Wenn an einen Menschen ein Ruf ergeht, so bedeutet das, daß er für eine Aufgabe berufen wird. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, ist es oft nötig, daß er seine bisherige Umgebung verläßt. Z. B.: Ein junger Mann hat sich mit Erfolg um eine auswärtige Stellung beworben, er muß seinen Wohnort, Elternhaus, Freunde und die bisherige Tätigkeit aufgeben. Das ist unter Umständen eine schmerzliche Trennung.
Ergeht der Ruf Gottes an jemanden wie an Abram, so mag das sehr viel bedeuten und große Opfer fordern. Sie werden aber überboten von den Verheißungen, die Gott daran knüpft. Das ist auch so beim Ruf des Evangeliums. Wenn der Herr den Sündern zuruft: „Kommet her zu Mir alle, die ihr mühselig und beladen seid!“, so lautet aber zugleich die Verheißung: „Ich will euch erquicken.“ Das Beispiel Abrams ist für uns so belehrend und aufschlußreich, daß es wohl lohnt, sich eingehend damit zu beschäftigen.
Der Inhalt des Rufes Gottes an Abram. Kaum mochte sich Abram von der mächtigen Wirkung des Rufes erholt haben, da erging es ihm wie später dem Seher von Patmos, der, umstrahlt von der göttlichen Herrlichkeit, zu Boden fiel wie ein Toter, als ihm der Gott der Herr-lichkeit, Christus, erschien, und der danach die wohltuende Stimme Christi hörte (Offb. 1,17). Derselbe Gott der Herrlichkeit und dieselbe Stimme erging auch hier an Abram. Unzweideutig erkannte er durch sie den Willen Gottes und lernte, was sie für ihn bedeutete. Nämlich:
Absonderung. Der Ruf zur Absonderung zieht sich durch die ganze Heilige Schrift (5. Mose 28,1.2; Jes 52,11; Hes 37,21-28; Mt 19,29; 2Kor 6,17.18; Eph 5,11). Absonderung kennzeichnete Abrams Leben von seinem Auszug bis ins hohe Alter, und zwar Schritt um Schritt. Von allem mußte er sich trennen, von Vaterland, Freundschaft, Vaterhaus, Lot, Hagar, Ismael, ja, sogar von Isaak, bis Abram ganz allein mit seinem Gott da stand. Vielen wird es nicht besonders schwer, das Vaterland, diese Welt zu verlassen, weil sie durch diese enttäuscht wurden wie einst der verlorene Sohn. Ganz anders war es bei Abram, der reich an weltlichen Gütern war.
Schwerer ist es oft, sich von Freunden zu lösen, wenn es sich um echte Freundschaften handelt wie bei David und Jonathan, bei Naomi und ihrer Schwiegertochter Ruth! Wie schwer mag es einem jungen Manne werden, wenn er sich, um dem göttlichen Ruf zu folgen, trennen muß von einem jungen Mädchen, in dem er schon seine künftige Braut und Gattin gesehen hat, die ihm aber zum Hindernis wird, dem Ruf Christi zu folgen.
Am schwersten aber ist freilich die Trennung von „deines Vaters Hause“. Der Herr selbst sagt: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt denn Mich, der ist Mein nicht wert" (Mt 10,37). Es wäre oft leichter, die Trennung durch den Tod abzuwarten und dann dem Ruf zu folgen, als sich vom Elternhaus loszureißen (Mt 8,21.22). Wenn Gott ruft, müssen wir uns von allem trennen, was uns in der Nachfolge Christi aufhalten will. Wie mangelhaft anfangs die Absonderung Abrams vom Vaterhaus war, werden wir später lernen. Gott ruft uns alle; doch viele gehen nur teilweise auf den Ruf ein (2Kor 6,17). Man will die Brüllten hinter sich nicht ganz abbrechen. Man schielt, wie einst die Israeliten in der Wüste, nach den Fleischtöpfen Agyptens (2. Mose 16,3). Man blickt zurück nach Sodom wie Lots Weib und büßt seine Rettung ein. Wenn wir auf die Erfüllung der göttlichen Verheißung rechnen wollen, dann müssen wir mit der Loslösung von der Welt und allen ihren Bindungen ganzen Ernst machen. Damals sonderte der Herr Abram ab, heute Seine Gemeinde, dich und mich. Die Gemeinde ist die aus der Welt ausgegangene, obwohl sie noch in der Welt ist. Noch nie konnte Gott Menschen gebrauchen, die nicht völlig mit der Welt gebrochen hatten. Schon Elia machte Israel den Vorwurf: „Wie lange hinket ihr auf beiden Seiten?“ (1. Könige 18,21). Und Jakobus sagt, daß „der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist" (Kap. 4,4). Das Hohepriesterliche Gebet (Joh 17) ist wohl das wunderbarste und zutiefst zu Herzen gehende Beispiel dafür, wie sehr der Herr um die Absonderung Seiner Gemeinde ringt (Joh 17).
