Schriften von Georg R. Brinke
Die Weltreiche im Lichte der Prophetie
Dan 10,1-3 - In tiefer SeelennotDan 10,1-3 - In tiefer Seelennot
Die Kapitel 10-12 bilden ein Ganzes. Doch wir wollen sie, wie die früheren Kapitel, getrennt durchgehen, obwohl es sich, ihrem Inhalt nach, um ein und dieselbe Sache handelt. Kapitel 10 zeigt uns zunächst die tiefen inneren Vorgänge, Seelenkämpfe und Übungen des greisen Propheten, die den neuen Offenbarungen vorangingen. Wir sehen, daß himmlische Wesen sich ihm nahen. Zudem ist das Kapitel noch besonders wichtig, weil es uns einen Einblick in die unsichtbare Welt gewährt, in die gute und böse Engelwelt, die den meisten absolut fremd ist. Dem Materialisten ist sie unbekannt, mit den Sadduzäern glaubt er weder an Engel, Geister, noch an die Auferstehung. Dem Spiritisten ist sie Betrug. Der Mehrheit der Gläubigen nur so viel, daß sie an ihr Dasein glaubt. Daniel aber wurde die Engelwelt zum tiefsten Erlebnis, wie übrigens auch den Vätern, als ihnen Boten aus der oberen Welt begegneten. Daniel hatte die neue Vision.
Im dritten Jahre Kores des Königs von Persien (Vers 1). Also nur zwei Jahre nachdem der Engel (Gabriel ihm die Erklärung über die siebzig Jahrwochen in Kapitel 9 gegeben hatte. Daniel erfuhr indessen mit viel Freude und Genugtuung, daß Gott sein ernstes Flehen erhört hatte. Kores erteilte nämlich einen Befehl, nach dem Juda aus seiner Gefangenschaft heimkehren, Tempel und Stadt Jerusalem wieder aufbauen, und so der Verwüstung ein Ende machen durfte. Volle siebzig Jahre waren Daniel und sein Volk in Gefangenschaft; und wie wunderbar gerade er selbst in all den Gefahren und Versuchungen bewahrt blieb, haben wir aus den vorhergehenden Kapitel gelernt. Es ist immer ein besonderer Trost für Bedrängte, aus der Schrift zu erfahren, daß der Herr alle, die auf Ihn trauen, sichtlich hindurchträgt.
Daniel hebt in Verbindung mit der neuen Offenbarung ausdrücklich hervor: „Und die Sache ist Wahrheit und betrifft eine große Mühsal; und er verstand die Sache und bekam Verständnis über die Gesichte.“ Es handelt sich also um Tatsachen, nicht um Ersonnenes, auch nicht um eine momentane Einbildung, noch um Seelisches. Alles ist Daniel deutlich gezeigt und erklärt worden. Wir haben es also mit dem festen, zuverlässigen, prophetischen Wort zu tun. Und obwohl der Inhalt vorangegangener Offenbarungen, besonders der über die verlängerte Zeit von siebzig auf vierhundert und neunzig Jahre sehr hart war und Daniel volle drei Wochen trauerte, so mußte er doch sagen: „Die Sache ist Wahrheit“.
