Göttliche Erwählung und menschlicher freier Wille scheinen manchmal unvereinbar zu sein. Wenn wir an die Allwissenheit Gottes einerseits, und an die Worte an Israel unter dem Bilde des Feigenbaums „lasst ihn noch ein Jahr“ oder „vielleicht werden sie den geliebten Sohn hören“, anderseits denken, so stehen große Gegensätze vor uns. Wusste der Allwissende nicht, was Israel tun wird, selbst wenn Er ihm noch Zeit zur Buße schenkte? Gewiss wusste Er es, aber bei allem Erweisen Seiner Liebe wartete Er auf i h r e Entscheidung. Auch wissen wir, dass Gott befohlen hat, Buße zu predigen (Apg 17,30). Erwählung und freier Wille sind zwei zusammengehörende Wahrheiten, die, wenn getrennt voneinander, zu Extremen und Störungen führen. Als Vergleich kann man die zwei Begriffe „Bekehrung und Wiedergeburt“ heranziehen, die manche trennen und vergessen, dass diese zwei Vorgänge eine Einheit sind. In der Bekehrung (Umkehr) sehen wir die Seite des Menschen, sein Sich‑Hinwenden zu Gott, und in der Wiedergeburt die Seite Gottes, der sich zum umkehrenden Sünder neigt und ihn durch Seinen Heiligen Geist befruchtet. Ganz ähnlich verhält es sich mit der Erwählung und dem freien Willen. Die Erwählung ist die göttliche, und der freie Wille die menschliche Seite dieser großen Wahrheit. Die Erwählung, als Akt der Liebe und Gnade Gottes vollzieht sich keineswegs absolut zwangsläufig, sondern in Übereinstimmung mit der Zuneigung und dem Willen des Menschen. Die lebensvollen Begriffe des göttlichen Gnadenwaltens wie: zuvor erkannt, zuvor bestimmt, berufen, gerechtfertigt und verherrlicht, werden unfruchtbar, kalt und hohl gemacht, wenn man sie bloß als überweltliche Formen betrachtet, nicht aber in ihrer Vollziehung in Christo. Den göttlichen Heilsakten entsprechen menschliche Momente wie: religiöse Veranlagung, Lebensführung, Bekehrung, Glaube und Heiligung.
Freie Geschöpfe. Gott hat uns Menschen und die Engel mit einem freien Willen geschaffen. Beide haben das Vorrecht, Gott mit ganzer Hingabe zu dienen, aber auch die Freiheit, Ihn abzulehnen. Und letzteres haben beide, die Menschen und ein Teil der Engelwelt, getan. Gewiss hat der allwissende Gott diese Entschlüsse vorausgesehen. Darum umgibt Er die Menschen mit unsagbarer Liebe, um sie wiederum zu sich zu ziehen und zwar auch aus freiem Entschluss. Viel und oft redet die Schrift von der Erwählung, aber das sei mit aller Bestimmtheit behauptet, dass die These, dass Gott die einen zur Seligkeit und die andern zur Verdammnis bestimmt hat, oder den einen Gläubigen zur Fruchtbarkeit und den andern zur Unfruchtbarkeit, unvereinbar ist mit dem Charakter Gottes; denn Gott ist nicht ungerecht. Auf der einen Seite steht das große Vorrecht, ein Gotteskind zu sein, und auf der andern die Verantwortlichkeit des Menschen, sich dafür zu entscheiden und be-wusst den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen (Eph 6,10 ff.) Die Wahrheit liegt hier wie anderswo unbedingt in der Mitte und kann von allen Wahrheitsliebenden, die sich nicht auf ein Dogma versteifen, erkannt werden.
Verschiedenes muss den Menschen in seinem Entschluss, sich zu bekehren oder Gott zu dienen, bestimmen. Was denn?
Das Opfer Christi. Dieses Opfer ist der höchste Ausdruck der Liebe Gottes, das jeden Sünder bewegen muss, zu Gott zurückzukehren. Angesichts des Kreuzestodes auf Golgatha lernt jeder reumütige Sünder, dass Jesus sich für alle geopfert und die Sünden aller getragen hat Und unter diesem Kreuz, wo Gott sich dem Sünder naht, erwartet Er nun des Menschen Entscheidung. In Christo sind alle erwählt, der Mensch aber muss diese seine Berufung und Erwählung durch Umkehr zu Gott fest machen.
Das Wort Gottes. Zahlreich sind die Schriftstellen,
die vom freien Willensentschluss des Menschen reden. Denken wir nur an
einige der bekanntesten wie Joh 3,16: „auf dass alle, die an Ihn
glauben, nicht verloren gehen.“ Hier macht Jesus unser Heil von unserem
Glauben an Ihn abhängig. Noch deutlicher redet Joh 3,36: „Wer aber dem
Sohne nicht glaubt, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes
bleibt auf ihm.“ „Wer zu Ihm kommt, den stößt Er nicht hinaus“ (
Der menschliche Widerstand. Schon in Noahs Tagen beklagte sich Gott darüber (1. Mose 6,3). Man denke an die vielen Propheten, die Gott zu Israel sandte, die es ernstlich warnten und auf die kommenden Gerichte aufmerksam machten. Nicht weniger ernst erhob später Stephanus den Finger mit den Worten: «Ihr widerstrebet allezeit dem Geiste Gottes,» Das menschliche Widerstreben ist der Beweis seines freien Willens. So warnte auch Gott in letzter Stunde den Pilatus (durch den Traum seines Weibes) vor der Kreuzigung Christi. Zweifellos hat Gott manche Menschen zur Ausübung besonderer Aufgaben bestimmt, damit aber stellt Er keineswegs andere vor verschlossene Türen. Keiner sage: „Ich kann nicht gerettet werden, weil ich nicht erwählt bin.“ Aber wer es meint, der probiere auf der Stelle aus, ob Gott ihn nicht sofort annimmt, wenn er Ihn im Gebet um die Errettung anfleht. Jedoch wird kein Mensch gegen seinen eigenen Willen gerettet.