Abrams Leben ist auch ein Beispiel dafür, daß die Absonderung in der Regel nicht einen einmaligen Akt darstellt, daß es vielmehr der Erziehungsarbeit des Heiligen Geistes bedarf, eine Bindung nach der anderen zu lösen. Mit dem Maße der göttlichen Erkenntnis schreitet auch die Absonderung fort. Man steht am Ende allein da wie Paulus, freut sich aber um so mehr der Lebenskrone, die uns entgegenwinkt (2Tim 4,8).
Gott fordert von Seinen Kindern nicht nur ein „Gehe aus!", sondern bietet ihnen auch ein
„ Gehe ein!“ Man könnte da schon erinnern an das Wort, das an den treuen und frommen Knecht erging: „Gehe ein zu deines Herrn Freude.“ Und tatsächlich wartet auf den, der nach Gottes Befehl „ausgeht“, d. h. sich von allen Bindungen löst, die ihn von Gott trennen, „des Herrn Freude". Der göttliche Ruf besteht also nicht nur in einem Drangeben, sondern vielmehr in einem weit reicheren Empfangen. Abram verließ die Stadt Ur, und auf ihn wartete die „Stadt Gottes“ (Ps 46,5). Er zog im Glauben aus, ohne zu wissen, wohin er überhaupt komme (Heb 11,8). Als er aber Ur im Rücken hatte und dessen Tore sich für immer hinter ihm schlossen, rückte die Stadt Gottes in sein Gesichtsfeld und öffnete ihm ihre Tore. Es war jene zukünftige Stadt, die auch wir suchen, die ewig ist, deren Baumeister und Schöpfer Gott selbst ist (Heb 11,10), und die unser aller Mutter genannt wird (Gal 4,26). In der Zwischenzeit war er heimatlos, ein Wanderer zwischen zwei Welten.
Glaubensgehorsam. Das neubegonnene Leben Abrams war ein Leben des völligen Vertrauens in Gottes Wege und Führungen. Sein Glaubensgehorsam muß geradezu als vorbildlich bezeichnet werden, denn Gott hatte ihm mit keinem Wort gesagt, in welches Land und in welche Stadt er ziehen sollte; er mußte also seinem Gott blindlings vertrauen, mußte auf eigene Pläne verzichten und konnte nur wie ein Paulus vor den Toren von Damaskus fragen: „Herr, was willst Du, daß ich tun soll?“ (Apg 9,6). Das Geheimnis des reichen Segens, der sich im Leben Abrahams wie in dem des Paulus offenbarte, ist in ihrer gründlichen Absonderung von Sünde und Welt zu suchen.
Abram gehorchte (Heb 11,8). Sein Gehorsam war der Glaube an das Wort seines Gottes. Er kannte das Land nicht, zudem bewohnten es feindselige Völker. Vor allem schien es unmöglich, das Land durch einen kinderlosen Mann zu bevölkern und die ganze Welt durch dessen Nachkommen zu segnen. Doch das Wort der Verheißung genügte Abram. Sofortiger und wörtlicher Gehorsam ist das Geheimnis eines gesunden, Fruchtbaren und sinnvollen Lebens.
Ein Pilgerleben. Abrams Auszug erforderte große Opfer. Er verließ das Vaterhaus gewiß nicht leichten Herzens, ließ sein väterliches Erbe fahren im Gegensatz zum verlorenen Sohn, der es forderte. Dem reichen Jüngling sagte der Herr: „Verkaufe alles, was du hast . . . und folge Mir nach.“ Dieses Opfer soll einen Ausgleich finden durch: „Du wirst einen Schatz im Himmel haben.“ Gott teilt Seine Schätze erst dann aus, wenn wir unseren „Reichtum“, der in Seinen Augen nur armseliger Plunder ist, zum Opfer gebracht haben (Phil 3,8). Bei vielen Gläubigen ist die Ursache ihrer inneren Armut und ihres Unbefriedigtseins darin zu suchen, daß sie ihr altes Leben nicht völlig drangeben wollen. Sie wollen nicht wie Abram Fremdlinge und Pilgrime sein und können deshalb nicht Hausgenossen Gottes werden (1Pet 2,11). Das beste Beispiel gibt uns der Herr Jesus, der reich war, aber arm wurde unseretwegen, der sich selbst erniedrigte, als Pilger und Fremdling unverstanden einherzog und eben deshalb von Gott hoch erhoben wurde und den Namen über alle Namen erhalten hat. Wie Er war, so sind auch wir in dieser Welt. Nur indem das Weizenkorn stirbt, wird es viel Frucht bringen (Joh 12,24).