Das vorliegende Kapitel zeigt große Obereinstimmung mit dem Bericht in 1. Mose 12,10-20. So groß ist die Obereinstimmung, daß manche Schriftausleger der Meinung sind, es handle sich um dasselbe Vorkommnis, das sich zum ersten Male in Ägypten abspielte. Das ist es nicht, vielmehr eine Wiederholung des alten Übels. Ehe wir Abrahams neuen Fehltritt beurteilen, wollen wir uns ehrlich fragen, ob nicht schon Ähnliches in unserem Leben vorgekommen ist. Die Möglichkeit zu fehlen besteht bei uns allen, solange wir in diesem Leibe sind, Davor schützen uns selbst die größten Segnungen und Erlebnisse nicht. Hier wird wieder einmal das menschliche Versagen, aber ebenso die lückenlose Treue Gottes offenbar.
Ein bedauerlicher Fall. Abraham ergriff wieder einmal den Wanderstab und zog nach Gerar. Wiederum wie damals in Ägypten wendet er eine List an, die eine halbe Wahrheit enthielt und doch eine ganze Unwahrheit war, indem er sein Weib Sara als seine Schwester ausgibt. Wiederum versagt Abraham in seinem Glauben, daß Gott Sara, die Trägerin der großen Verheißung, auch ohne seine Unaufrichtigkeit wohl zu schützen wisse. Bei Abraham handelte es sich nicht um die Sünde eines jungen Gläubigen, auch nicht um die Prüfung eines Unerfahrenen, sondern einfach um ein Zurückfallen. Seit dem ersten Fall in Ägypten hatte Abraham indessen sehr viel erlebt, er hatte große Siege errungen, Gebetserhörungen und Offenbarungen Gottes erfahren. Darum ist dieser Fall um so schlimmer. Eine neue Gefahr war erstanden und weckte eine lange schlummernde Sünde auf. Nach Vs. 13 hatte Abraham schon vor seinem Auszug aus Ur mit Sara vereinbart, sie wollten sich vor Fremden als Geschwister ausgeben und nicht als Eheleute, und zwar wegen der Schönheit Saras. Abraham fürchtete, er könnte begehrlichen Männern begegnen, die ihn um Saras willen töteten. Das erste Erlebnis dieser Art berichtet uns Kap. 12,11-20. Abraham war damals glücklich aus dieser Notlage gerettet worden und heil nach Bethel zurückgekommen. Zwanzig Jahre waren indessen vergangen und alles verlief reibungslos, weil keine ähnliche Versuchung an ihn herangetreten war. Wir kennen unser Herz meistens nicht, bis die Versuchung da ist.
Es ist sehr leicht, rein zu bleiben wie ein Josef, wenn keine Potiphar in unsern Weg kommt. So wäre es auch ein großes Unrecht, wollten wir uns anmaßen, in pharisäischer Weise einen Menschen zu verurteilen, der einer Versuchung erlegen ist, vor der wir durch Gottes Gnade bewahrt geblieben sind. Jede alte, ungeordnete Sache wiederholt sich, solange sie nicht göttlich geordnet worden ist. Warum hat sich der Fall Davids oder des Petrus nicht wiederholt? In beiden Fällen wurde reiner Tisch gemacht, die Sünde von Herzen gerichtet und alles gründlich geordnet.
Abraham sündigte durch Unglauben und im Unglauben. Er hat sonst Gott Unmögliches zugetraut, hat viele Bewahrungen erlebt, ja sogar den Allmächtigen zum Freunde bekommen, aber nun, da eine neue Gefahr an ihn herantritt, fürchtet er sich und fällt in die alte Sünde. Abraham vergißt die große Verheißung, die eben vor ihrer Erfüllung steht. Begehen wir nicht im Kleinglauben dieselbe Sünde wie Abraham, daß wir die Verheißung vergessen: „Ich bin bei euch alle Tage“? Wir vergessen so oft, daß wir unter der Deckung des Blutes stehen und uns nichts zustoßen kann, was uns schädlich wäre (2. Mose 12,13).
Abraham sündigte aus Vorurteil. Er hatte böse Vermutungen bezüglich des Königs Abimelech. Wir begehen ein großes Unrecht, wenn wir uns das Herz mit Vorurteilen gegen andere füllen lassen. Diesem Übel unterlag selbst ein Josef Maria gegenüber, aber der Herr korrigierte ihn (Mt 1,19-21). Ein Vorurteil gegen den anderen ist Lieblosigkeit, also Sünde.
Eine schlaflose Nacht. Das Befürchtete trat ein: Abimelech ließ Sara holen, um sie sich zum Weibe zu nehmen (Vs. 2). Es bestand für Abimelech auch kein Unrecht in dieser Handlungsweise. Ganz anders war es bei Abraham und Sara, die gewiß beide innerlich schwer litten und voller Furcht waren. Müssen wir nicht erkennen, wie folgenschwer ungeordnete Dinge sein können! Wären sich nach der schweren Erfahrung in Ägypten beide eins geworden, ihre frühere Vereinbarung, sich als Geschwister auszugeben, aufzugeben, so wären ihnen diese Not und dieser Fall erspart geblieben.
