Schriften von Georg R. Brinke
1. Mose 32,10-12 - „ICH BIN VIEL Z U GERING...“1. Mose 32,10-12 - „ICH BIN VIEL Z U GERING...“
Wohl selten ist ein Gebet so oft nachgesprochen worden wie das des Jakob: „Ich bin viel zu gering all der Barmherzigkeit und Treue, die du an deinem Knechte erwiesen hast.“ Jakobs Gebet, das vor mehr als dreitausend Jahren zu Gott emporgestiegen ist, stammt aus tiefer Notzeit, zugleich entspringt es auch der tiefsten inneren Überzeugung seiner eigenen Unwürdigkeit. An solchen Betern geht Gott nie vorüber. Er sagt: „Ich wohne in der Höhe und im Heiligtum und bei dem, der zerschlagenen und gebeugten Geistes ist, um zu beleben den Geist der Gebeugten und zu beleben das Herz der Zerschlagenen“ (Jes 57,15). Da wir von Natur nur zu sehr Jakob gleichen, ist es wohl begreiflich, daß wir gerade dieses Gebet oft im Geiste nachbeten. Und hätte Jakob in seiner Not zugleich an die Engelheere von Mahanaim gedacht, dann hätte er wie Elisa im Gespräch mit jenem Knaben (2. Könige 6,16) laut aufgejauchzt: „Mehr sind derer, die bei uns, als derer, die bei ihnen sind.“ Nachdenkend sollten wir auch ein Wort wie dieses lesen und uns fragen: Leidet etwa auch jemand unsertwegen wie Jakob Esaus wegen oder liegt unsertwegen jemand in Tränen vor Gott?
Jakobs tiefernstes Bekenntnis: „Ich bin viel zu gering . . .“ Damit spricht Jakob das aus, was er von sich selbst hielt. Einig; Zeit zuvor sehen wir ihn in seiner Unterredung mit Laban, dort darf er aufrecht stehen, darf diesem sogar bestimmt entgegentreten und ihm vorhalten, daß er seinen Lohn zehnmal verändert habe. Hier aber sehen wir ihn vor Gott liegen, vor Dem er nur eigenes Zukurzkommen sieht und keinerlei Verdienste, auf die er pochen könnte. Menschen gegenüber konnte er mutig sein wie ein Löwe, aber Gott gegenüber liegt er gekrümmt wie ein Wurm auf der Erde. Vor Gott rühmt Jakob nicht, daß er sich seine Güter durch harte Arbeit erworben hat, sondern bekennt, daß er sie allein der Güte Gottes zu verdanken hat. Solche Herzensstellung erfreut den Herrn. So war es z.B. bei dem Kanaanäischen Weibe, das sich auf die Stufe der Hunde erniedrigte und dankbar war für einige Brocken, die ihr wie den Hunden von des Herrn Tisch zufielen (Mt 15,27). Und hat nicht die Demut des verlorenen Sohnes das Herz des Vaters überwältigt, als er bekannte: „Ich bin nicht wert, dein Sohn geheißen zu werden.“ Gebete dieser Art erlangen großen Segen, das sehen wir schließlich auch im Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner im Tempel (Lk 18,9-14).
Jakobs dankbarer Rückblick. Eben hatte Jakob seine Heerlager geteilt und staunt über deren Menge. Neben ihm steht seine große Familie und kann über alles ebenfalls nur staunen. Er befand sich an der gleichen Stelle wie vor etwa 20 Jahren und dachte an seinen armseh en Auszug.
Jetzt sieht er den großen Unterschied von einst und jetzt. Jakob erkennt, wie gut es der Gott Bethels doch mit ihm gemeint hat, und tief beschämt liegt er vor Ihm, seiner vielfachen Untreue bewußt. Hier seine Untreue, dort die lückenlose Treue Gottes!
Wie fiele wohl ein Rückblick auf unser Leben aus? Paulus mußte bekennen, daß er der Geringste unter allen Heiligen sei, nicht wert, ein Apostel zu heißen, und rühmt umso mehr die Barmherzigkeit Gottes (1Kor 15,9-10).
Wichtig zu beachten ist noch der Zeitpunkt dieses Ausspruches Jakobs. Meistens dankt man unmittelbar nach dem Empfang von Gaben. Jakob aber greift 20 Jahre zurück auf jenen fluchtartigen armseligen Auszug, den er mit einem bloßen Wanderstab in der Hand angetreten hatte.
Die Drangsal Jakobs. Der Patriarch befand sich in einer nie dagewesenen Not. „Rette mich!“ So tönte es in jene stille Nacht hinein. Jakob weiß, daß er mit all seiner List und Klugheit einem Gegner mit einem Gefolge von 400 Mann nicht gewachsen ist, und darum der ernste Schrei: „Rette mich doch!“ Und Jakob erlebt eine gnädige Rettung Das ist ein aufmunterndes Wort an alle, die in Not sind, und zwar nicht nur für solche, die unschuldig leiden, sondern auch für solche, die, wie Jakob, alle Ursache haben, sich selbst anzuklagen: Der Tag wird kommen, da die Nachkommen Jakobs in die durch Jeremia geweissagte Drangsal Jakobs kommen werden (Jer 30,7). In der Erfüllung jener ernsten Weissagung wird ein weit Stärkerer als Esau, der kommende Antichrist, der letzte Weltherrscher, Israel furchtbar bedrohen. Wir wissen aus Gottes Wort, daß dem Volke Israel diese größte Not noch bevorsteht. Israel hat an seinem Erstgeborenen, an seinem Bruder, an Jesus, gesündigt. Dafür wird es in jener Zeit die endgültige Vergeltung treffen. Der Antichrist, der größte Gegner und letzte Feind Israels, wird dann in sein Land eindringen und Jerusalem belagern. Wenn aber Israels Not ihren Höhepunkt erreicht haben wird und Jakobs Nachkommen, wie einst ihr Vater, auch schreien werden: „Rette uns!“ (Lk 18,1-8), dann wird dies das größte Erlebnis ihrer langen Geschichte sein. Aus Hosea 12 ersehen wir, wie Gott diese Lehre auf Israel als Volk anwendet. Jakob hoffte erst, unabhängig von seinem Gott mit Esau fertig zu werden. Er wollte diesen versöhnen und merkte, daß ihm dies unmöglich war. Gott selbst aber führte die Versöhnung herbei, und so wird es einst mit dem ganzen Volke sein. Der Herr selbst wird Israel in seiner größten Drangsal erscheinen und wird ganz Israel zu Seinem Bethel führen, wo es Gott den lang verlassenen Altar wieder bauen und darauf opfern wird.