter diesem Gebot ist auch etwas von majestätischer Stellung. Majestäten haben etwas zu geben. Sie sind Rächer; sie können sowohl geben wie nehmen, und majestätisch groß und edelmütig können und dürfen auch wir unter Umständen handeln, nicht ohne weiteres den Mantel nach dem Winde hängen, nicht ohne weiteres dem Nächsten geben, was er verlangt; damit könnten wir ihm nur schaden. Aber das sollen und dürfen wir: fahren lasten — ohne Zorn und ohne Vergeltung zu üben, was man uns nimmt — ja, wir dürfen und sollen noch dazu geben, was man uns streitig machen will. Das ist evangelisch. Zu solchem Handeln bedarf es des Salzes des heiligen Geistes. „Gib dem, der dich bittet . . ." Gott gibt den Bittenden, und wir sollen auch etwas haben für die Bittenden, ohne daß damit gesagt ist, daß wir ihnen immer und unter allen Umständen gerade das geben müßten, was sie gerne hätten. Aber wende dich von keinem Bittenden ab; nimm seine Lage zu Herzen und laß dir dann vom Herrn zeigen, was er von dir erwartet in deiner Stellung zum Bruder oder zur Schwester. „Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind Haffen, — ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen...." Damit eben werdet ihr ausweisen, daß ihr echte Kinder eures Vaters im Himmel seid, der seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben —, und daß ihr als älteren Bruder einen Heiland habt, der am Kreuz für seine Brüder gestorben ist und noch für seine Feinde gebeten hat: „Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun." Menschen wollen Rache haben, und im alten Bunde gab es Bluträcher, die die Aufgabe hatten, den begangenen Mord zu rächen. Für solche, die aus Versehen einen Mord begangen hatten, gab es Freistätten. Unsere Freistätte ist die Gnade Gottes in Christo Jesu. Wir dürfen — hohes und herrliches Vorrecht! —, wir dürfen beten für die, die uns beleidigen und verfolgen. Also, wer beleidigt ist, gehe ins Kämmerlein und bete für den oder für die, von denen er beleidigt worden ist. Geh da hinein und erkenne es als Gnade Gottes an, lieben zu dürfen wie er, vergeben zu dürfen wie er, keine Rache fordern zu müssen, sondern einstehen zu dürfen für die, die sich an uns versündigt haben. Mit welcher hohen Anforderung kommt uns der letzte Vers von Kapitel Z entgegen: „Darum sollt ihr vollkommen sein, gleichwie euer Vater im Himmel vollkommen ist", damit man in uns die Charakterzüge des Vaters erkenne und merke, daß wir nachgeborne Brüder und Schwestern unseres Herrn und Heilandes sind —, nicht Nachkommen von Königen und Kaisern —, sondern aus Gott Geborene, von oben Gezeugte —, und daß wir damit göttlicher Natur sind. Derselben sind wir teilhaftig geworden durch die Erlösung, durch die Vergebung der Sünden. Dadurch sind wir herausgehoben aus der Schande des eigenen Ich und der eigenen Ehre.