Ein Fehler Saras. Für Sara bestand noch eine andere Möglichkeit, die Sünde zu verhüten. Nicht nur Abraham, sondern auch sie fehlte. Warum ging Sara als Ehefrau unverschleiert, während die Ehefrauen jener Gegend verschleiert gingen. Hätte sie diese Sitte befolgt, so hätte Abimelech ihre Schönheit nicht sehen können. Ist es nicht ähnlich so in geistlicher Hinsicht? Wir gehören dem Herrn an wie Sara dem Abraham, Ihm allein sollen wir gefallen (Eph 5,30), nicht den Menschen (Gal 1,10). Umhüllt, verborgen mit Christo in Gott, kennt uns die Welt nicht. Nur wo der natürliche Mensch gesehen wird, fühlt sich die Welt wieder eins mit ihm. Viele verleugnen ihre Verbindung zu Christo wie Sara zu ihrem Manne, und die Folge ist, daß der Herr verunehrt und der Gläubige Gefangener der Welt wird.
Göttliches Eingreifen. Salomo sagt, daß die Herzen der Könige in Gottes Hand sind (Spr 21,1). Sie können also nicht immer nach Gutdünken handeln. Abimelech wurde durch einen Traum zutiefst erschüttert, ähnlich wie Pharao und Nebukadnezar (1. Mose; Dan 2). Satan plant Böses, der Herr aber wandelt es auch hier zum Guten, indem Er sich bei dieser Gelegenheit auch Abimelech offenbart und ihn sehr ernstlich warnt. Abimelech macht ganze Arbeit. Er ruft seine Knechte zusammen und berichtet ihnen, was er in der vergangenen Nacht erlebt hat. Er gibt Sara heraus. Er wird zugleich seinem Volke gesagt haben, daß er und sein Volk mit dem Tode bedroht seien und daß Abraham ein Prophet Gottes sei. Gott greift stets zur rechten Stunde ein. Abraham darf erfahren, daß der Hüter Israels nicht schläft. Wohl rettet Gott Abraham und sein Weib aus dieser heiklen Lage, aber Abraham muß doch eine tiefe Beschämung und eine ernste Rüge von seitens Abimelechs hinnehmen.
Seid Nachahmer Gottes. Wir werden hier zur Befolgung dieser Weisung des Apostels in Eph 5,1 aufgefordert. Bewundernswert ist Gottes Haltung Abraham gegenüber. Abimelech verklagt Abraham vor Gott (Vs. 5), aber Gott nahm keine Anklage gegen seinen Freund an, sondern macht ihn auf seine hohe Stellung vor Gott aufmerksam. Gott läßt Abimelech wissen, daß Abraham ein Prophet Gottes ist. Wie vornehm handelt doch Gott gegen Seine Kinder selbst in deren Versagen. Handeln wir auch so liebevoll an unseren Mitgläubigen wie Gott an Seinen Kindern, oder berichten wir noch gern die Fehler anderen? Das geschieht gewiß nur von geistlosen Gotteskindern. Wir sollen unsere Mitgläubigen in Schutz nehmen nach dem Vorbilde Gottes. Man denke noch daran, wie Gott an Hiob handelt und auch am Hohenpriester Josua (Hiob 1; Sach 3).
Der Ausdruck „Prophet“ kommt hier zum ersten Male in der Schrift vor, obwohl auch Henoch und Noah Propheten waren. Ein Prophet ist ein Sprecher Gottes, der mit göttlicher Vollmacht und in Seinem Auftrag Gottes Botschaft weitergibt (2. Mose 7,1.4.15). Abimelech mochte Schuld an Abrahams Verhalten sehen, Gott aber sah in ihm Seinen Diener. Gott wertete Abrahams Glaubensgerechtigkeit entschieden höher als die magere Moral des Abimelech (1Chr 16,21.22).
Wiederherstellung. „Eine jegliche Rebe, die da Frucht trägt, die reinigt er.“ Das erlebte auch Abraham, er war eine sehr fruchtbare Rebe, aber auch hier mußten wilde Schoße abgeschnitten werden; das hätte übrigens schon zwanzig Jahre früher geschehen sollen, als Abraham zu Pharao dasselbe sagte, was er hier vor Abimelech wiederholte. Damals war er heiler Haut davongekommen, ja sogar noch reich beschenkt, und so meinte er, es sei alles in Ordnung. Anders ist es dieses Mal. Abraham bekennt, daß er und sein Weib, als sie heirateten, eins geworden waren, sich als ledige Geschwister auszugeben, um Gefahren zu vermeiden. Abraham erkennt, daß sie beide gelogen haben, und bekennt die Sünde vor Abimelech. Für die Folge gab es keinen weiteren Fall dieser Art mehr. Abraham hatte mit dem alten Übel endgültig gebrochen. Wir müssen wahr sein bis ins tiefste Innere.
Auch Abimelech wurde geheilt. Die ernste Drohung Gottes nach Vers 3: „Du bist ein Mann des Todes" wurde abgewandt. Abimelech ging zu Abraham, der für ihn betete. Gott erhörte Seinen Knecht, und Abimelech und sein Haus wurden geheilt (Vs. 17; 4. Mose 12,18; Hiob 42,8-10). Beachtenswert ist die Feststellung, wann Abraham erhörlich betete. Das war erst dann der Fall, nachdem er sein Unrecht, seine Lüge, bekannt hatte. Wenn wir erhörlich beten wollen, so darf bewußt nichts zwischen Gott und uns geduldet werden.