Das nächtliche Treffen Jesu mit Nikodemus war kaum die erste Begegnung, denn Nikodemus hatte bereits Zeichen und Wunder gesehen. Nur Johannes bringt uns diese wichtige Unterredung mit dem zweimaligen ernsten „wahrlich, wahrlich, ihr müßt von neuem geboren werden“. In Kapitel 2, 24 lesen wir, daß sich der Herr den Fragenden nicht anvertraute. Hier aber vertraute Er sich Nikodemus an; im nächsten Kapitel der Samariterin, im 8. Kapitel der Ehebrecherin und ganz zuletzt sogar dem Schächer am Kreuz. Warum wohl die Unterschiede? Er weiß, was im Menschen ist und kennt die, die nach Gott fragen, und offenbart sich ihnen. Und ist es nicht erstaunlich, daß Jesus allein dem Nikodemus die Forderung stellt: „ihr müsset von neuem geboren werden“, und nicht einer der genannten gesunkenen Personen (Röm 3,22.23)?
Wer war Nikodemus? Eine bedeutende Persönlichkeit, ein Oberster der Juden. Ein glühender Patriot, der das Reich Gottes erwartete wie der greise Simeon in Lk 2,25. Er gehörte der strengsten Sekte der Pharisäer an. Er wußte, daß Israel das auserwählte Volk war. Die Klasse, zu der Nikodemus gehörte, war stolz auf ihre Tugenden und guten Werke. Sie fasteten, beteten und gaben den Zehnten. Nikodemus hätte wie der reiche Jüngling sagen dürfen: „das habe ich alles getan“, aber die Hauptsache fehlte ihm, die neue Geburt.
Die Tätigkeit des Nikodemus. Er war ein Lehrer in Israel. Er mag wie Saulus aus jener Schule eines Gamaliels hervorgegangen sein, der auch Saulus angehörte. Er war ein geachteter Theologe, saß im Hohen Rat, der später das Todesurteil über Jesus fällte, in das Nikodemus aber nicht einwilligte. Obwohl Nikodemus ein so bedeutender Mann war in religiösen Dingen, war er absolut blind in geistlichen Sachen. Stellen wie Hes 11,19; 18,31 und die Verheißung, daß Gott mit Israel einen neuen Bund machen (Jer 31,31) und dem Volke einen neuen Namen geben werde (Jes 62,2), mußten ihm bekannt sein. Die Dinge, über die der Herr mit Nikodemus sprach, hatten die Propheten längst geweissagt (Hes 36,23-36; 5. Mose 30,6; Jer 31,36). Wußte das denn Nikodemus nicht?
Mangelhaftes Wissen. Nikodemus war ein großer Theologe und doch unwissend in der Hauptsache. Jesu Wunder bewiesen ihm, daß der Herr von Gott gekommen sein mußte. Sie brachten ihn und andere zum Nachdenken. Viele meinten, Jesus sei der verheißene Elias, und Nikodemus nennt Ihn einen Lehrer von Gott gekommen, er achtete Ihn höher als sich selbst. Von Ihm konnte er lernen, zum Zimmermannssohn mußte der Theologe gehen. Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes. So war es bei Nikodemus und auch bei Saulus.
Der Besuch bei Jesus. Da Nikodemus bei Nacht hinging, legen ihm das viele als Feigheit aus. Daß sein Besuch großen Mut erforderte, ist klar, aber das bedeutet noch nicht Feigheit. Ich glaube, daß es Nikodemus erging wie Andreas und Johannes, die den Herrn fragten: Meister, wo bist du zur Herberge? Wie jene zwei wollte Nikodemus mit Jesus, der stets von Leuten umlagert war, allein sein. In der Stille hört man die Stimme Gottes (1Sam 9,27).
Nikodemus hatte schon allerlei Erkenntnis und war suchend. Das
beweist, daß er Jesus mit dem Ehrentitel „Rabbi“ anredete, im Gegensatz
zu seinen Kollegen, die Ihn übel benannten. Wäre Nikodemus nur ein
neugieriger Fragesteller gewesen wie jene in Mt 16,4, so hätte ihn der
Herr auch stehen lassen. Nikodemus hielt es in seinen hohen Würden für
selbstverständlich, daß er in das Reich Gottes eingehen würde, da er so
vieles zu bieten hatte. Aber wie ihm die Augen aufgingen, sagt uns
dieses Kapitel. Der Herr brach mit V. 2 die Rede des Nikodemus ab,
schloß sozusagen die Tür vor ihm zu und geht zur Hauptsache über: „Ihr
müsset von neuem geboren sein.“ Jesus beweist ihm, was der natürliche
Mensch ist, Fleisch (Hiob 14,4). Kinder gleichen den Eltern (
Seine Stellung zu Jesus. Die Gegner mehrten sich und beschimpften den Herrn in schmutzigster Weise. So stand Nikodemus allein unter ihnen. Die Obersten senden Männer, Ihn zu greifen, und diese hören eben Jesu Predigt, werden so ergriffen, daß sie ohne Ihn zurückkehren und bekennen, „niemals hat jemand also geredet“ (Joh 7,45), oder Er redete gewaltig (Mt 7,29). Das führte zu einer eifrigen verletzenden Diskussion unter den Pharisäern, in die auch Nikodemus mutig eingriff. Nikodemus ergriff Partei für Jesus, was ihm Verachtung einbrachte (Joh 7,51).
Das letzte Schöne, was wir über Nikodemus hören, ist seine aktive Teilnahme bei Jesu Grablegung. Die Führer Israels hatten ihr schmähliches Vorhaben mit Jesus erreicht. Judas wies ihnen den Weg, Pilatus ließ Ihn auf ihren Befehl geißeln und töten. Herodes behandelte ihn verächtlich. Nun hing Er zwischen zwei Übeltätern am Kreuz. Die Jünger hatten Ihn verlassen. Die Soldaten zerbrachen die Gebeine der Übeltäter (Joh 19,32). Nikodemus aber und Joseph von Arimathia bestatteten Ihn königlich. Der Keim dazu wurde in jener Nacht gelegt, da Ihm der Herr sagte: Ihr müsset von neuem geboren werden.