Ein Blick in das verborgene Innenleben Daniels. Verweilen wir noch einige Augenblicke bei Vers 2 und 3: „In selbigen Tagen trauerte ich, Daniel, drei volle Wochen. Köstliche Speise aß ich nicht, und weder Fleisch noch Wein kam in meinen Mund, und ich salbte mich nicht.“ Das, was er sich in der Jugend vorgenommen hatte (Kapitel 1, 8), führte er bis ins Greisenalter von ungefähr 90 Jahren durch. Er hätte das Angesicht Gottes kaum mit größerem Ernst suchen können. Sein Verhalten war der Spiegel seiner Seele, ein wahres Fasten nach jeder Seite hin. Er hielt seinen L e i b in Zucht; alles, was ihn irgendwie im Umgang mit Gott beeinträchtigte, legte er beiseite. Seine S e e l e war betrübt wegen der Bedrängnis seines Volkes. Kein Wunder, daß Daniel gefürchtet war von den geistlichen Mächten der Bosheit! Im Gebet des Glaubens liegt eine unbeschreibliche Kraft (Jak 5,16). Wiewohl auch ohne Zweifel tiefer Dank zu Gott sein Herz erfüllte, so bedauerte er andererseits doch die geringe Beteiligung seines Volkes an der Rückkehr nach Jerusalem. Die große Mehrheit blieb in Babylon. Nur knapp 50 000 Juden hatten dem Erlaß des Kores Folge geleistet. Die übrigen waren nur noch Juden dem Namen nach; im Herzen waren sie Babylonier geworden. Sie hatten den Gott der Väter vergessen und aufgegeben. Diesen Zustand bedauerte und betrauerte Daniel sehr. Vor Menschen bekannten die Zurückgebliebenen, zum Volke Gottes zu gehören und hatten den Namen, daß sie lebten, in Wirklichkeit aber waren sie tot; wie später die Gemeinde zu Laodizäa, mit welcher auch die heutige Christenheit in ihrem bedenklichen Zustand verglichen wird. Oh, daß wir uns, wegen dem Schaden des Volkes Gottes, mit Daniels Trauern, Fasten und Beten eins machen könnten! Schon im vorhergehenden Kapitel wurden wir tief ergriffen, als wir im Geiste in Daniels Gebetskammer seinem Herzensschrei lauschen und als sein inniges Flehen unsere eigene Seele zum Vibrieren brachte. Und hier ist er wiederum volle drei Wochen hinter dem Vorhang (Heb 10,19 f.) in ernster Trauer und aufrichtigem Flehen vor Gott. Da fühlt man so recht die ganze Echtheit von Daniels Gottseligkeit. Wer von uns möchte nicht in seine Fußstapfen treten, und wie er Siege davontragen, Offenbarungen haben, fruchtbar für Gott sein und ein Leben des Segens hinterlassen, oder gar den erlauchten Beinamen „Vielgeliebter“ erwerben. ‑ Schamröte muß manche von uns bedecken, wenn wir daran denken, wie mangelhaft unsere Hingabe ist.
Abgesehen von dem Schmerz über der schwachen Beteiligung an der Rückwanderung, ging dem Propheten die Nachricht von der Not der Zurückgekehrten sehr zu Herzen. Die Feinde machten die äußersten Anstrengungen, die Juden am Wiederaufbau Jerusalems zu hindern; drangsalierten, verklagten, verspotteten und verhöhnten das Volk ohne Ende. Das angefangene Werk lag danieder und die Widersacher schienen zu triumphieren. Das alles bemühte den Gottesmann, und ähnliche Zustände heute sollen auch uns nicht gleichgültig lassen.
Ein weiterer Grund der Besorgnis liegt wohl in den Versen 1-12. Daniel hatte die Belehrungen über die lange Strafperiode Israels noch nicht völlig verstanden und sehnte sich nach Erleuchtung. Bald aber erlebte er, was später Paulus in (Eph 1,18 schreibt: „Damit ihr erleuchtet an den Augen eures Herzens, wisset, welches die Hoffnung seiner Berufung ist und welches der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen.“ Daniel gibt uns den Schlüssel zum Verständnis von unerkannten Gottesgedanken, nämlich das Angesicht Gottes zu suchen.
Achten wir weiter auf die lange Zeit seiner Seelenübung. In Vers 2 läßt uns Daniel wissen, daß er volle drei Wochen in heißem Ringen und Flehen vor Gott lag. Ja, er hätte wohl noch länger gerungen, wenn er nicht durch die Erhörung, die der Engel ihm brachte, unterbrochen worden wäre. Das ist für manche Gläubige unserer Tage etwas Unvorstellbares. Vielen von uns gälte der Vorwurf des Herrn an Petrus: „Könnet ihr nicht eine Stunde mit mir wachen“ (Mt 26,40). Und wundern wir uns, wenn Petrus gleich nachher versagte und den Herrn verleugnete? Schämen wir uns nur ob unserer Gebetslosigkeit. Manche verbringen vielleicht nicht einmal eine Viertelstunde pro Tag auf ihren Knien in Gebet, Fürbitte und Danksagung zu. Hier liegt der tiefste Grund unseres Versagens. Wie ganz anders ‑ wie echt und herzlich wäre unsere Bruderliebe und unser Eifer im Seelengewinnen, wenn mit dem Beispiel Daniels folgten, der Tausende aus der Gefangenschaft Babylons herausbetete. Uns trifft Schuld! Wir haben verkehrt gehandelt, uns vom Materialismus, vom Zeitgeist gefangennehmen lassen und die Gesinnung Christi gering geachtet (Phil 2,5). Wahrlich, uns gilt die Ermahnung des Herrn an Ephesus: „ Ich habe wider dich, daß du die erste Liebe verlassen hast, kehre um, tue Buße und tue die ersten Werke (Off 2).